Sowohl in medizinischen Fachpublikationen als auch in der Laienpresse nehmen Berichte
über neue Entwicklungen bei Genchips in letzter Zeit einen großen Raaum ein. Das Spektrum
der Berichterstattung über diese Technologie reicht dabei von einer Verklärung als
neuer Heilsbringer bis hin zur Verteufelung als Werkzeug zur Schaffung des gläsernen
Menschen.
Was sind Genchips?
Charakteristikum der Genchiptechnologie ist die massenhafte simultane Durchführung
von Hybridisierungsreaktionen an der Oberfläche einer Festphase. Bei diesen Hybridisierungsreaktionen
bilden einzelsträngige, an der Oberfläche der Chips immobilisierte DNA-Moleküle Doppelstränge
mit DNA- oder RNA-Molekülen, die in der Flüssigkeit, mit der ein solcher Chip inkubiert
wird, vorhanden sind. Voraussetzung dafür ist, dass Bindungspartner zueinander komplementär
sind, also eine Watson-Crick-Basenpaarung miteinander eingehen können. Nach Entfernen
der flüssigen Phase bleiben die geformten Doppelstränge an der Festphase zurück und
können dort nach Art und Menge vermessen werden.
Der technische Fortschritt der Genchips gegenüber den bisher üblichen Blotverfahren
(Southern, Northern, Dot) besteht darin, dass auf einer sehr kleinen Fläche von etwa
1,5 cm2 bis zu 500000 verschiedene DNAs räumlich sicher voneinander unterscheidbar aufgebracht
werden können. Jede dieser 500000 Mikroflächen enthält ihrerseits eine hohe Zahl identischer
DNA-Moleküle (hoher attomol- bis niedriger femtomol-Bereich). Da bekannt ist, an welcher
Stelle auf dem Chip welche, für bestimmte Gene spezifische DNA-Fragmente lokalisiert
sind, erlaubt die Analyse der Hybridbildung eine Aussage darüber, welche mRNA-Moleküle
in den Testzellen exprimiert werden. Wird die Zahl der an die Festphase gebundenen
Moleküle deutlich größer gewählt, als die Zahl der entsprechenden Moleküle in der
Hybridisierungslösung, ist darüber hinaus eine quantitative Auswertung möglich.
Die Zahl der gebildeten Hybride wird in der Regel fluorimetrisch erfasst. Dazu werden
die in die Hybridisierungsreaktion eingesetzten RNAs oder cDNAs („copy DNA”) in der
Regel mit Kopplermolekülen versehen, über welche die Fluoreszenzmarkierung erfolgt.
Anschließend werden die Fluoreszenzsignale auf den Chips mit einem konfokalen Hochleistungs-Laserscanner
ausgelesen [ Abb.1].
Welche Arten gibt es?
Heute wird der Begriff Genchip als ein Oberbegriff für jede Art von DNA-Diagnostik
benutzt, die an einer Festphase abläuft und eine Vielzahl von Parametern gleichzeitig
testet. Der Genchip ist somit die aktuelle technische Plattform für die multiparametrische
Gendiagnostik. Man unterscheidet Resequenzierungschips, Polymorphismus-Chips und Genexpressionschips.
Einige Autoren zählen auch die Proteinchips in diese Kategorie.
Resequenzierungschips
Resequenzierungschips prüfen, ob ein Gen mit bekannter Sequenz Abweichungen von der
Wildtypsequenz aufweist. Da die Präzision dieses Verfahrens geringer ist, als die
herkömmlicher Sequenzierungsmethoden, kommt ihm nur in solchen Fällen eine gewisse
Bedeutung zu, in denen durch massenhafte Sequenzierung desselben Gens Polymorphismen
aufgespürt werden sollen. Für die Krankenversorgung hat dieses Verfahren momentan
keine Bedeutung, weil der Ausschluss einer Mutation nicht mit hinreichender Sicherheit
erfolgen kann.
SNP-Chips
Mit SNP-Chips (SNPs = „single nucleotid polymorphisms”) werden Genpolymorphismen analysiert.
Das Detektionsprinzip basiert auf einer allelselektiven Hybridisierung. Die Genabschnitte,
die den Polymorphismus enthalten, werden zunächst mithilfe der Polymerasekettenreaktion
(„polymerase chain reaction” = PCR) amplifiziert. Anschließend wird das PCR-Produkt
an die Oberfläche eines SNP-Chips hybridisiert. Die Chipoberfläche enthält zwei verschiedene
DNA-Sonden - entweder vollständig komplementär zur Wildtypsequenz oder zur mutanten
Sequenz. Bindet das PCR-Produkt nur an eine der beiden DNA-Sonden, so liegt der entsprechende
Genotyp in homozygoter Form vor. Sind dagegen Bindungen an beiden Sonden zu beobachten,
ist der untersuchte Polymorphismus heterozygot.
Für Screeningzwecke geeignete Verfahren erlauben heute die simultane Abfrage von mehreren
tausend Polymorphismen. Eine Anwendung in der klinischen Routinediagnostik setzt voraus,
dass die hier eingesetzten Verfahren eine nahezu 100 %ige Sensitivität und Spezifität
aufweisen. Dies begrenzt die Zahl der mit dieser Technik in einem Analysegang ermittelbaren
Polymorphismen derzeit auf etwa 50. Die sequenzielle Anwendung mehrerer solcher Chips,
die Entwicklung von Modifikationen des Verfahrens und die Möglichkeit des Einsatzes
von Robotik erlauben jedoch die Bestimmung sehr großer Mengen von Polymorphismen in
der Patienten-DNA innerhalb sehr kurzer Zeit.
Mit diesem enormen Fortschritt in der technischen Entwicklung von Detektionssystemen
für DNA-Polymorphismen konnte die Fortentwicklung auf der medizinisch-interpretatorischen
Seite nicht standhalten. Heute gibt es bereits für eine nicht mehr überschaubare Zahl
von Polymorphismen Berichte in der medizinischen Fachliteratur, welche die Existenz
dieser oder jener Assoziationen von Polymorphismen mit Erkrankungsrisiken reklamieren.
Blickt man heute auf die zahllosen Berichte über solche Zusammenhänge aus den 80er
und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zurück, so fällt auf, dass nicht mehr
als eine Handvoll dieser SNPs heute eine bescheidene Bedeutung in der klinischen Medizin
erlangt haben.
Die Gründe für dieses Versagen reichen von mangelndem technischen Vermögen über verschiedene
Formen des Selektionsbias bis hin zu den in vielen Studien zu niedrig gewählten Fallzahlen.
Wir wissen heute, dass die meisten monogenen Krankheiten durch eine Vielzahl verschiedener
Defekte desselben Gens hervorgerufen werden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass ein
frequenter SNP in einem Kopplungsungleichgewicht mit der Mehrzahl oder zumindest einer
großen Zahl dieser krankheitsverursachenden Mutationen steht. Dass SNPs als indirekte
Krankheitsmarker eine Rolle spielen, scheidet damit - abgesehen von Einzelfällen -
weitgehend aus.
Dennoch kommt den SNPs eine zentrale Rolle bei der individuellen Disposition zu Volkskrankheiten
zu. Geht man von einem Modell aus, bei dem SNPs nicht als indirekte Marker für mono-
oder oligogen verursachte Krankheiten fungieren, sondern die SNPs selbst durch eine
- wenn auch nur gering gradige - Veränderung der biochemischen Funktion unmittelbar
am Krankheitsprozess beteiligt sind, wird deutlich, dass ein Versuch, einzelne Polymorphismen
mit einem Erkrankungsrisiko zu assoziieren schon deshalb schwierig ist, weil der von
dem SNP ausgehende Einfluss auf die Formierung des klinischen Krankheitsbildes in
der Regel sehr klein ist. Selbst in Fällen, in denen ein solcher Einfluss in verschiedensten
Populationen reproduzierbar nachgewiesen wird, muss die Frage erlaubt sein, welche
sinnvollen medizinischen Konsequenzen sich aus einem um 50 oder 80 % gesteigerten
Krankheitsrisiko ziehen lassen. Erst wenn es gelingt, Kombinationen von SNPs zu identifizieren,
die eine Verdrei- oder Vierfachung eines Erkrankungsrisikos sicher vorhersagen können
- und wenn sich daraus sinnvolle medizinische Konsequenzen ziehen lassen - wird der
Siegeszug der SNP-Analytik in der klinischen Medizin nicht mehr zu stoppen sein.
In Deutschland gibt es heute eine Vielzahl von Biotech-Startups, die auf den Einzug
der DNA-Analytik in die klinische Medizin gebaut haben. Auch um diesen Firmen eine
solide Datenbasis zu verschaffen, ist es sinnvoll, die Möglichkeiten der SNP-gestützten
Risikobestimmung für Volkskrankheiten in großen Untersuchungskollektiven nach den
Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin zu ermitteln.
Eine abschließende Bemerkung zu den SNP-Chips soll ihre Rolle im Rahmen der Stufendiagnostik
bei monogenen Erkrankungen erwähnen. Es gibt einige monogene Erkrankungen, bei denen
eine begrenzte Anzahl von Mutationen (bis zu 100) für einen relativ großen Anteil
aller Erkrankungen (über 70 %) verantwortlich sind. In diesen Fällen (z.B. zystische
Fibrose) ist es sinnvoll, im Rahmen einer molekulargenetischen Diagnosestellung vor
einer Sequenzierung des sehr großen Gens zunächst mit einem Chip das Vorhandensein
der häufigsten Mutationen abzufragen.
Genexpressionschips
Genexpressionschips untersuchen, welche mRNAs („messenger RNA”) in welcher Konzentration
in den untersuchten Zellen vorkommen. Üblicherweise wird dabei Gesamt-RNA aus gut
charakterisierten Zellkulturen oder Organhomogenisaten gewonnen, anschließend wird
die mRNA selektiv mithilfe eines polyT-Primers in cDNA umgeschrieben. Bei dieser als
reverse Transkription bezeichneten Reaktion ist ein Teil der verwendeten Nukleotide
biotinyliert. Die auf diese Weise markierten cDNA-Moleküle werden in die Hybridisierung
eingesetzt. Im Anschluss daran wird die gebundene cDNA mit Streptavidin (SA), das
mit Fluoreszenzfarbstoffen konjugiert ist, für den Scanner sichtbar gemacht.
Andere Protokolle benutzen in der reversen Transkription unmarkierte Nukleotide und
schreiben die cDNA anschließend unter Beteiligung von biotinylierten Ribonukleotiden
in cRNA um (In-vitro-Translation). Der Vorteil der direkten Technik ist eine weniger
starke Verfälschung des Spektrums exprimierter Gene. Ihre Nachteile sind die Notwendigkeit
höherer Mengen an Ausgangsmaterial und die Möglichkeit der Reassoziation denaturierter
cDNA. Die in der reversen Transkription bzw. der In-vitro-Translation verwendeten
biotinylierten Nukleotide können durch andere Markermoleküle, z.B. Dinitrophenol(DNP)-Nukleotide,
ersetzt werden. Anstelle der Fluoreszenzmarkierung von Straptavidin oder Anti-DNP-Antikörpern
können auch andere Konjugate, beispielsweise Meerrettichperoxidase, verwendet werden,
die dann eine Detektion der an die Festphase hybridisierten Nukleinsäuren über Chemilumineszenz
erlauben. Auch der Einsatz von Radioisotopen ist üblich.
Technisches Ziel der meisten Genexpressionsanalysen ist die Ermittlung von Genen,
die unter verschiedenen Bedingungen (stimuliert / unstimuliert, krank / gesund) unterschiedlich
stark exprimiert sind. Hierzu müssen mindestens zwei RNA-Präparationen miteinander
verglichen werden, wobei Fragen zur Kalibrierung von zentraler Bedeutung sind. Vergleicht
man lediglich zwei Zustände, so ist eine parallele Aufarbeitung der Proben unter Verwendung
unterschiedlicher Fluoreszenzfarbstoffe und deren gleichzeitige Hybridisierung mit
einem Chip möglich. Die verschiedenen Fluoreszenzen werden vom Scanner erkannt und
erlauben damit direkte Rückschlüsse auf die relative Expression einzelner Gene in
beiden Präparationen.
Weil während der Hybridisierung eine Konkurrenz der verschiedenartig markierten, aber
ansonsten gleichen Moleküle aus den beiden Präparationen um den an die Festphase gebundenen
komplementären DNA-Strang stattfindet, muss bei Serienuntersuchungen eine der beiden
Präparationen als Kalibrator eingesetzt werden. Andere Protokolle verzichten auf ein
solch aufwändiges Kalibrationsverfahren und verwenden jeweils nur eine RNA-Präparation
für eine Hybridisierung. Bei dieser Vorgehensweise ist es wichtig, sowohl die Menge
der an die Festphase gebundenen DNA als auch die für die Hybridisierung eingesetzte
Menge an Nukleinsäuren möglichst konstant zu halten.
Fragestellungen an Genchipexperimente
Das Feld für die Anwendung von Genexpressionsexperimenten ist ausgesprochen breit.
Kaum ein Gebiet der biomedizinischen Forschung kommt heute noch ohne diese Technik
aus. Die Identifizierung neuer Stoffwechselwege und die Aufdeckung regulatorischer
Netzwerke werden durch diese Technik ebenso unterstützt wie toxikologische Prüfungen
und die Analyse von Wirkungsspektren neuer Substanzen. In der genetischen Forschung
profitieren sowohl familienbezogene als auch populationsgenetische Ansätze von der
Genexpressionsanalyse.
In der Diagnostik hat diese Technik bereits heute deutliche Spuren hinterlassen. Dies
gilt vor allem für die Tumordiagnostik. Hier werden die Genchips zur Klassifikation
und für das Staging von Tumoren eingesetzt. Darüber hinaus lassen sich hiermit etablierte
Verfahren der Tumordiagnostik, wie die Loss-of-eterozygosity(LOH)-Analyse und Überexpression
(Expressivität) auf verblüffend einfache Weise supplementieren oder ersetzen. Obwohl
der Einsatz von Mikroarrays in der mikrobiologischen Diagnostik noch in den Kinderschuhen
steckt, kann mit großer Sicherheit vorhergesagt werden, dass gerade dieses Fach in
besonderer Weise von der neuen Technik profitieren wird. Von einer exakten Charakterisierung
des Bakteriengenoms einschließlich aller Pathogenitätsfaktoren wird nicht nur ein
Zeitgewinn sondern auch eine Präzisierung der Diagnostik ausgehen.
Auch die Klinische Chemie wird von der Genexpressionsanalytik profitieren. Es wird
erwartet, dass in ähnlicher Weise, wie Plasmaproteinkonzentrationen und Enzymaktivitäten
Aufschluss über Erkrankungen von Organen geben, mRNA-Expressionsmuster in Leukozyten
als Surrogatmarker für pathologische Prozesse außerhalb dieser Zellen dienen. Aufgrund
der physikalischen Interaktion dieser Zellen mit der Gefäßwand sollten vor allem vaskuläre
Prozesse in diesen Zellen abgebildet sein. Jedoch scheinen die Möglichkeiten dieser
Diagnostik keineswegs auf dieses Organsystem beschränkt zu sein.
Ausblick
Die Entwicklung der Genchiptechnik hat ein Schlaglicht auf die heutigen Möglichkeiten
einer massiv parallelen Erhebung individuenbezogener genetischer und funktioneller
Daten geworfen. Daraus werden sich zahlreiche neue Chancen für eine Verbesserung der
medizinischen Versorgung ergeben. In weiten Bereichen ist die Anwendung dieser Verfahren
unkritisch. Erst wenn die Datenerhebung auf die Präzisierung genetischer Risiken zielt,
müssen der individuelle Vorteil und ein damit verknüpftes individuelles Risiko gegeneinander
abgewogen werden. Damit dies in einer sinnvollen Weise geschehen kann, lautet die
zentrale Forderung an diese neuen Techniken, den Nutzen für den Patienten eindeutig
nachzuweisen.