Einleitung
Vor der Einführung synthetischer Fasern verwandte man Katzendarm (Kollagen; Catgut),
Zwirn (Cellulose) oder Seide (Fibroin). Zu Erhöhung der Festigkeit führte man später
auch chromatisierte Fäden ein. Seit dem Siegeszug der Kunstfasern stellt man heute
chirurgisches Nahtmaterial fast ausschließlich aus Polyamid (Nylon®, Perlon®) oder
Polyester her. Resorbierbares Nahtmaterial besteht dagegen aus einem Copolymer aus
Glykolid und L-Lactid, das nach Hydrolyse zu Glykolsäure und Milchsäure abgebaut wird.
Chirurgisches Nahtmaterial führt äußerst selten zu einer allergischen Reaktion. Wenn
sich jedoch eine Sensibilisierung entwickelt, muss ein besonders häufiger und intensiver
Kontakt mit dem Nahtmaterial bestanden haben. Über einen solchen Fall möchten wir
berichten.
Kasuistik
48-jährige Patientin, früher Friseuse, unterzieht sich, wie bereits über 40-mal vorher,
Operationen zur Entfernung von Nävuszellennävi (NZN) und zweier maligner Melanome.
Beim Ziehen der Fäden nach 10 Tagen nässt es aus allen Stichkanälen. Es erfolgt eine
Behandlung mit Mercuchrom® und Abdeckung der Wunde mit Steristrips®. Nach Abnahme
der sterilen Streifen sind deutlich ekzematische Reaktionen an jenen Stellen zu erkennen,
an denen Fäden die Wunde zusammenhielten (Abb. [1]). Die Patientin berichtet über einen starken Juckreiz. Überweisung in die Allergieabteilung
zur diagnostischen Klärung.
Abb. 1 Ekzematische Reaktion wenige Tage nach der Entfernung der Polyamid-Fäden.
Allergologische Untersuchungen
Nach Identifizierung der verschiedenen Fäden, die zum jetzigen Zeitpunkt bzw. bei
früheren Operationen verwendet wurden, nahmen wir Kontakt mit den Herstellern auf.
Man nannte uns die Bestandteile und übersandte die verwendeten Farbstoffe. Ein Fabrikant
stellte das Fadenmaterial auch in ungefärbter Form zur Verfügung.
Zur Epikutantestung diente die Standardreihe mit dem bei uns üblichen Anhang, zur
Zeit bestehend aus Kompositen-Mix, Kolophonium-Mix, Propolis, p-Aminoazobenzol, Benzoylperoxid,
Terpentinöl und Bufexamac sowie Desinfektions- und Konservierungsmitteln, Antioxidantien
und Emulgatoren. In einer zweiten Sitzung testeten wir neben der Friseurreihe (die
Patientin hatte 17 Jahre als Friseuse gearbeitet) auch die von den Herstellern zur
Verfügung gestellten Farbstoffe des Nahtmaterials.
Über den Chemikalienhandel ließen sich die Komponenten des Polyamid-6-Fadens ε-Caprolactam
sowie die Nylon-Vorstufen ε-Aminocapronsäure und Adipinsäure beschaffen.
In der 72-Stunden-Ablesung reagierte die Patientin zweifach positiv auf das Palatin-Echtblau-GGN
(Säureblau 158) des Nahtmaterials sowie das Monomer ε-Caprolactam, aus dem der Polyamidfaden
hergestellt wird. Nach 96 Stunden verstärkte sich die Testreaktion des Farbstoffes
auf +++-plus (Abb. [2]). Sie bestand über zwei Wochen. Der Test mit dem übersandten farblosen Faden ergab
nur eine ?a-Reaktion (Abb. [3]), jedoch klagte die Patientin über einen unerträglichen, tagelang anhaltenden Juckreiz
an der Applikationsstelle.
Aus ihrer 17-jährigen Tätigkeit als Friseuse wies die Patientin eine mittelstarke
Sensibilisierung gegenüber Ammoniumpersulfat und p-Toluylendiamin auf. Der Anthrachinonfarbstoff
des früher benutzten Nahtmaterials sowie alle anderen Testnoxen blieben negativ (Tab.
[1]).
Abb. 2 96-Stunden-Reaktion auf Palatin-Echtblau-GGN (= Säureblau 158).
Abb. 3 72-Stunden-Reaktion auf 24 Stunden applizierte, mit 2 Tropfen Alkohol angefeuchtete,
farblose Fadenteile.
Therapie und Verlauf
Nach zweiwöchiger Behandlung mit einem schwach wirksamen Kortikosteroid heilte die
ekzematische Reaktion im Narbenbereich ab. Anlässlich der Entfernung weiterer NZN
in den folgenden Wochen wurde zur Schließung der Wunde ein resorbierbarer, farbloser
Faden aus Polyglactin (90 % Glykolid, 10 % L-Lactid) (Vicryl®) eingesetzt. Er war
bereits in einer Vortestung reaktionslos vertragen worden.
Tab. 1 Ergebnisse der Epikutantestung
Noxe |
Konzentration |
24 h |
72 h |
96 h |
Ammoniumpersulfat |
2,5 % |
Ø |
++ |
++ |
p-Toluylendiamin |
1 % |
?a |
++ |
++ |
ε-Caprolactam |
5 % |
?a |
++ |
++ |
Säureblau 158 |
1 % |
+ |
++ |
+++ |
Hydroxytoluidinanthrachinon |
5 % |
Ø |
Ø |
Ø |
Adipinsäure |
10 % |
Ø |
Ø |
Ø |
ε-Aminocapronsäure |
5 % |
Ø |
Ø |
Ø |
Diskussion
Bis in die 80er Jahre benutzte man vorwiegend Catgut. Dieses aus dem Katzendarm gewonnene
Kollagenmaterial selbst ist nicht sensibilisierend. Erst nachdem man Catgut zwecks
längerer Haltbarkeit chromatisierte, kam es bei Chirurgen, gelegentlich auch bei Patienten,
zu einer Sensibilisierung gegenüber Chrom [7].
Bei millionenfach eingesetztem chirurgischen Nahtmaterial aus synthetischen Fasern
ist die Zahl der beobachteten Unverträglichkeiten extrem selten. Beim Hersteller des
in unserem Falle verwendeten Fadens gehen pro Jahr 1 - 3 Mitteilungen ein. Es handelt
sich fast immer um irritative Reaktionen. Zwar wurde der Verdacht einer allergischen
Reaktion gelegentlich geäußert, doch konnte nach Testung der Einzelkomponenten bisher
weder eine allergische Reaktion auf den Farbstoff noch auf den Faden nachgewiesen
werden. Auch in der Literatur liegt kein Bericht über eine Säureblau-158-Allergie
vor. Das Sicherheitsdatenblatt enthält jedoch einen Hinweis auf eine Sensibilisierung
des Atemtraktes im Betrieb eines europäischen Produzenten. Säureblau 158 ist ein Azo-Metall-Farbstoffkomplex
mit Chrom als Metallkomponente (Abb. [4]). Die Konzentration des Farbstoffes im Faden liegt bei knapp 1 %, der Chromanteil
im Farbstoff beträgt 2,5 %. Der Farbstoff unterliegt den Anforderungen des Lebensmittelgesetzes.
Die Patientin reagierte nicht auf Chrom, sondern nur auf den Farbstoff. Wahrscheinlich
hat sie sich in den vergangen Jahren durch die vielen NZN-Operationen, bei denen dieser
blaue Faden eingesetzt wurde, sensibilisiert. Möglicherweise bahnte dabei die durch
den früheren Beruf erworbene Sensibilisierung gegenüber dem p-Toluylendiamin, das
als Vorstufe zum Azofarbstoff angesehen werden kann, dem Allergen den Weg. Chirurgen
bevorzugen eine blaue Farbe, damit sich der Faden vor heller Haut besser abhebt.
Polyamid 6 ist das aus ε-Caprolactam aufgebaute Poly(ε-Caprolactam), bekannt unter
der Handelsbezeichung Perlon®.
Zu Herstellung der Kunstfaser wird Caprolactam (Abb. [5]) in einem Autoklaven verflüssigt (Caprolactamschmelze) und unter Luftabschluss und
Druck ausgeblasen, wobei es durch Polykondensation zur Bildung fadenförmiger Polyamidketten
kommt. Bei einem anderen Verarbeitungsverfahren verlangsamt man die Polykondensation,
verzichtet auf den Druck und presst die zähflüssige Schmelze bei 250 °C durch Spinndüsen,
wobei das Polyamid an der Luft zu feinen Filamenten erstarrt. Zur Erhöhung der Reißfestigkeit
streckt man die Fäden danach auf das Vier- bis Fünffache ihrer ursprünglichen Länge.
Irritative und allergische Reaktionen auf Caprolactam wurden vor allem in der Frühzeit
der Synthesefaserproduktion in den Fabriken beobachtet. Dabei führte man die austretenden
Fäden zum Teil mit der bloßen Hand in eine Spinnrolle [11] oder hatte beim anschließenden Ketteln direkten Kontakt. Die Konzentration an Restmonomeren
in der Luft der Fabriken lang anfangs bei über 10 % [10]. Der erst später festgelegte MAK-Wert von 25 mg/m3 wurde dabei um das Hundertfache überschritten. Auch in der fertigen Perlonfaser lag
der Caprolactamanteil in den 50er Jahren noch bei 2 %, bis es später gelang, diesen
auf 0,3 - 0,5 % zu senken [9]
[14]. Heute darf der Gesamtrückstand der Monomere bei chirurgischem Nahtmaterial 20 mg
pro Gramm Faden nicht überschreiten [2].
Aufgrund unzureichender Absauganlagen erkrankten in den Ländern des Ostblocks Arbeiter
in den Herstellungskombinaten wesentlich häufiger als im Westen [10]. Über irritative und allergische Kontaktdermatitiden wurde in großer Zahl bis in
die 80er Jahre aus der Sowjetunion, DDR, Polen und Bulgarien berichtet [4]
[5]
[6]
[8]
[13]
[18]. Einige Autoren führten auch Epikutantests durch und erhielten positive Reaktionen
auf Caprolactam [3]. Bei sehr langer Exposition beobachtete man gelegentlich einen „hardening”-Effekt
[6]. Hierbei handelt es sich um einen Gewöhnungseffekt mit anschließender Verringerung
der Hautveränderungen.
Tierexperimentell ließ sich das etwa mittelstark ausgeprägte Sensibilisierungsvermögen
des Caprolactams ebenfalls nachweisen [18].
Auch bei der Herstellung und Reparatur von Fischnetzen aus Perlonfäden traten allergische
Kontaktdermatitiden der Hände mit besonderer Ausprägung an den Fingerkuppen auf. Der
Test mit Caprolactam fiel in vielen Fällen positiv aus [15]
[16]. Wie nicht anders zu erwarten, kam es bei hohem Restmonomergehalt in den Kunstfasern
auch beim Tragen von Textilien aus Perlon®, wie z. B. Hüfthaltern und Feinstrümpfen,
zu allergischen Reaktionen [12]
[19].
Trotz des inzwischen äußerst geringen Gehaltes an Caprolactam kann eine jahrelange
Exposition auch heute noch zu einer Sensibilisierung führen, wie kürzlich vom „Polimerisationsmanager”
einer spanischen Textilfabrik berichtet wurde [1].
Dass die Allergie schließlich auch durch den einzelnen Faden bei sehr häufigen Operationen
induziert werden kann, beweist der oben geschilderte Fall. Ob die Kontaktallergie
dabei ausschließlich durch die geringen Reste des verbliebenen Caprolactam oder einen
zusätzlichen, partiellen Zerfall des Fadens zustande kam, muss offen bleiben.
Erfreulicherweise reagierte unsere Patientin nicht auch noch auf weitere Vorstufen
des Polyamids, wie z. B. Adipinsäure und ε-Aminocapronsäure. Letztere wird als Hämostatikum
und Fibronolytikum eingesetzt; unter anderem auch in Augentropfen. Zur Sensibilisierung
durch aminocapronsäurehaltige Augentropfen liegen mehrere Berichte aus Japan vor.
Die Betroffenen konnten nach eingetretener Sensibilisierung keine Strümpfe oder Strumpfhosen
aus Nylon 6 (= Polyamid 6) mehr tragen [17].
Unsere Patientin hat auf Strumpfhosen noch keine Hautveränderungen entwickelt.
Abb. 4 Struktur des Azofarbstoffes Säureblau 158. C.l. 14 880; CAS 70 942-15-3.
Abb. 5 Struktur des Caprolactams (= 6-Aminohexansäurelactam). CAS 105-60-2.
Danksagung
Für die Übersetzung der bulgarischen, polnischen und russischen Arbeiten danken wir
Herrn Nikolai Gentschev, Schwester Henryka Chelminiak und Frau Larissa Gassmann. Unser
Dank gilt auch Frau Dr. P. Köhler, Ethicon, Norderstedt, und Herrn A. Schmidbartl,
Serag Wiesner, Naila, für die freundliche Überlassung der Farbstoffe.