Mit Behandlungssystemen und Interventionsstrategien scheint es fast so wie mit der
Psyche des Menschen: Die zugrunde liegenden Motive des Handelns aufzuspüren, ist mühsame
Arbeit.
Erst wenn man sich über sie klar geworden ist, wird eine systematische (vielleicht
sogar von einer Theorie geleitete) weitere Entwicklung möglich.
Wie bei der psychischen Entwicklung des Menschen erfolgt diese auch selten systematisch
und theoriegeleitet, eher im Gegenteil. Im Suchthilfesystem findet eine intensive
Debatte auf Weiterbildungen und Konferenzen oder in Publikationen hauptsächlich über
Therapiemethoden statt. Der systemische Aspekt bleibt wenigen Verbandsfunktionären
vorbehalten, deren Aufgaben Lobbyarbeit und Fachpolitik vor diesem Hintergrund sind.
Ausgangspunkt der eigenen Positionierung ist das System, so wie es ist. An seine Irrationalitäten
haben sich die meisten Beteiligten gewöhnt. Das hat mit Selbstlegitimation, mit Ressourcensicherung
im Versorgungssystem, mit Bequemlichkeit, Resignation und anderem zu tun. Der eigentliche
fachliche Auftrag, wie ihn der Lehrbuchleser offeriert bekommt, die Milderung von
Leiden und die effektive Therapie und Rehabilitation von Erkrankungen, kann da schon
mal in den Hintergrund geraten. Das gilt nicht nur für die Suchttherapie, sondern
für die Medizin insgesamt.
Mit der Veränderung von Systemparametern, z. B. der Bezahlung, ist die „Top-Diagnostik
oder Behandlung” von heute schnell die Ausnahme von morgen. Das zeigt das Rational
der Entwicklung aus der umgekehrten Perspektive.
In einer Situation, in der die Weiterentwicklung therapeutischer Möglichkeiten durch
neue Interventionen und die ökonomisch induzierte Neuordnung des Gesundheitssystems
aufeinander treffen, gibt es mehrere Gründe, die Frage nach den Triebkräften des Systems,
den Knoten im Koordinatensystem, zu stellen. Ein Risiko besteht darin, dass die ökonomische
Rationalität die allein maßgebliche wird - wenn nicht die Sicht der Nutzer einbezogen
wird.
So wertekonservativ viele Mitarbeiter des Hilfesystems auch sind, sie haben doch häufig
eine höhere inhaltliche und auch persönliche Identifikation mit ihren Patienten und
deren Anspruch auf eine bessere als nur ausreichende Behandlung.
Ihre berufliche Zukunft im Allgemeinen ist außerdem aufs Engste mit der Weiterentwicklung
des Systems verbunden. Zusammen mit den Patienten und deren Angehörigen haben sie
die stärksten Interessen an einer patientenorientierten Logik des Hilfesystems.