Einleitung
Die Abschätzung der klinischen Bedeutung und insbesondere aber der Limitationen einer
inhalativen Kortikosteroidtherapie in der Langzeitbehandlung der chronisch-obstruktiven
Lungenerkrankung (COPD) rückt zunehmend in den Mittelpunkt des klinisch-wissenschaftlichen
Interesses. Kürzlich erschien in der Zeitschrift „Pneumologie” unter der Rubrik „Für
Sie notiert” eine Besprechung der von D.D. Sin und S.F.P. Man in Kanada durchgeführten
epidemiologischen Untersuchung „Inhaled corticosteroids and survival in chronic obstructive
pulmonary disease: does the dose matter?” [1] in der bei 6740 COPD-Patienten ein 25 %ig niedrigeres Sterblichkeitsrisiko bei COPD-Patienten
mit inhalativen Kortikosteroiden im Vergleich zu Patienten ohne Steroidbehandlung
festgestellt wurde [2]. Zusätzlich wird eine Dosisabhängigkeit beschrieben, d. h. je höher die verschriebene
Kortikosteroiddosis war, desto ausgeprägter sei der Effekt auf die Mortalität gewesen.
Epidemiologische Studien und insbesondere retrospektiv durchgeführte Datenanalysen
haben jedoch enge Grenzen der wissenschaftlichen Aussagekraft, obwohl sie dessen ungeachtet
unter Umständen schnell zu verallgemeinernden Schlussfolgerungen verleiten. Gerade
für so weit reichende Aussagen wie die, ob eine Langzeittherapie mit inhalativen Kortikosteroiden
bei Patienten mit einer COPD zu einer Mortalitätssenkung führt, bedarf es einer kritischen
Bewertung der aktuell publizierten Daten epidemiologischer Datenbankanalysen.
Stellenwert inhalativer Kortikosteroide bei Asthma und COPD
Die Effektivität einer inhalativen Steroidtherapie ist beim Asthma bronchiale ab der
Stufe II des Asthma-Therapiestufenplans unumstritten. Kortikosteroide bewirken beim
Asthma u. a. eine Lungenfunktionsverbesserung, eine Reduktion der Asthmaanfälle, Reduktion
der Asthmamortalität und eine Verbesserung der Lebensqualität. Diese positiven klinischen
Effekte sind die unmittelbaren Folgen einer auf zellulärer Ebene nachweisbaren Reduktion
des immunologischen Entzündungsgeschehens in der Bronchialschleimhaut und der Hemmung
des Remodeling. Dagegen ist die Situation bei der COPD wesentlich unklarer, da der klinische Effekt
einer inhalativen Steroidtherapie schlechter und der im Bronchialbaum detektierbare
entzündungshemmende Effekt kaum oder gar nicht nachweisbar ist [3]
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]. Unstrittig ist lediglich der allerdings zeitlich limitierte Effekt einer systemischen
Kortikosteroidtherapie bei der COPD-Exazerbation [13]
[14]. Zudem scheint eine inhalative Kortikosteroidtherapie bei schwerkranken Patienten
(Stufe II und III) eine Reduktion der COPD-Exazerbationen bewirken zu können [4]
[15]. Es fehlt aber eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung. Kortikosteroide vermögen die
jährliche FEV1-Abnahme nicht generell und allenfalls nur in selektionierten Subgruppen zu reduzieren
[11]
[16].
Bewertung der epidemiologischen Analyse von Sin und Man
Die Arbeit von Sin u. Man weist diverse methodische Probleme in der epidemiologischen
Datengenerierung und in der Datenanalyse auf.
Datenerhebung
Für die korrekte Interpretation dieser und ähnlicher Studien ist die genaue Kenntnis
über die Datengenerierung entscheidend. In dieser Untersuchung wurden Daten von drei
verschiedenen kanadischen Datenbanken ausgewertet:
-
Die Daten zur Entlassungsdiagnose des Zeitraums 1994 - 1998 wurden aus der kanadischen
Entlassungsdatenbank (CIHI) übernommen.
-
Da alle über 65-jährigen Kanadier Beihilfen für Arzneimittel erhalten, konnten die
entsprechenden Angaben zu den verschriebenen und ausgegebenen Arzneimitteln aus der
Datenbank des für dieses Abrechnungsverfahren zuständigen „Blue Cross” gewonnen werden.
-
Aus dem statistischen Landesamt von Alberta stammen die für die dreijährige „Nachverfolgungszeit”
notwendigen Mortalitätsdaten.
Bewertung der Medikamentenabgabe und Dosisberechnung
Zwangsläufig verfügt diese Studie damit weder über eine einheitliche diagnostische
Aufarbeitung der Probanden, noch über eine klare Angabe zur Medikamentendosis. Zudem
ist eine einheitliche Aufarbeitung der Sterbefälle nicht möglich. Insbesondere die
Frage ob und in welcher Dosis die Probanden tatsächlich Kortikosteroide inhaliert
haben, lässt sich in dieser Untersuchung nur erahnen, da die Steroiddosis lediglich
aus der in der Datenbank eingetragenen Abgabemenge entsprechend einer „klinisch plausiblen
Dosis” berechnet wurde. Es ist hinlänglich bekannt, dass Krankenhausentlassungsdiagnosen
einer nicht unerheblichen Fehlerbreite unterliegen, insbesondere wenn es sich um s.
g. „Nebendiagnosen” dreht. Es ist weiterhin bekannt, dass insbesondere bei älteren
Patienten die Vergabe eines Arzneimittels nicht mit der entsprechenden Einnahme gleichzusetzen
ist und somit auch keine Rückschlüsse auf die eingenommene Dosis erlaubt, die nämlich
in der Regel niedriger liegt [17]
[18]. Hinzu kommt, dass die Verschreibung eines Arzneimittels durch den Arzt sehr von
seiner Einschätzung des Zustandes des Patienten abhängt und dass sich dadurch ohne
Kenntnis der genauen Indikation und des Zustandes der Probanden erhebliche Risikounterschiede
in den Behandlungsgruppen ergeben können [19]
[20]. Daher ist bei den insgesamt eingeschränkten Erhebungsmöglichkeiten bei einem solchen
Studiendesign kaum zu erfassen, ob der Verlauf vom primären Zustand des Probanden
oder von der gewählten Behandlungsstrategie bestimmt wurde. Die dadurch hervorgerufene
Verzerrung der Ergebnisse offenbart sich besonders bei denjenigen Patienten, bei denen
eine einzige Rezepteinlösung für ein inhalatives Kortikosteroid innerhalb des Beobachtungszeitraums
von drei Jahren zu einer 12 %gen Reduktion des Sterblichkeitsrisikos führte, ein klinisch
völlig unplausibles Resultat.
Bewertung der Todesursache
Aus der Todesursachenstatistik wurde lediglich die Gesamtmortalität und eine Gruppe
nicht näher benannter Diagnosen, welche die Autoren „pulmonary-specific cause” nennen,
erfasst. Da es sich hier weder um eine randomisierte Studie, noch um eine formale
epidemiologische Feldstudie im Sinne einer analytischen Befragungskohorte, sondern
lediglich um eine aus mehreren Datenbanken zusammengesetzte Erhebung handelt, ist
eine Fehlerbereinigung in der statistischen Analyse kaum möglich. So fehlen z. B.
Angaben zum ätiologisch besonders bedeutsamen Raucherstatus. Auffällig ist auch ein
erheblicher Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen hinsichtlich Begleiterkrankungen
und Begleitmedikation. Zwar wurden Patienten mit der Einweisungsdiagnose Asthma ausgeschlossen,
nicht jedoch Patienten, bei denen ein Asthma als Begleiterkrankung bestand.
Stellenwert epidemiologischer Analysen bei der COPD
Eine Untersuchung wie von Sin u. Man kann eine Hypothese formulieren, die im Verbund
mit nachfolgenden Untersuchungen bestätigt oder abgelehnt werden kann. Die von Witte
[2] unterstellte Beweiskraft ist jedoch aufgrund der diskutierten methodischen Unschärfe
ausgeschlossen. Bestätigend dazu findet sich in der Diskussion der Originalarbeit
ein Passus, dass die errechneten Ergebnisse weder zu erklären sind noch von anderen
Untersuchungen hinreichend gestützt werden [1]. Unterstützung finden die Autoren lediglich in einer mit denselben Methoden durchgeführten
eigenen Untersuchung, sowie einer weiteren, ebenfalls mithilfe einer administrativen
Datenbank durchgeführten Studie, die eine verringerte Patientenmortalität unter einer
fixen inhalativen Fluticason-/Salmeterol-Kombinationstherapie bzw. der Behandlung
mit den jeweiligen Einzelsubstanzen beschrieb [21]
[22]. Letzteres Resultat steht im Widerspruch zu Sin u. Man, die für β-Agonisten eindeutig
ein erhöhtes Sterberisiko fanden [1].
In einer kürzlich erschienenen anderen epidemiologischen Evaluation zum Thema COPD-Mortalität
unter inhalativer Kortikosteroidtherapie wurde nachgewiesen, dass sowohl Sin u. Tu,
Soriano und Sin u. Man fälschlicherweise auch Zeiten ohne eine gesicherte inhalative
Kortikosteroidtherapie, nämlich den Zeitraum zwischen der Krankenhausentlassung nach
behandelter COPD-Exazerbation bis zur ersten Ausgabe eines inhalativen Kortikosteroids,
in ihre Berechnungen einbezogen [23]. Gerade in dieser Zeit (bei [1] 90 Tage) kommt es jedoch zu den meisten Ereignissen (Mortalität). So wurden z. B.
Patienten, die innerhalb eines 90-tägigen Zeitraums nach der Entlassung aus dem Krankenhaus
wieder aufgenommen werden mussten, automatisch in die Gruppe der Patienten eingeordnet,
die keine inhalativen Kortikosteroide erhielten. Dagegen wurden diejenigen Patienten,
die erst am Ende des 90-tägigen Intervalls inhalative Kortikosteroide erhielten, aber
zuvor keine krankenhauspflichtige Exazerbation erlitten hatten, in die Gruppe der
mit inhalativen Kortikosteroiden behandelten Patienten zugerechnet. Diese Einteilung
führte zwangsläufig zu einem überproportional positiven Therapieeffekt. Eine korrekte
Berücksichtigung dieses Zeitraums lässt diese Mortalitätsunterschiede zwischen den
Behandlungsgruppen verschwinden [23].
Internationales Echo
Die oben zitierten und diskutierten Studien führten dazu, dass insbesondere im European
Respiratory Journal und im American Journal of Critical Care Medicine die Frage, ob
inhalative Kortikosteroide nun die Mortalität bei COPD-Patienten senken oder nicht,
auf der Ebene der jeweiligen Herausgeber intensiv diskutiert wurde. Insgesamt ist
man wegen der vielen methodischen Unsicherheiten und z. T. widersprüchlichen Ergebnisse
zurückhaltend. So betont z. B. Borbeau [24]:
-
Das verfügbare Datenmaterial rechtfertigt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die Schlussfolgerung,
dass eine Langzeittherapie mit inhalativen Kortikosteroiden die COPD-Mortalität senkt.
-
Zur Klärung dieser wichtigen Frage werden weitere große randomisierte klinische Studien
mit einer entsprechenden statistischen Aussagekraft (Power) gefordert, da in einer
Metaanalyse klinischer COPD-Studien die inhalative Langzeit-Steroidtherapie zwar die
COPD-Exazerbationsrate, allerdings ohne wesentlicher Beeinflussung der Lungenfunktion,
nicht jedoch die Mortalität senken konnte [15]. Eine Klärung dieses Aspekts ist möglicherweise von der derzeit durchgeführten TORCH-Studie
zu erwarten.
-
Ein klinischer Effekt muss zellbiologisch erklärbar sein. So ist es zum Verständnis
eines Kortikosteroideffekts unumgänglich, den zugrunde liegenden Effekt auf die Entzündungshemmung
zu verstehen.
Resümee
Administrative Datenbanken, wie sie von Sin und anderen verwendet wurden, sind wichtige
Ressourcen. Sie eignen sich hervorragend zur raschen Abklärung von Risiken bei Arzneimittelanwendungen.
Insbesondere bei sehr selten auftretenden Erkrankungen bieten sie Material für Fall-Kontroll-Studien,
und werden deshalb oft zu diesem Zweck eingesetzt. Es wäre daher außerordentlich hilfreich,
wenn in Deutschland ähnliche Möglichkeiten zur Zusammenführung von Daten zur Verfügung
stünden wie z. B. in Kanada. Die von [1] verwendeten Datenbanken eignen sich allerdings nicht für die von den Autoren formulierten
Studienziele, so dass das Ergebnis zu Recht kritisch bewertet wurde.
Zusammenfassend bleibt somit unklar, ob inhalierte Kortikosteroide in der Langzeittherapie
in der Lage sind, die Mortalität bei COPD-Patienten senken. Ferner fehlen Hinweise,
ob bestimmte Patientengruppen profitieren und ob im positiven Fall eine Dosisabhängigkeit
vorhanden ist. Da inhalative Kortikosteroide keinen nennenswerten Einfluss auf die
bronchiale Entzündungsreaktion besitzen, deren Effekt auf den FEV1-Verlauf nur marginal ist und die Respondergruppe der COPD mit lediglich maximal 20
% angenommen wird, sind begründete Zweifel an dem von Sin u. Man errechneten überwältigenden
Mortalitätsreduktionseffekt (25 %-Senkung) angebracht [1]
[3]
[4]
[10]
[11]
[12]
[13]
[25]
[26].
Zu fordern sind daher, besonders unter Berücksichtigung des kontroversen Diskussionsverlaufs
zu den zitierten epidemiologischen Studien, die Durchführung kontrollierter Studien
mit großen und gut definierten COPD-Patientenkollektiven, die über mehrere Jahre durchgeführt
werden müssen. Damit könnte nicht nur ein Effekt auf die Mortalitätssenkung bewiesen,
respektive widerlegt werden, sondern es wäre auch möglich, eine Aussage zur Kosten-Wirkungs-Beziehung
eines solchen Therapieansatzes zu gewinnen, d. h. wie viele Patienten therapiert werden
müssen, um bei einem Patienten das vorzeitige Ableben zu verhindern.
Bis zu einer allgemein akzeptierten Lösung dieses Aspektes sollten inhalative Kortikosteroide
entsprechend der Empfehlung aktueller Leitlinien - erst nach ausreichender Therapie
mit langwirksamen Bronchodilatatoren - eingesetzt werden, d. h. bei Patienten mit
einer FEV1 < 50 % vom Sollwert mit wiederholten Exazerbationen [27], und wenn sich während eines 3-monatigen Behandlungsversuchs ein Effektivitätsnachweis
(z. B. Verbesserung von Lungenfunktion, physischer Belastungsfähigkeit, Reduktion
der Exazerbationsrate über einen längeren Zeitraum) führen lässt [9]
[16]. Zudem sind auch immer Nutzen, Risiko und Nebenwirkungspotenzial eines solchen Langzeittherapieansatzes
kritisch gegeneinander abzuwägen.