Der Begriff „Molekulare Medizin” erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Inzwischen
werden Kliniken und Institute so bezeichnet, Kongresse widmen sich dem Thema und „molecular
medicine” findet sich im Titel internationaler Zeitschriften. Doch was unterscheidet
eigentlich die Molekulare Medizin von der Medizin? Schließlich ist der menschliche
Organismus aus Atomen und Molekülen aufgebaut. Inhaltlich betrachtet ist der Ausdruck
somit beinahe allumfassend. Ein Blick in das wissenschaftliche Umfeld, aus dem er
entstand, mag helfen, seine spezifischen Inhalte zu konkretisieren.
Wann der Begriff „Molekulare Medizin” erstmals verwendet wurde und wer diesen Begriff
prägte, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers. Aber seine Verbreitung hängt eng
mit der Anwendung der Nukleinsäuretechnologie - speziell der DNA-Analyse - auf menschliche
Erkrankungen zusammen. Eine Krankheitsentität wird definiert durch eine oder mehrere
Ursachen, einen zu den Manifestationen führenden Prozess, sowie durch die Manifestationen
selbst. Bevor die DNA einer Analyse zugänglich war, erfolgte die Definition einer
Krankheitsentität in der Regel „top down”. Ausgehend von den klinischen Manifestationen
einer Stoffwechselerkrankung wurden zum Beispiel Aminosäuren bestimmt und Enzymdefekte
nachgewiesen. In speziellen Fällen, wie beispielsweise bei Infektionskrankheiten,
wurde auch der umgekehrte Weg gegangen.
Aber erst mit der Einführung der DNA-Technologie konnte der Beitrag von Mutationen
und genetischen Varianten zur Ursache zum Beispiel von Erbkrankheiten und Tumoren
im Sinne eines „bottom-up”-Ansatzes analysiert werden. Es wurde möglich, den eminent
wichtigen Beitrag von Genen zur Ursache von Erkrankungen zu definieren und damit ein
wesentlich tieferes Verständnis genetischer Faktoren im Zusammenspiel mit Alterungsprozessen
und Umweltfaktoren zu erlangen.
Hauptanwendungsgebiet der Nukleinsäuretechnologie war und ist noch immer die so genannte
„molekulare Diagnostik”, also die Diagnose einer Disposition oder Manifestation einer
Erbkrankheit, die Charakterisierung somatischer Mutationen in Tumoren oder auch der
Nachweis von Erregern. Die Entwicklung therapeutischer Ansätze, die auf dem molekularen
Verständnis von Gendefekten beruhen, braucht mehr Zeit. Mit Einführung eines Kinase-Hemmers
zur Therapie der chronisch myeloischen Leukämie wurde jedoch kürzlich der „proof of
principle” für eine molekulare Therapie erbracht.
Durch die Weiterentwicklung bestehender und die Entwicklung neuer Technologien wurde
die zuvor gegebene Definition der „Molekularen Medizin” erweitert und die Unterscheidung
zwischen dem Beitrag von Genotyp und Phänotyp zur Definition einer Krankheitsentität
verwischt. Eng verbunden sind diesen Entwicklungen mit dem Begriff „Komplexität” und
dem Suffix „-om” oder „-omics”.
Nach der Aufklärung der häufigen monogenen Erkrankungen liegt der Schwerpunkt der
humangenetischen Forschung nun auf polygenen Erkrankungen. Um den Beitrag genetischer
Varianten zur Entwicklung dieser Erkrankungen zu erfassen, wird eine Vielzahl von
Genvarianten (SNPs = „single nucleotide polymorphisms”) parallel analysiert. Die parallele
Analyse von Genen erhielt den Namen „genomics”. Das Suffix „-omics” bezeichnet inzwischen
aber ganz allgemein die parallele Analyse von Bestandteilen der Zelle wie RNA („transcriptomics”),
Proteine („proteomics”), Glycane („glycomics”) oder Metabolite („metabolics”).
Während die parallele Analyse von Genen die Aufklärung von Krankheitsursachen zum
Ziel hat, beziehen sich parallele Ansätze oberhalb der Ebene des Genoms auf eine verfeinerte
Analyse des Phänotyps. Auf die medizinische Anwendung bezogen haben diese komplexen
parallelisierten Verfahren vor allem ein Ziel: Sie sollen es möglich machen, die Disposition
oder manifeste Erkrankung eines einzelnen Individuums umfassend zu verstehen - ausgehend
von den möglichen Ursachen (Disposition) oder der tatsächlichen Ursache über den oder
die Krankheitsprozesse bis hin zu den verschiedenen Manifestationen. Dieses „individualisierte”
Verständnis von Krankheitsentitäten soll dazu beitragen, eine einzelne Person über
ihre individuellen Krankheitsrisiken aufzuklären und dem Patienten eine individuelle,
auf seine Krankheit ausgerichtete Therapie zukommen zu lassen.