Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
hat vor Kurzem die Eckpunkte des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung
(BMGS) kritisch kommentiert (Nervenarzt 2003; 74: 391-393; Psychoneuro 2003; 29: 180-182).
Die DGPPN hat auch im Rahmen des Anhörungsverfahrens des Ausschusses für Gesundheit
und Soziale Sicherung des Bundestages mündlich und schriftlich (bei www.dgppn.de)
zum Entwurf der Regierungsfraktionen eines Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes
(GMG) Stellung genommen. Auch bei dieser Gelegenheit wurden sowohl viele gemeinsame,
zumindest überlappende Ziele wie auch krass unterschiedliche Positionen der Parteien
deutlich.
Nur wenige zweifeln, dass angesichts der gesamtwirtschaftlichen Lage Deutschlands
und der damit zusammenhängenden Beitragsentwicklung (derzeit durchschnittlich 14,3
%) in der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der kommenden finanziellen Herausforderungen
durch Überalterung der Bevölkerung und dank weiteren medizinischen Fortschritts das
Gesundheitssystem fortentwickelt werden muss. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag
einerseits und im Bundesrat andererseits ließen erwarten, dass der Gesetzgeber erneut
ein Beispiel für Handlungsunfähigkeit liefern würde. Das wäre für die Sache fatal
und dem Bürger politisch kaum zu vermitteln gewesen. Die zu erwartende, zunehmende
Politikverdrossenheit hätte weiteren Anschub erhalten. Es ist erfreulich, dass die
Parteien vor diesem Hintergrund zumindest den Konsens hatten, sich frühzeitig für
einen parteiübergreifenden Konsens über eine Gesundheitsreform anstrengen zu müssen.
Im Vorfeld wurden als Vorleistung der Regierungskoalition die Gesetzgebungsverfahren
zum GMG und zum Positivlistengesetz ausgesetzt.
Die zweiwöchigen Anstrengungen mündeten am 21.07.2003 in die „Eckpunkte der Konsensverhandlungen
zur Gesundheitsreform”. Damit ist das Verfahren zweifellos nicht abgeschlossen: Jetzt
geht es darum, die Eckpunkte zu konkretisieren und in Gesetzestext umzusetzen. Auch
wenn die Teilnehmer der Konsensrunde derzeit nach außen Einmütigkeit demonstrieren,
so sind spätestens im neuen Gesetzgebungsverfahren neue, auch scharfe Konflikte zu
erwarten. Dafür spricht die schon jetzt z.T. harsche Kritik am gefundenen Konsens
nicht nur aus den Reihen spezieller Interessenvertreter, sondern auch aus einzelnen
Parteien.
Demokratie ist die Kunst des Kompromisses mit dem Ziel des Interessenausgleichs. Wie
Frau Rita Süßmut es formuliert hat: „Demokratie ist anstrengend”. Und das ist gut
so (wie der regierende Bürgermeister Wowereit in anderem Zusammenhang meinte sagen
zu müssen). In einem guten Demokratieverständnis müssen Lasten gleichmäßig, sozial
ausgewogen verteilt werden. Das war auch das erklärte Ziel der Konsensrunde. Deutlich
erkennt man im Konsenspapier, wo die spezifischen Ziele einzelner Parteien eingegangen
sind und wo nachgegeben wurde. Dabei ist sogar die Handschrift der kleinen Parteien
zu erkennen. Entstanden ist kein „fauler Kompromiss”, sondern tatsächlich ein Geben
aller am Gesundheitssystem Beteiligten, d.h. allerdings auch der Versicherten und
Patienten. Generelles Ziel bezüglich der „Leistungserbringer” sei, vom ökonomischen
Wettbewerb zu einem Wettbewerb um Qualität zu kommen. Im Folgenden werden die Eckpunkte
weitgehend nur insoweit kommentiert, wie die Belange psychisch Kranker direkt tangiert
werden.
Stärkung der Patientensouveränität
Stärkung der Patientensouveränität
Gegen die „Stärkung der Patientensouveränität durch Transparenz, Wahlmöglichkeiten
und Beteiligungsrechte” kann niemand ernsthaft Einwände erheben (Wahloptionen u.a.
für Patientenquittung, Gesundheitsdaten auf der „intelligenten Gesundheitskarte”,
Kostenerstattungsverfahren statt Sachleistung, Beitragsrückgewähr oder Selbstbehalte;
Anhörungsrechte in den Organen der Selbstverwaltung). Jeder Bürger darf erwarten,
dass seine Autonomie im „Medizinbetrieb” nicht außer Kraft gesetzt wird. Explizit
soll „den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung
getragen” werden. Das meint auch die Belange der psychisch Kranken.
Freie Arztwahl
Freie Arztwahl
Die freie Arztwahl bleibt grundsätzlich unangetastet; der gesetzlich Versicherte kann
sich aber mit einjähriger Bindungswirkung selbst freiwillig eine Beschränkung auferlegen,
indem er sich in ein Hausarztsystem, ein System auch Krankenkassen-individueller intergrierter
Versorgung oder ein Disease-Management-Programm (DMP) einschreibt. Das wird mit Boni
belohnt. Hier werden psychisch Kranke gezielter, beratender Unterstützung bedürfen.
Auch die Teilnahme an Präventionsmaßnahmen soll mit Boni belohnt werden.
Qualität und Wirtschaftlichkeit
Qualität und Wirtschaftlichkeit
Das von einer unabhängigen Stiftung zu tragende „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen” soll nunmehr weitgehend nur beratende (und nicht bindend-empfehlende)
Funktionen haben und auf der Basis von Einzelaufträgen des BMGS und des neu zu konstituierenden
„gemeinsamen Bundesausschusses” tätig werden. In diesen Ausschuss gehen die bisherigen
Bundesausschüsse und der Koordinierungsausschuss auf. Der Einflussbereich der Selbstverwaltungspartner
wird also nicht - wie ursprünglich von der Regierungskoalition geplant - beschnitten,
sondern eher ausgeweitet.
Zur Umsetzung der Aufträge bedient sich das Institut externer Sachverständiger. Das
Institut formuliert keine Leitlinien, sondern übernimmt das derzeit beim Ärztlichen
Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) angesiedelte Leitlinien-Clearing-Verfahren,
d.h. die Bewertung der Validität von durch Dritte erstellten Leitlinien. Bezüglich
der weiteren vom Institut zu bearbeitenden Themen ist auffällig, dass die Kosten-Nutzen-Bewertung
von Arzneimitteln ausdrücklich nicht dazu gehören soll. Damit würde sich Deutschland
von einer internationalen Entwicklung abkoppeln und den jungen Wissenschaftszweig
der Gesundheitsökonomie, hier speziell der Pharmakoökonomie, abkoppeln. Ist das wirklich
intendiert?
Fortbildung
Fortbildung
Die Fortbildung wird für alle Gesundheitsberufe verpflichtend. Die bisherige berufsrechtliche
Selbstverpflichtung der Ärzte wird also abgelöst und fehlender Fortbildungsnachweis
finanziell oder durch Ausschluss aus der vertragsärztlichen Versorgung sanktioniert.
Die gesetzlichen Detailregelungen, was nachzuweisen ist, werden entscheidend sein.
Auch wer den im Versorgungsauftrag festgelegten Qualitätsanforderungen (dazu wird
auch ein internes Qualitätsmanagement gehören) nicht genügt, wird ausgeschlossen.
Vertragsärzte
Vertragsärzte
Es bleibt bei der Organisation aller Vertragsärzte in kassenärztlichen Vereinigungen.
Einzelverträge bleiben auf spezielle Versorgungsformen wie integrierte Versorgung
und DMPs beschränkt. Interdisziplinäre „medizinische Versorgungszentren” (das sind
die Gesundheitszentren mit neuem Namen) werden in Konkurrenz zum Vertragsarzt treten.
Die Konkurrenz durch Teilöffnung der Krankenhäuser zur ambulanten Versorgung bei hochspezialisierten
Leistungen soll durch einen gesetzlichen Katalog definierter Leistungsbereiche begrenzt
werden. Die Teilöffnung im Rahmen der DMPs soll vertraglich begrenzt werden.
Vergütung
Vergütung
Die bisherige Gesamtvergütung im Vertragsarztsystem wird ab 2007 durch arztgruppenspezifische
Regelleistungsvolumina mit festen Preisen auf der Basis von Fallpauschalen ersetzt;
bei Überschreiten gelten degressive Preise. Das wird in der praktischen Umsetzung
weitgehend in ein „festes Gehalt” des Vertragsarztes münden. Im Gesetzgebungsverfahren
wird zu berücksichtigen sein, dass sich die Versorgung psychisch Kranker - wie vom
Gesetzgeber schon derzeit anerkannt - nicht ohne weiteres pauschalieren lässt. Es
bedarf der Entwicklung eines spezifischen Entgeltsystems.
Das ärztliche Honorar soll mit den Kosten aus der Verordnung von Arznei- und Hilfsmitteln
verknüpft werden. Verständlich ist, einen Anreiz zur sparsamen Verordnung setzen zu
wollen. Das kann aber zum Spiel mit dem Feuer werden. Hier bedürfen psychisch Kranke
des besonderen Schutzes, um nicht vom therapeutischen Fortschritt abgeschnitten zu
werden. Dass bei den Zuzahlungsregelungen (bei Arzneimitteln, Arztbesuch und Krankenhausaufenthalt)
den besonderen Bedürfnissen chronisch Kranker, hier also auch psychisch Kranker, durch
eine Überforderungsklausel von 1 % des Bruttoeinkommens im Jahr Rechnung getragen
werden soll, ist zu begrüßen. Ob dieser Schutz vor Verelendung bewahren wird, bleibt
abzuwarten. Was die Regelung für Sozialhilfeempfänger bedeuten kann, soll verfassungsrechtlich
geprüft werden.
Analogpräparate
Analogpräparate
Patentgeschützte Analogpräparate („me-too”) in die Festbetragsregelungen einzubeziehen,
ist grundsätzlich plausibel. Die Tücke steckt aber in der Definition, was denn nun
ein Analogpräparat sein soll, und deren Anwendung im Einzelfall. Widersinnig erscheint,
dass dabei pharmakoökonomische Kriterien ausdrücklich keine Rolle spielen sollen.
Dem Risiko von Ausweichstrategien bei Herausnahme der rezeptfreien Arzneimittel aus
dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen soll durch Ausnahmen, die der
Bundesausschuss festzulegen hat, begegnet werden.
Zahnersatz
Zahnersatz
Die wohl kritischste Frage ist die Ausgliederung des Zahnersatzes aus dem paritätisch
finanzierten Leistungskatalog der Krankenkassen. Zahnersatz wird allein vom Versicherten
optional in einer gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung abzusichern sein.
Die Ausgliederung des Zahnersatzes muss als modellhafter Start der „Bereinigung” des
Leistungskataloges verstanden werden (demgegenüber fehlt der vorgesehenen Ausgliederung
der versicherungsfremden Leistungen wie Sterbegeld oder Leistungen für Sterilisation
der modellhafte Charakter). Gerade den Zahnersatz (und nicht wie zuvor diskutiert
nur das Krankengeld oder die privaten Unfälle) auszugliedern, ist eine weitgehend
politische und kaum medizinisch begründbare (abgesehen vom Anreiz, durch Zahnhygiene
dem Zahnverlust vorzubeugen) Entscheidung. Künftig sind weitere derartige Ausgliederungsentscheidungen
zu erwarten. Dabei wird es darauf ankommen, nicht mehr nur politisch zu entscheiden,
denn das birgt das Risiko der Beliebigkeit und Willkür. Auch wenn letztlich eine politische
Entscheidung unausweichlich ist, so sollte diese aber wissenschaftlich vorbereitet
sein. Es geht um die Priorisierung und Posteriorisierung von Gesundheitsleistungen.
Die notwendige Methodik hat die Wissenschaft - u.a. die Gesundheitsökonomie - bereitgestellt.
Derartige Entscheidungen wissenschaftlich vorzubereiten ist in anderen Staaten längst
Standard. Die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Basierung ist für psychisch Kranke
insofern besonders relevant, als in den letzten Monaten sogar Vertreter der verfassten
Ärzteschaft „freihändig” vorgeschlagen haben, z.B. die Psychotherapie aus dem Leistungskatalog
zu streichen.
Fazit
Fazit
Ob der Reformkonsens am Ende tatsächlich eine faire Verteilung der finanziellen Lasten
erlauben wird, werden wir erst in einigen Jahren wissen können. Dass Träger einzelner
Partikularinteressen nun bereits im Vorfeld der Formulierung der Gesetzestexte z.T.
hart gegen den Kompromiss polemisieren, ist zwar verständlich und vermutlich auch
notwendig, ändert aber nichts daran, dass es am Ende um Interessenausgleich gehen
muss. Ob aber die Reformeckpunkte geeignet sein werden, die kommenden finanziellen
Herausforderungen nachhaltig zu meistern, darf bezweifelt werden. Die Eckpunkte stellen
einen evolutionären und keinen revolutionären Schritt dar. Auch das sollte gemäß des
ärztlichen Prinzips des „primum nihil nocere” eher begrüßt werden. Evolutionär bedeutet,
dass weitere gesetzgeberische Interventionen unausweichlich folgen werden. Auch das
ist nicht nachteilig. Zu erwarten, mit einem großen Wurf ließen sich alle oder auch
nur die wesentlichen Probleme umfassend lösen, wäre blauäugig.