Die WHO erwartet, dass die Depression 2020 nach der Koronaren Herzerkrankung die zweithäufigste
Ursache für Behinderungen sein wird [22]. Epidemiologische Studien zeigen in der deutschen Allgemeinbevölkerung eine Prävalenz
für depressive Störungen von 6,3 % in den letzten sechs Wochen [44]. Die Prävalenz in deutschen Hausarztpraxen liegt bei 10,9 % [44]. Die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens durch diese Patienten liegt um 50 % über
derjenigen von Patienten ohne Depression [28]
[44].
Neben einer geringen Erkennungsrate und der Schnittstellenproblematik ist die unzureichende
medikamentöse Therapie ein Kernproblem der Versorgung. Insbesondere die zu niedrige
Dosierung, der zu frühe Therapieabbruch oder die unregelmäßige Medikamenteneinnahme
erhöhen die Chronifizierungs- bzw. Suizidgefahr [1]. In der derzeitigen medizinischen Versorgung von chronisch Kranken reagiert der
Arzt zumeist auf die vom Patienten geäußerten gesundheitlichen Beschwerden bzw. auf
die durch ihn initiierten Arztbesuche. Die Versorgung ist oft fragmentiert, diskontinuierlich
und unkoordiniert [6]. Die Patientenbetreuung ist nur in geringem Maße an der Arzt-Patienten-Kommunikation
bzw. an der Patientenstärkung (empowerment, self-management, adherence) orientiert
[7]
[39]. Dies wirkt sich insbesondere erschwerend in der Behandlung von Patienten mit Depression
aus. Derzeit stehen zwar effektive psychotherapeutische und pharmakologische Therapieoptionen
zur Verfügung [26]. Dennoch bleibt auch bei erfolgreicher Bewältigung einer depressiven Episode für
die meisten Patienten ein psycho-sozialer Betreuungsbedarf bestehen.
Seit einigen Jahren werden in der Medizin innovative Formen einer patientenorientierten
Versorgung, z.B. die strukturierte Versorgung [40] entwickelt und erprobt. „Case Management” als ein kontinuierliches Betreuungsangebot
für die betroffenen Patienten bietet eine weitere behandlungsstützende Strategie.
Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen bestätigt,
dass in Deutschland nur ein geringer Teil der Menschen mit psychischen Störungen eine
moderne und adäquate Behandlung erhält [29]. Er empfiehlt exemplarisch bei der Versorgung von Menschen mit Depression, den hausärztlichen
Bereich in den Mittelpunkt zu stellen, da langfristig hier die meisten Patienten betreut
werden. Ziel der vorliegenden Arbeit ist, das Instrument Case Management und seine
Potenziale für die hausärztliche Versorgung von Patienten mit Depression vorzustellen.
Case Management
Case Management
Unter Case Management wird ein situationsgeleitetes und kontinuierliches Betreuungsangebot
an den Patienten zur Vermeidung einer Krankheitsverschlechterung verstanden [9]. Der Begriff wurde bereits um 1850 in der Sozialarbeit entwickelt [41]. Dies ging mit der Einführung einer individuellen Betreuung von besonders gefährdeten
(vulnerablen) Personen einher, insbesondere in der Jugend-, Sucht- und Wohnungslosenhilfe
oder in der Reintegration [43]. Seit ca. 1960 wird Case Management in der medizinischen Versorgung bei der Entwicklung
von gemeindenahen (community based) Versorgungskonzepten insbesondere für psychiatrisch
erkrankte Patienten angewandt [19]. In den 80er-Jahren rückte die Stärkung der Selbstverantwortung (empowerment) von
chronisch erkrankten Patienten in den Vordergrund (z.B. durch Self-management) [12]. Aktuelle Anwendungen von Case Management finden sich in der ambulanten Langzeitversorgung
von geriatrischen Patienten [4] oder in der sektorgrenzenüberschreitenden integrierten Versorgung (z.B. koordinierte
Krankenhausentlassung)[24]. In Abgrenzung zum aktuell viel diskutierten bevölkerungsbezogenen Ansatz „Disease
Management” [46] wird Case Management als ein individualmedizinisches Vorgehen verstanden. Vom „National
Committee for Quality Assurance, NCQA” Washington DC, wurde eine Definition von Case
Management erarbeitet (derzeit noch unveröffentlichter Entwurf), die in deutscher
Übersetzung folgendermaßen lautet:
„Das Case Management (CM) ist ein Bündel von Leistungsangeboten zur Koordinierung
der Versorgung und Nachsorge (follow up) von Patienten mit ernsthaften oder chronischen
Erkrankungen, um sicherzustellen, dass die Versorgung den Anforderungen evidenzbasierter
Leitlinien entspricht. CM ist ein geplanter und strukturierter Ansatz zur Versorgung
von chronisch kranken Menschen. (...) CM-Leistungsangebote schließen eine Erhebung
von Patientenbedürfnissen in den verschiedenen Gesundheitsbereichen (biologisch, psychologisch,
sozial), schriftliche Versorgungspläne, um die Bedürfnisse zu erfüllen, eine systematische
Nachsorge, Hilfestellung zur Eigenverantwortung (Self-management) sowie eine regelmäßige,
dem Bedarf entsprechende Überprüfung der Behandlungspläne ein” [23].
Die „Task Force on Community Preventive Service” des „Center for Disease Control and
Prevention” nennt in einem Review folgende fünf maßgebliche Komponenten von Case Management
[25]:
-
Identifikation: Aktives Erfassen und Auswahl der bedürftigen Patienten
-
Assessment: Regelmäßige, umfassende Erhebung der individuellen Patientenbedürfnisse
-
Planung: Gemeinsam mit dem Patienten festgelegte Therapieziele
-
Koordination: Interdisziplinäre Umsetzung der Behandlung
-
Monitoring: Kontinuierliche Beobachtung der Ergebnisse und rechtzeitige Veranlassung
indizierter Maßnahmen.
Die in [Tabelle 1] gezeigte Übersicht stellen in Anlehnung an Mueser zusammenfassend Charakteristika
der verschiedenen Anwendungsmodelle dar (siehe Kasten) [21]. Die Zunahme der Komplexität der jeweiligen Modelle wird erkennbar.
Eine angemessene Einschätzung der Effektivität von medizinischen Behandlungen kann
durch die Bewertung wissenschaftlicher Studien nach den Prinzipien von evidence based
medicine (EbM) gut begründet werden [16]. Hierbei gelten Therapiestudien, in denen der Interventionsgruppe eine Kontrollgruppe
gegenübergestellt wird, als besonders hochwertig, weil sie den Ursache-Wirkungs-Mechanismus
der Behandlung klarer belegen können. Die zufällige Zuordnung der Patienten in die
jeweilige Gruppe (Randomisierung) verhindert, dass einzelne Patienteneigenschaften
in einer Gruppe besonders häufig vertreten sind (Selektionsfehler). Systematische
Übersichtsarbeiten (Reviews) fassen die Ergebnisse der methodisch begutachteten Einzeluntersuchungen
zusammen. Dennoch werden, wie in den Reviews zum Case Management für Patienten mit
psychischen Erkrankungen (Schizophrenie, Angststörungen, Depressionen), z.T. sehr
unterschiedliche Ergebnisse festgestellt. Dies liegt u.a. an folgenden Faktoren:
-
Die Studien wurden in unterschiedlichen Gesundheitssystemen mit teilweise gut ausgebauten
gemeindenahen psychiatrischen Versorgungen durchgeführt, sodass sich der Unterschied
der Intervention gegenüber den ebenfalls gut versorgten Kontrollgruppen verringert.
-
Die Studien können z.T. keine präzisen Definitionen ihrer Interventionen darlegen,
sodass insbesondere die Effekte der unterschiedlich intensiven Case Management Modelle
relativiert werden.
-
Die Studien haben z.T. sehr unterschiedliche Patientengruppen eingeschlossen. Die
größte Probandengruppe waren Patienten mit schizophrenen Störungen, sodass die Wirksamkeit
des Case Managements bei anderen psychischen Störungen nur unzureichend belegt werden
kann.
Holloway [15] wertete 23 Studien mit 11 randomisiert kontrollierten Studien (RCT) zu allen drei
Anwendungsmodellen aus. Er stellte fest, dass Case Management eine deutliche Reduktion
der Krankenhausdauer, eine Erhöhung der Patientenzufriedenheit und eine Verbesserung
der sozialen Versorgung der Patienten erreichen kann. Marshall [18] analysierte 11 RCTs ausschließlich zum Standard Modell. Demnach führte Case Management
zu einer verstärkten Nutzung der psychiatrischen Versorgungseinrichtungen, zu vermehrten
Krankenhauseinweisungen und zur Verlängerung der Krankenhausaufenthalte. Obwohl eine
Verbesserung der Compliance erreicht wurde, konnte keine Symptomverbesserung festgestellt
werden. In einem weiteren Review (17 RCTs) wies Marshall [18] auf die Reduktion von Krankenhausaufenthalten bzw. -Dauer und die Sicherung der
kontinuierlichen Patientenversorgung durch das ACT Modell hin. Die mit 72 Studien
(18 RCTs) bislang umfassendste Analyse von Mueser [21] zeigte, dass Intensiv Case Management-Modelle die Krankenhausaufenthaltsdauer reduzieren,
die soziale Versorgung insbesondere für sog. „Vielnutzer-Patienten” verbessern und
moderate Verbesserungen in der Symptomatik der Patienten erreicht werden. Eine aktuelle
Metaanalyse von Ziguras [45], die sich nicht nur wie die o.g. Arbeiten auf RCTs beschränkt, sondern auch Fall-Kontroll-Studien
analysiert (44 Studien), zeigte, dass sowohl das Standard- als auch das intensive
Assertive Community Treatment-Modell eine Verbesserung der Symptome, der sozialen
Funktionen und der Patientenzufriedenheit sowie eine Reduktion der Krankenhausaufenthaltsdauer,
der Einweisungsrate und der Abbrecherrate erreichten. Bislang wurden aus Deutschland
lediglich in einer Pilotstudie erste positive Effekte zu einem Intensiv Case Management
für Patienten mit schizophrenen Erkrankungen publiziert [30].
In einer aktuellen Übersicht von 11 RCTs verglich von Korff [38] die Effekte von ambulanten Programmen für Patienten mit Depression. Er zeigte, dass
ausschließlich Interventionen, die ein Case Management für die betroffenen Patienten
beinhalten, im Vergleich zur Kontrollgruppe Verbesserungen der Symptome erreichen
können. Positive Effekte könnten schon durch einfache Maßnahmen, wie z.B. das Telefonmonitoring
entsprechend eines Standard Case Managements erreicht werden.
Modelle des Case Managements in der Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen
Modelle des Case Managements in der Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen
Standard Case Management: In diesem historisch ältesten Modell stellt ein Case Manager den Bedarf des Patienten
fest, ermittelt die Unterstützungsmaßnahmen und koordiniert die langfristige Behandlung
[20]. Der Mangel an psychiatrischer Fachkenntnis bei den Case Managern beschränkte ihren
Erfolg. Klinisch besser ausgebildete Case Manager konnten später zusätzliche Aufgaben
erfolgreich übernehmen: Psychoedukation, Förderung der Alltagskompetenzen, Beratung
für Angehörige und Monitoring der Erkrankung bzw. rechtzeitiges Einleiten indizierter
Maßnahmen. Beim Standard Case Management werden meist standardisierte Versorgungspfade/Leitlinien
fallbezogen (nicht individualisiert) umgesetzt [8]
[14]
[17].
„Stärken” Modell im Case Management: Stärken wird hier im doppelten Sinne gebraucht: Im Sinn einer Intensivierung und
im Sinn des Anknüpfens an die Stärken/Reserven des Patienten. Entsprechend des Salutogeneseansatzes
[3]
[31] steht in diesem Modell die Förderung der individuellen Patientenressourcen im Mittelpunkt
[42]. Die vertrauensvolle und kontinuierliche Beziehung zwischen dem Case Manager und
Patienten bildet hier den wesentlichen Wirkungsmechanismus [34]. Zusätzlich sollen Ressourcen der Gemeinde bzw. des sozialen Umfeldes für eine positive
Entwicklung des Patienten genutzt werden [27]. Die Betreuung auf Grundlage eines individuellen Behandlungsplans wird durch einen
speziell geschulten Case Manager zumeist innerhalb der gewohnten Umgebung angeboten.
Das Ziel ist die Förderung der sozialen Rehabilitation [2]
[5].
Intensives Case Management: Insbesondere für Patienten mit starken psychischen Beeinträchtigungen und hoher Nutzung
medizinischer Versorgungseinrichtungen wurde diese besonders personalintensive Form
entwickelt [35]. Wurden in den zuvor dargestellten Modellen bis zu 30 Patienten von einem Case Manager
betreut, sind es hier max. bis zu 10 Personen [33]. Stand in den vorhergehenden Modellen die Koordination der unterschiedlichen Hilfeleistungen
im Vordergrund, sollen hier alle Hilfen - bis zur Unterstützung des Patienten im Alltagsleben
- im Rahmen eines umfassenden Behandlungsprogramms möglichst durch den interdisziplinär
ausgebildeten Case Manager erbracht werden [13]
[37]. Im Modell des Assertive Community Treatment (ACT) wird dies durch ein in der Gemeinde
etabliertes multidisziplinäres Team geleistet [10]
[36]
Konkretes Umsetzungs-modell für die hausärztliche Versorgung depressiver Patienten
Konkretes Umsetzungs-modell für die hausärztliche Versorgung depressiver Patienten
Wesentliche Anforderungen an die primärärztliche Versorgung von Patienten mit Depression
sind die Kontinuität der Versorgung, das strukturierte Monitoring des Krankheitsverlaufes
und die enge Kooperation mit fachärztlichen Kollegen [11]. Die o.g. Ergebnisse zeigen, dass für die Behandlung der psychiatrischen Erkrankungen
Schizophrenie und Angststörungen ein intensives Case Management erforderlich ist.
Für die Depression liegen hingegen außerdem Hinweise vor, dass schon ein primärärztlich
geleitetes Standard Case-Management effektiv ist.
Anwendungsbeispiel für ein hausarztpraxisbasiertes Case Management für Patienten mit
Depression ist die im Kasten beschriebene Intervention einer in Kiel geplanten Studie
[11].
Die Sicherung einer koordinierten Patientenbetreuung auf den jeweiligen Versorgungsstufen
(Schnittstellenproblematik) kann durch die kontinuierliche und vertrauensvolle Versorgung
der hausärztlichen Praxis geleistet werden. Eine effektive Nutzung von Case Management
in der Hausarztpraxis gelingt, wenn es sich praktikabel in die alltäglichen Praxisabläufe
integriert. Dies kann durch die weitestmögliche Anknüpfung an vorhandene Strukturen
bzw. deren Ergänzung erreicht werden. Die Rolle der Case Managerin bietet eine Qualifizierungsmöglichkeit
für das Praxisteam und ist Grundlage für eine Neustrukturierung der praxisinternen
Arbeitsabläufe. Mit Einführung solcher Strukturen kann die Hausarztpraxis die an sie
gestellten Anforderungen für eine gute Versorgung von chronisch erkrankten Patienten
erfüllen.
Anwendungsbeispiel
Anwendungsbeispiel
Die Intervention folgt dem Standardmodell des Case Managements: Praxishelferinnen
der beteiligten Hausarztpraxen übernehmen die Aufgabe der Case Managerin. Sie erhalten
zu diesem Zweck eine kurze Vorbereitung zum Krankheitsverständnis der Depression und
eine Anleitung, wie sie den Kontakt zu den Patienten aufrechterhalten und den Behandlungsverlauf
dokumentieren bzw. monitoren sollen. Im Rahmen der hausärztlichen Behandlung wird
ihnen die Verantwortung übertragen, Kontakt zu den Studienpatienten zu halten (ggf.
zu festgelegten Zeitpunkten die Patienten anzurufen, wenn der Kontakt zur Praxis unterbrochen
ist), die Regelmäßigkeit der Rezeptintervalle, Wahrnehmung der Folgekonsultationen
und v.a. eventueller Überweisungen (insbesondere zur fachpsychiatrischen Mitbehandlung)
zu überwachen. Den Patienten sollen sie als Gesprächspartner z.B. über Symptome, Nebenwirkungen
von Medikamenten bzw. Auffälligkeiten zur Verfügung stehen und sie auch aktiv zur
Behandlungstreue motivieren. Nach jedem Patientenkontakt plante sie mit dem Hausarzt
in einer Kurzbesprechung das weitere Vorgehen.
Tab. 1 Anwendungsmodelle (nach 21)
|
|
Modell
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|
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Standard CM
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Stärken CM
|
Intensives CM
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|
Patientenstärkung
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Self-monitoring
|
+ Self-management
|
idem
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|
Aspekte der Versorgung
|
medizinische Versorgung
|
+ psycho-soziale Versorgung
|
idem
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Integration der Behandlungskonzepte
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Fallorientierung Leitlinien
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Patientenorientierung Individuelle Pläne
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Umfassende Behandlungsprogramme
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Personal
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Hilfskraft
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Professioneller Case Manager
|
Team
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