Anforderungen und Paradigmen
Anforderungen und Paradigmen
Der Begriff Paradigma stammt aus der griechischen Philosophie, erstmals geprägt von
Aristoteles, und umschreibt so etwas wie „Modell”. Er wird in der Wissenschaft an
verschiedenen Stellen benutzt im Sinne eines konstituierenden Prinzips, synonym mit
Modell und Theorie.
Kuhn [1], einer der wichtigen Wissenschaftstheoretiker, versteht unter Paradigma u. a. das
Vorverständnis des Wissenschaftlers über seinen Gegenstandsbereich, d. h. in diesem
sind nicht nur Regeln, Entscheidungskriterien und Methoden enthalten, sondern auch
die schwerer zu operationalisierenden Vorannahmen, Vorlieben und Interessen, Ziele
und Wünsche [2]. Wegen dieser interpretativen Valenz und Vielschichtigkeit des Begriffs ist er meiner
Meinung nach auch für Anwendungsbereiche wie die Psychiatrie, Psychologie oder Suchttherapie
am besten geeignet, um eine klinisch relevante Orientierung zu debattieren und die
generelle Subjektivität der Orientierung abzubilden.
Wesentlich für die bisher gesellschaftlich dominierenden Paradigmen in der Suchttherapie
ist die statische Trennung von einem sozialen Konsum psychotroper Substanzen einerseits
und schädlichem Konsum als Beginn der schrägen Ebene in die Abhängigkeit andererseits.
Folgerichtig ist die Abstinenz als Gegenpol das konstitutive Element von Suchttherapie,
zumindest als Zielprojektion. Wie sehr dies kulturell überformt bzw. definiert ist,
zeigen die unterschiedlichen Toleranzschwellen gegenüber unterschiedlichen Substanzen
in unterschiedlichen Kulturen [3].
Die subjektive Seite der Therapie - was treibt die Therapeuten? Paradigmen und Prinzipien
in der Behandlung heute
Die subjektive Seite der Therapie - was treibt die Therapeuten? Paradigmen und Prinzipien
in der Behandlung heute
Systeme, auch wenn sie eigene Besonderheiten und Gesetze haben, realisieren sich über
ihre Teile. Diese sind in therapeutischen Systemen, wie Suchttherapiesystemen, einzelnen
Teams oder Therapeuten. Sie sind die Träger von Behandlungsphilosophien [4]
[5], Werten und Paradigmen, die auf vielfältige Art und Weise zustande kommen und wirken.
Vereinfachend könnte man die wichtigsten Aspekte zur Bedeutung der therapeutischen
Subjekte bei der Realisierung therapeutischer Paradigmen wie folgt zusammenfassen:
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eigenständige Akteure
Therapeutische Teams und einzelne Therapeuten sind eine eigenständige Ebene des Behandlungssystems
mit spezifischen Regeln. Von ihnen können auch in gewissem Rahmen Innovationen bzw.
Veränderungen gegen den Trend ausgehen, die Paradigmen wie das Abstinenzparadigma
oder das Krankheitsparadigma relativieren. Dies ist in der Suchttherapie an wichtigen
Punkten der Fall gewesen. So haben sich über Jahre z. B. Hausärzte im rechtlichen
Graubereich bewegt, indem sie bereit waren, z. B. Heroinabhängige mit Kodein ersatzweise
zu behandeln, als es keine andere Form legaler Substitution gab. Sie haben so wesentlich
zur Veränderung der Haltung zur Substitution Heroinabhängiger beigetragen. Insbesondere
der überzeugende Erfolg von Interventionen ist manchmal in der Lage, „eherne Regeln”
eines bestehenden Systems zu überwinden. Diejenigen Therapeuten, die dies versuchen,
sind die wahren Pioniere der Entwicklung. Die Wissenschaft vollzieht diese Erfahrungen
in der Regel nur nach und entscheidet mit über Etablierung oder Marginalisierung.
Umgekehrt sind sie auch die Träger aller Prinzipien. In der konkreten Behandlungsindikation,
der Aufnahme in eine Behandlung, der Art der Durchführung u. a. realisieren sich implizit
als gegeben vorausgesetzte Grundsätze, z. B. der Abstinenzwunsch als Behandlungsvoraussetzung
oder die Unvereinbarkeit von Rehabilitationsmaßnahmen und Substitution.
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Paradigmen und Ausbildung
Der wichtigste Ort der therapeutischen Prägung und somit der Vermittlung von Grundsätzen
ist zum einen die berufliche und zum anderen die therapeutische Aus- und Weiterbildung.
Beide sind in den psychosozialen Berufen sehr aufwändig und erfordern emotionales,
zeitliches und finanzielles Engagement weit über das Ausmaß normaler Berufsausbildungen
hinaus. Psychotherapieausbildung ist klassischerweise keine evidenzbasierte Wissensvermittlung,
sondern die Schulung einer „Weltsicht” [6].
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Paradigmen und Existenzsicherung
Das Suchthilfesystem ist in Finanzierung und Setting stark an Interventionsformen
und Ideologien ausgerichtet. Besonders wird das aus dem Spannungsverhältnis von Substitution
und so genannten „Abstinenz”-orientierten Therapien. In diesem Fall macht sich die
klinische Grundorientierung unabhängig vom Wohl des Patienten und hat ihren Wert in
der Rechtfertigung von Ressourcen. Bis heute fürchten insbesondere etablierte Einrichtungen
die Schaffung neuer, teilweise alternativer Angebote.
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Paradigmen und Politik: Das Abstinenzparadigma - Kind der Prohibition
Die Wechselwirkung zwischen Politik, Kultur und Behandlungssystem ist am Beispiel
der Suchttherapie besonders eindrucksvoll zu studieren. Die Prohibition war zuallererst
eine politische Weichenstellung, die dann weit reichende Folgen auch auf den Charakter
der verschiedenen Hilfesysteme hatte. Nachdem z. B. Heroin in den 20er-Jahren des
letzten Jahrhunderts eines der erfolgreichsten Medikamente der Firma Bayer mit über
30 Indikationen war, ist es seit der internationalen Suchtmittelkonventionen geradezu
der Inbegriff eines Suchtmittels. Während der soziale Konsum von Opiaten in Südostasien
über Jahrtausende bekannt ist, scheint dies in der Welt von heute kaum vorstellbar.
Unabhängig von der letztendlichen Position wird deutlich, dass die Definition von
Krankheit und Gesundheit sowie die Gestaltung des Behandlungssystems gesellschaftlichen
Konventionen folgt und sich die medizinische Wissenschaft in diesen zu bewegen hat.
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Paradigmen, Krankheitskonzept und Klassifikation
Erstaunlicherweise gilt das auch für die Definition der einzelnen Störungen und der
ihnen im ICD zugeordneten Leitsymptome [7]. Gerade bei psychischen Störungen spielen Konventionen zum Krankheitskonzept und
zur Definition solcher Syndrome, wie „schädlicher Konsum” und „Kontrollverlust”, die
entscheidende Rolle, zumal sie hochgradig kontextabhängig sind.
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Ausgangspunkt - der Standort im Behandlungssystem
Das Suchthilfesystem ist in verschiedene Segmente aufgeteilt [8]: Die Allgemeinmedizin, die stationäre Entwöhnung, die Entgiftung, Beratungsstellen
und Psychiatrie u. a., die, ausgehend von ihrem Terrain, therapeutische Strategien
und Modelle hochrechnen. Eine gemeinsame Konvention, die patienten- und ergebnisorientiert
Indikationen differenziert und gemeinsame Kriterien festlegt, gibt es nur sehr begrenzt.
Der eigene Platz bestimmt die eigene Sicht von dem eigenen Therapieangebot und anderen.
Vorschläge für die Diskussion: Paradigmen und Prinzipien der Suchtbehandlung von morgen
Vorschläge für die Diskussion: Paradigmen und Prinzipien der Suchtbehandlung von morgen
Teilweise hat die Diskussion über die Suchtbehandlung von morgen und die sie steuernden
Prinzipien schon begonnen. Durch den ökonomischen Druck werden Ausstattung und Behandlungszeiten
infrage gestellt, durch schwere somatische Folgekrankheiten entsteht Handlungsdruck
genauso wie durch den wissenschaftlichen Beleg der Effektivität neuer Interventionen
(kontrolliertes Trinken, motivierende Gesprächsführung, Buprenorphin-Substitution
u. a.). Es ist wichtig, dass insbesondere die direkt Betroffenen aus ihrer Perspektive
in die Debatte eingreifen und die Überwindung z. B. des klassischen „Abstinenzparadigmas”
mitgestalten. Dafür einige Vorschläge für die Diskussion der Umgestaltung von innen:
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Zur Integration der beteiligten Systeme
Nach wie vor ist das Suchthilfesystem organisatorisch wie ökonomisch fragmentiert.
Die Aufteilung der Suchttherapie in getrennte Systeme hat aus Sicht der Patienten
- wie aus Sicht der Ressourcenökonomie - keinen Sinn. Aber wie wäre es möglich, dieses
Strukturdilemma zu überwinden?
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Über Ziele?
Die Diskussion über Therapieziele hat am meisten mit der Verständigung über Behandlungsparadigmen
zu tun [9]. Die Weltgesundheitsorganisation hat entscheidend zu einer differenzierten Sicht
beigetragen, indem sie die Realität in vier Ebenen von Behandlungszielen abbildete:
von der Überlebenshilfe und „Harm Reduction” bis zur Gesundheitsförderung und Abstinenz.
Aber wie könnten Ziele strukturell verbinden? Ein erster Schritt dieser Diskussion
wäre die Herstellung eines Konsenses über die therapeutische Berechtigung der bestehenden
Segmente des Systems. Die Ziele sind wichtig, weil sie entscheiden, welches Gewicht
die subjektiven Bedürfnisse der Patienten haben.
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Über Verbindung der Systeme?
Die Entwicklung übergreifender Ziele setzt eine systematische und strukturell verankerte
Verbindung und Kommunikation voraus. Diese ist im Moment eher die Ausnahme und auf
Notfälle beschränkt. Normalerweise muss sich der Patient in unserem vielfach fragmentierten
System zurechtfinden oder er wird an andere Stellen verwiesen ohne viel Einfluss auf
den Gang der Dinge. Die bessere Integration und Steuerung ist eine Kernfrage, die
auch materiell unterstützt werden muss. Modelle dazu, wie das Case-Management oder
das Hausarztmodell in der Medizin, müssen systematisch evaluiert werden.
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Über Finanzierung?
Die wirkungsvollste Steuerung erfolgt über die Finanzierung. Seit langem ist z. B.
eine Poolfinanzierung in der Diskussion, in die die beteiligten Kostenträger einzahlen
und die dann nach inhaltlichen Kriterien (z. B. Case-Management) die unterschiedlichen
Maßnahmen trägt.
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Über Gesundheitspolitik?
Das so genannte Hausarztmodell ist letztendlich eine politische Entscheidung. Es
ist bei einem so großen und sozialmedizinisch bedeutsamen Teil des Gesundheitswesens
eine politische Aufgabe, Vorgaben zu formulieren und Strukturen festzulegen. Das jetzige
System genügt den Anforderungen der Zukunft nicht.
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Über die Patienten?
Patienten können auch eine wirkungsvolle Klammer darstellen, je besser sie über die
Interventionsmöglichkeiten und das System aufgeklärt sind. Sie sind das „gemeinsame
Objekt” des Hilfesystems. Durch entsprechende Stärkung ihrer Rechte und umfassende
Information werden sie zumindest teilweise zu Akteuren in der Behandlungsorganisation.
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Differenzierung der Indikation - Differenzierung der Ziele
Mit der Zunahme von Interventionsmöglichkeiten und auf der Grundlage einer in vielen
Studien nachgewiesenen Multimorbidität wird sich in den nächsten Jahren viel schärfer
die Frage der differenziellen Indikation für unterschiedliche therapeutische Strategien
stellen. Es geht nicht mehr nur um das Erreichen von Abstinenz, sondern im Sinne der
WHO-Zielhierarchien um ein profundes Sicherstellen von Risikominimierung, gesundheitlicher
Stabilisierung und darüber hinausgehender Behandlung psychischer Störung und körperlicher
Erkrankungen im Rahmen einer Abstinenz.
Für diese differenzielle Indikationsstellung ist ein enormer Forschungsaufwand notwendig,
für den in Europa erst eine Infrastruktur aufgebaut werden muss. Aber um auch die
knapper werdenden Ressourcen effektiv im Sinne von rationalisierten Zielen einsetzen
zu können, muss untersucht werden, welche Patienten von welchen Interventionen am
meisten profitieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Substitutionsbehandlung.
Dazu gehört natürlich auch ein höherer Stellenwert von systematischer, standardisierter
Diagnostik, die in den meisten Suchthilfeeinrichtungen unterentwickelt ist. Bei dieser
Diagnostik geht es sowohl um die Deskription der Konsummuster und des Konsumverhaltens
als auch um die genaue Einordnung von psychischen Störungen oder konsumkorrelierten,
körperlichen Erkrankungen. Wie soll es sonst auch bei der Überprüfung der therapeutischen
Effektivität möglich sein, Veränderungen zu messen? Wie soll es möglich sein, differenzielle
Therapieplanung und Therapieerfolgskontrolle zu machen ohne verlaufsorientierte und
zielorientierte Diagnostik?
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Ambulantisierung der Versorgung
Betrachtet man die Gesamtversorgung Suchtkranker, so setzen die meisten Interventionen
sehr spät im Verlauf ein. Das gesamte therapeutische System beschäftigt sich überwiegend
mit dem Management von Komplikationen und Spätfolgen. Bezüglich des suchttherapeutischen
Angebots im engeren Sinne hat es zwar in den letzten Jahren eine Verschiebung im Sinne
der Verstärkung ambulanter Angebote und der Einführung einiger Tageskliniken gegeben.
Gemessen am Ressourcenaufwand ist aber der stationäre Anteil an der Versorgung in
vielerlei Hinsicht noch der größte [8]. Bis vor kurzer Zeit war die Substitutionsbehandlung ein Ausschlussgrund für die
Kostenträger der Rentenversicherung für die Aufnahme Drogenabhängiger in stationäre
Psychotherapie oder Rehabilitationsprogramme.
Wahrscheinlich - schon aus ökonomischen Gründen - wird die Neudefinition des Behandlungsanteils
stationärer Suchttherapie in den nächsten Jahren erfolgen. Das ist aber gerade für
langfristige ambulante Therapien, wo es einen engen Zusammenhang zwischen effektiver
kurzfristiger stationärer Krisenintervention zur Entgiftung gibt, von hoher Bedeutung.
Es ist nicht einfach ambulant gleichbedeutend mit gut und stationär gleich ineffektiv,
was neuere Studien von Thomas McLellan im letzten Jahr gezeigt haben. Trotzdem wird
es eine intensive Diskussion um die Behandlungssettings in den nächsten Jahren geben
und der unsinnige Streit um die Einrichtung von Tageskliniken sowie deren Finanzierung
wird hoffentlich immer mehr als Anachronismus erscheinen.
Ambulantisierung muss aber auch heißen, die kontinuierliche und frühzeitige suchtmedizinische
Grundversorgung im Rahmen des hausärztlichen Betreuungsangebots neu zu organisieren
und mit anderen Angeboten der Suchthilfe zu verbinden. Das ist in diesem Rahmen sicher
die sozialmedizinisch und suchtmedizinisch bedeutsamste Aufgabe.
Bei diesen Prozessen müssen die Institutionen und Vertreter der ambulanten Suchttherapie
und Suchtmedizin eine aktive und gestalterische Rolle übernehmen und sich auf die
Prozesse der systematischen Evaluation, Qualitätssicherung und Therapieforschung einlassen.
Wie in anderen Bereichen in der Medizin ist die bessere Vernetzung der verschiedenen
Behandlungssettings durch Integration einzelner Träger die beste Möglichkeit zur Überwindung
des Grabens zwischen stationärer und ambulanter Versorgung!
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Neudefinition der stationären Suchttherapie
Als andere Seite des Prozesses muss der Beitrag im stationären und teilstationären
Bereich neu definiert werden, orientiert an den differenziellen Bedürfnissen der Betroffenen.
Am Anfang dieser Diskussion steht die Frage, welchen Beitrag die Psychiatrie, die
Allgemeinmedizin und die klassische Suchtkrankenhilfe mit Entwöhnungsbehandlung leisten
sollen. Was ist das zukünftige Ziel stationärer Behandlungen? Weder der Abbau von
Behandlungsressourcen im stationären Bereich noch die reine Kürzung von Behandlungszeiten
haben irgendeinen Sinn für die Betroffenen. Die Mittel in diesem Bereich sind dringend
nötig für eine qualifizierte Suchttherapie, die aber im Sinne einer effektiveren Breitenwirkung
neuer innovativer, integrierter Therapieangebote nutzbar gemacht werden müssen. In
diesem Prozess werden die Träger der stationären Suchtkrankenhilfe sowie der Allgemeinmedizin
entweder einen gestalterischen Prozess einschließlich verschiedener Modellvorhaben
in Gang setzen oder simpel erheblich an Kapazitäten verlieren.
Geht man von einem langfristig chronischen Prozess aus, wo zu einem früheren Zeitpunkt
effektiv interveniert werden soll, so stellen sich auch Fragen der Rehabilitation,
der Krisenintervention und der Rückfallintervention in einem ganz anderen Zusammenhang
dar. Sowohl die Interventionsstrategien als auch die Behandlungssettings und Therapieziele
sind in dem jetzigen System weit gehend orientiert an der Logik akuter und in solcher
Form auch begrenzter „Krankheitsbilder”, die den Prozess der Sucht nicht angemessen
abbilden!
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Standardisierung und Qualitätssicherung
Die Dokumentation ist in vielen Bereichen der Medizin oder der Psychologie so schwach
entwickelt, dass sie kaum eine Vergleichbarkeit oder Prozesskontrolle zulässt. In
den letzten Jahren hat es in einigen Bereichen der Bundesrepublik zumindest das Bemühen
um die Einführung von Dokumentationsstandards und klinisch begleitenden Dokumentationssystemen
gegeben, die aber alle noch in einem Anfangsstadium laufen.
Über Qualitätssicherung wird im Wesentlichen mehr diskutiert und hier spielt auch
der Bereich der Suchtkrankenhilfe eine aktive Rolle. Trotzdem ist das Ausmaß an Standardisierung
verbunden mit klaren Erfolgserwartungen und Erfolgsmessung, Qualitätssicherung auf
allen Ebenen eher schwach entwickelt. Ein hervorragendes Beispiel, wie es anders gehen
kann, ist der Bereich der stationären Rehabilitation, in dem sehr erfolgreich ein
mehrteiliges System der Qualitätssicherung eingeführt wurde. Wenn man nicht nur einfach
der Ökonomie die Steuerung überlässt, gibt es gar keine Alternative zur verstärkten
Prozessdokumentation, Qualitätssicherung und auch Standardisierung von Abläufen auf
der Grundlage systematischer Therapieformen.
Die subjektive Seite der Sucht - Therapie und ihre Konsumenten
Die subjektive Seite der Sucht - Therapie und ihre Konsumenten
In der Behandlung psychischer Erkrankungen ist die Frage des Krankheitskonzeptes,
der Hilfsbedürftigkeit, der Behinderung und ihrer Bewertung und der wünschenswerten
Hilfe eine zentrale Frage. Gerade im Falle der Abhängigkeit von psychotropen Substanzen
ist die Definition des Problems und des Veränderungsbedarfs im Verlauf der Sucht wechselnd,
ambivalent und kontrovers, intrapsychisch, wie auch zwischen Patienten, Angehörigen
und Therapeuten. Das drückt sich auch in der unbegründeten Skepsis von Betroffenen
wie Professionellen gegenüber den Möglichkeiten und Ergebnissen der Suchttherapie
aus. Sowohl die Substitution als auch die stationäre Entwöhnung bei Alkohol und Drogenpatienten
haben ein hohes Maß an Standardisierung und Qualität und können daher ihre Erfolge
gut dokumentieren.
Wahrscheinlich gibt es auch in keinem Bereich so viele Notfallbehandlungen und ungeplante
Interventionen - und andererseits so viele Behandlungsabbrüche gerade in der frühen
Phase einer Behandlung wie in der Suchttherapie.
Das hat sicher sowohl systemische als auch subjektbezogene Gründe. Das Hilfesystem
ist nach wie vor hochschwellig und nicht in der Lage, auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse
von Abhängigen außerhalb der Suchthilfe angemessen einzugehen. Aber, um dies zu verbessern
und früher wirkungsvoll zu intervenieren, muss man die Schwierigkeiten der Nutzer
besser verstehen. Der Oberbegriff „Motivation” war der Schlüsselbegriff über eine
Entwicklungsphase des Hilfesystems, manchmal sogar ein gegen die Patienten gerichteter
Kampfbegriff. Aber wie stellt sich der Prozess aus Patientensicht dar, welche Aspekte
gilt es zu berücksichtigen?
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Sucht als Lebensweise
Der schädliche Konsum und die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen sind keine
isolierten Verhaltensweisen, sondern vielfältiger Ausdruck einer individuellen, wie
übergreifenden Lebensweise und Kultur. Die Mittrinker oder die Szene sind Ausdruck
des einzigen sozialen Kontextes, den viele Betroffene haben und den sie nicht verlieren
wollen.
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Funktionalität - Selbstmedikation
Neben den sozialen Verstärkern hat der Konsum oft essenzielle selbst- und befindlichkeitsteuernde
Momente. Dies ist in der Selbstmedikationshypothese gut abgebildet. Was wird den Patienten
alternativ geboten, um auf diese Wirkungen verzichten zu können?
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Ambivalenz und Scham
Psychische Krankheit ist generell mit Stigma belegt. Sucht wird in besonderem Maße
in großen Teilen unserer Bevölkerung als schuldhaftes Versagen gesehen. Die Betroffenen
sehen umgekehrt ihre „Unfähigkeit” zur Selbstkontrolle mit Scham und können erst spät
über die negativen Folgen kommunizieren. Lange Zeit scheinen die Negativeffekte auch
durch die Funktionalität des Konsums kompensiert, die soziale Gemeinschaft, die psychotropen
Effekte manchmal auch den Genuss. Das trägt zu der großen Ambivalenz vieler Süchtiger
gegenüber Therapie und deren Konsequenzen bei. Sie brauchen Zeit, um sich zu Veränderungen
durchzuringen, lange Jahre der Ambivalenz, in denen Therapie helfen kann, eine entsprechende
Richtung zu finden.
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Unwissen
Das Wissen über Sucht, ihre Risiken und ihre Behandlungsmöglichkeiten ist gering.
Eindeutige Hinweise werden nicht in diesem Zusammenhang gesehen. Prävention findet
in Relation zur Masse der Betroffenen in der Bevölkerung nicht statt. Aber auch Wissen
ist ein Zugang zur Verhaltensänderung.
Wie, was erreichen und warum? Die systemische und die individuelle Antwort
Wie, was erreichen und warum? Die systemische und die individuelle Antwort
Die Antworten auf die Fragen nach der Organisation von Suchtkrankenhilfe und der Standardinterventionen
fallen zurzeit in Deutschland wie auch international nicht einheitlich aus. Deutlich
wird, dass ein größerer Teil der Professionellen wie auch der Gesundheits- und Fachpolitiker
das herkömmliche Abstinenzparadigma für unangemessen hält. Damit ist die Debatte um
das „Wie” und das „Was” der Suchtkrankenhilfe eröffnet. Ich plädiere dafür, sie auf
der Basis des „Warum” zu führen und nicht auf der des Althergebrachten.
Zur Frage des „Wie” habe ich oben Vorschläge gemacht. Wichtig ist, dass sich diese
Debatte und die Entscheidungen, die daraus folgen sollten, die Betroffenen zu Eigen
machen.
Die Möglichkeiten einer differenzierten Behandlung sind in den letzten Jahren größer
geworden, aber angemessene Interventionen brauchen ein angemessenes Setting. Der größte
Teil der Abhängigen (95 %) wird in nicht darauf spezialisierten Einrichtungen versorgt
[8]. Insbesondere im Bereich der legalen Substanzen erreichen sehr wirkungsvolle Therapien
nicht die Klienten.
Der Ausgangspunkt für eine Veränderung des Systems - wie auch der einzelnen Einrichtungen
- ist das „Warum”. Es kann gar nicht ernst genug genommen werden. Wenn wir uns substanzübergreifend
darauf einigen, dass unser allgemeines Ziel ist, dem Patienten durch unsere Interventionen
zu einem Stück mehr Autonomie auf seinem gewählten Weg zu verhelfen, haben wir zumindest
einen Ausgangspunkt für den weiteren Weg.