Einleitung
Die Lebensgeschichten suchtkranker Menschen sind häufig durch traumatische Erfahrungen
geprägt. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass bei Personen in Suchtbehandlung hohe
Raten interpersonaler Traumatisierungen im Kindesalter, wie sexueller Missbrauch,
körperliche oder emotionale Misshandlung, anzutreffen sind [1]
[2]. Aber auch in späteren Lebensabschnitten sind Suchtpatienten weitaus häufiger als
die Allgemeinbevölkerung traumatischen Erfahrungen ausgesetzt [3]
[4]. Diese Erlebnisse und ihre Folgen wirken sich in erheblichem Maße auf den Verlauf
der Abhängigkeitserkrankung und die Therapie aus. Oft sind die Betroffenen schlechter
psychosozial integriert, weisen mehr Risikoverhalten und eine größere Anzahl von zusätzlichen
Begleiterkrankungen auf [5]
[6]
[7]. Im Rahmen der Behandlung wurde bei traumatisierten Patienten eine schlechtere Therapieadhärenz
mit geringeren Remissions- bzw. höheren Abbruchraten und häufigeren Rückfällen gefunden
[6]
[7]
[8]
[9]. Insgesamt wird die Behandlung von traumatisierten Suchtpatienten von Therapeuten
als deutlich schwieriger empfunden [10]
[11]. Eine wichtige Bedeutung scheint dabei das breite Spektrum von psychischen Beeinträchtigungen
zu besitzen, die in der Folge von Traumatisierungen auftreten können. Im Falle kindlicher
Traumatisierungen zählen dazu unter anderem Ängstlichkeit, Aggression, Depressivität,
Dissoziation, Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen, Störungen des Selbstwertes,
der Identität und des Bindungsverhaltens sowie Beeinträchtigungen der Fähigkeit zur
Selbstregulation von Affekten und damit des Umgangs mit späteren stressvollen Lebensereignissen
[12]
[13]. Vor diesem Hintergrund wird der Zusammenhang zwischen traumatischen Lebenserfahrungen
und substanzbezogenen Störungen häufig im Sinne der „Selbstmedikationshypothese” verstanden
[14]. Alkohol- oder Drogenkonsum beginnt demnach als ein teilweise erfolgversprechender
Versuch, schmerzvolle oder in anderer Weise schwer erträgliche emotionale Zustände
zu beeinflussen. Psychotrope Substanzen werden von den Betroffenen dabei nicht nur
zur Dämpfung von negativen Affekten eingesetzt, sondern können bei eingeschränkter
emotionaler Erlebnisfähigkeit auch positive Gefühle steigern oder weitere Traumafolgen
wie Rückzugsverhalten und Störungen in der Gestaltung sozialer Kontakte positiv beeinflussen.
Der Substanzkonsum kann so für die Opfer eine zentrale Funktion in der Sicherung elementarer
Grundbedürfnisse einnehmen und als dysfunktionaler Versuch einer pharmakologischen
Konflikt- und Lebensbewältigung angesehen werden [15]. Aufgrund dieser Zusammenhänge kann Traumatisierungen und ihren Folgen eine entscheidende
Bedeutung in der Behandlung betroffener Patienten zukommen und es erscheint unabdingbar,
ihre besonderen Bedürfnisse im Rahmen der Therapie und bei der Gestaltung von Behandlungssettings
zu berücksichtigen. In stationären Einrichtungen des Suchthilfesystems ist in den
vergangenen Jahren eine wachsende Anzahl von spezialisierten Behandlungsangeboten
für diese Patientengruppe entstanden. Über Indikationslisten und eine zunehmende Vernetzung
ist es dabei besser möglich geworden, einen Eindruck von der inzwischen entstandenen
Versorgungslandschaft zu erhalten. Demgegenüber liegen bislang kaum Informationen
dazu vor, welche Bedeutung dem Problem von Traumatisierungen bei Suchtpatienten im
ambulanten Teil des Suchthilfesystems zugemessen wird, in welchem Maße sie dort im
Rahmen der Diagnostik berücksichtigt werden und ob auch hier bereits spezifische Versorgungsangebote
etabliert wurden. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es deshalb, einen Eindruck
von der subjektiven Einschätzung der in der ambulanten Suchttherapie Tätigen bezüglich
der Relevanz traumatischer Lebensereignisse bei ihren Patienten zu gewinnen. Weiter
sollten Informationen dazu gewonnen werden, inwieweit diagnostische und therapeutische
Maßnahmen in diesem Teil des Versorgungssystems auf traumatisierte Patienten abgestimmt
sind.
Material und Methoden
Stichprobe
In einer postalischen Befragung wurden von den bundesweit etwa 2000 Einrichtungen
des ambulanten Suchthilfesystems diejenigen um ihre Teilnahme gebeten, die im Jahr
2003 von mindestens einem Rehabilitationsträger als ambulante Therapieeinrichtung
anerkannt waren. Eine entsprechende Zusammenstellung wird jährlich vom BKK-Bundesverband
erstellt und beinhaltete in der zugrunde gelegten Fassung 467 Einrichtungen [16]. In einem Anschreiben wurde das Ziel der Untersuchung erklärt und um die Beantwortung
eines für die Untersuchung zusammengestellten Fragebogens durch „eine/n therapeutisch
tätige/n Mitarbeiter/in” gebeten.
Befragungsinstrument
Um ein einheitliches Verständnis zu gewährleisten, enthielt die Einleitung des eingesetzten
Fragebogens zunächst eine Traumadefinition, die sich an den „Traumakriterien” der
Posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD-10 bzw. DSM-IV orientierte [17]
[18]. Der betreffende Abschnitt lautete: „Mit Traumatisierungen sind im Folgenden schwerwiegende,
einschneidende Erlebnisse gemeint, die eine deutliche Bedrohung für die körperliche
oder psychische Unversehrtheit des Betroffenen darstellen. Beispiele sind sexueller
Missbrauch oder körperliche Misshandlung im Kindesalter bzw. Erfahrungen sexueller
oder körperlicher Gewalt in späteren Lebensphasen.” In einem allgemeinen Abschnitt
wurden anschließend Daten zur ausfüllenden Person und zur Größe und Art der betreffenden
Einrichtung erfasst. Neben Alter und Geschlecht wurde die Berufsgruppe der ausfüllenden
Person erfragt, die Dauer der Erfahrung mit Suchtpatienten in Jahren und die Anzahl
der aktuell betreuten Patienten. Die Fragen zur Einrichtung umfassten zunächst die
jeweiligen Indikationsbereiche. Dabei wurden die Antwortalternativen der BKK-Indikationsliste
vorgegeben (Alkohol-, Medikamenten-, Drogen-, Lösungsmittel- und Mehrfachabhängigkeit)
mit der Möglichkeit von Mehrfachnennungen. Weiter wurde die Anzahl der in der Einrichtung
durchschnittlich pro Monat betreuten Patienten erfragt sowie mögliche Einschränkungen
für die Behandlung. Im Hauptteil des Fragebogens wurde zunächst eine Einschätzung
dazu erbeten, bei welchem prozentualen Anteil der jeweiligen Patienten „Traumatisierungen
eine wesentliche Rolle bei der Entstehung und/oder Aufrechterhaltung der Suchtproblematik
spielen”. Weiter wurde darum gebeten, anhand vierstufiger Skalen die Notwendigkeit
spezieller Angebote für diese Patientengruppe und spezieller Weiterbildungsmöglichkeiten
für die Therapeuten zu beurteilen. Im letzten Abschnitt wurde erhoben, in welchem
Umfang die befragten Einrichtungen auf die Betreuung traumatisierter Patienten ausgerichtet
und in welcher Form traumaspezifische Angebote vorhanden waren. Weitere Fragen befassten
sich mit dem Weiterbildungsstand des Personals und günstigen therapeutischen Rahmenbedingungen
für die Behandlung traumatisierter Patienten.
Auswertung
Die Angaben zu allen Merkmalsbereichen wurden zunächst deskriptiv ausgewertet (statistische
Kennwerte, Tabellen und Grafiken). Nach ihren Indikationsbereichen wurden die Einrichtungen
unterschiedlichen Gruppen zugeteilt und auf Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl
behandelter Patienten untersucht. Zusammenhänge zwischen den Charakteristika der ausfüllenden
Personen (Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Anzahl der monatlich behandelten Patienten,
Berufserfahrung) bzw. der Einrichtungen (Einrichtungsgruppe, Behandlungsdauer) und
der Einschätzung der Relevanz von Traumatisierungen wurden überprüft. Die Stärke der
Zusammenhänge mit der Behandlungsdauer, dem Alter und der Berufserfahrung wurde mittels
bivariater Korrelationen beschrieben, Gruppenunterschiede anhand der übrigen Variablen
mittels t-test bzw. χ2-test auf Signifikanz getestet. Das Signifikanzniveau wurde auf α = 0,05 gesetzt.
Zur Untersuchung von Interaktionseffekten zwischen Variablen, die Zusammenhänge zeigten,
wurden mehrfaktorielle Varianzanalysen gerechnet.
Ergebnisse
Von den n = 467 Einrichtungen aus dem gesamten Bundesgebiet sandten n = 259 den Fragebogen
zurück (Rücklauf 56 %). In ca. 10 Einrichtungen war der Fragebogen kopiert und von
mehreren Mitarbeitern ausgefüllt worden. In diesen Fällen wurde jeweils einer der
Bögen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, um keine redundanten Informationen zu den
betreffenden Einrichtungen zu erhalten.
Charakteristika der ausfüllenden Personen
Tab. [1] zeigt Geschlecht, Alters- und Berufsgruppen der ausfüllenden Personen. Bei einer
sehr ausgeglichenen Geschlechterverteilung betrug der Altersmittelwert der Stichprobe
M = 46,3 Jahre (SD = 7,0, range 26 - 62 Jahre).
Tab. 1 Geschlecht, Alters- und Berufsgruppen
Variablen |
Ausprägung |
Häufigkeit |
Geschlecht |
weiblich |
51 % (n = 130) |
männlich |
49 % (n = 125) |
Altersgruppen |
unter 40 Jahre |
16 % (n = 41) |
40 bis 50 Jahre |
50 % (n = 128) |
über 50 Jahre |
34 % (n = 87) |
Berufsgruppen |
Psychologie |
42 % (n = 107) |
Sozialpädagogik |
40 % (n = 102) |
Sozialarbeit |
8 % (n = 21) |
Pädagogik |
6 % (n = 14) |
Medizin |
3 % (n = 7) |
Soziologie |
2 % (n = 6) |
Entsprechend dem Altersmittelwert berichtete die Mehrzahl der ausfüllenden Personen
über eine langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Suchtpatienten (M = 14,2 Jahre;
SD = 7,2; range 1 - 33, n = 257). Eine mindestens 10-jährige Erfahrung wiesen 71 %
der Stichprobe auf. Monatlich wurden im Mittel 28 Patienten persönlich betreut (SD
= 20,3; range 2 - 140).
Charakteristika der Einrichtungen
Die Einrichtungen ließen sich anhand der angegebenen Indikationsbereiche danach unterscheiden,
ob sie ausschließlich alkoholabhängige und medikamentenabhängige Patienten betreuten,
ob sie zusätzlich auch auf drogenabhängige bzw. polytoxikomane Patienten eingestellt
waren oder ob ihr Angebot ausschließlich auf die letztgenannte Patientengruppe ausgelegt
war (Tab. [2]). Zusätzliche Indikationen wurden für ein Viertel der Einrichtungen berichtet (n
= 65). Bis auf drei Einrichtungen betraf dies ausschließlich die beiden erstgenannten
Gruppen von Einrichtungen und in über 80 % der Fälle handelte es sich um die Indikationen
„Essstörungen” oder „Spielsucht”. Lediglich für drei Einrichtungen wurden zusätzliche
Indikationen wie „psychische Störungen” oder „psychiatrische Komorbidität” genannt.
Zugleich stellte eine psychiatrische Komorbidität die häufigste Einschränkung bezüglich
einer Therapie dar. So wurde für 83 (32 %) Einrichtungen berichtet, dass eine Therapie
komorbider Patienten nicht möglich sei. Weitere, seltener genannte Einschränkungen
betrafen u. a. eine mangelnde Abstinenzfähigkeit (n = 8, 3 %) und geschlechtsspezifische
Angebote (n = 10, 4 %). Zwischen den drei Einrichtungstypen zeigten sich keine signifikanten
Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl der pro Monat betreuten Patienten.
Tab. 2 Charakteristika der Einrichtungen
Variablen |
Ausprägung |
Häufigkeit |
Einrichtungstyp
|
Alk |
46 % (n = 118) |
Alk/Drog |
37 % (n = 97) |
|
Drog |
17 % (n = 43) |
Anzahl der Patienten |
< 50 Pat./Monat |
19 % (n = 47) |
50 - 100 Pat./Monat |
35 % (n = 84) |
101 - 200 Pat./Monat |
37 % (n = 90) |
|
> 200 Pat./Monat |
9 % (n = 23) |
durchschnittliche Behandlungsdauer |
< 3 Monate |
15 % (n = 35) |
3 - 6 Monate |
33 % (n = 76) |
7 - 12 Monate |
38 % (n = 87) |
&γ> 12 Monate |
14 % (n = 32) |
Anmerkungen: Alk: Hauptindikationen Alkohol-/Medikamentenabhängigkeit; Alk/Drog: zusätzlich Indikation
Drogenabhängigkeit/Polytoxikomanie; Drog: Hauptindikation Drogenabhängigkeit
Relevanz von Traumatisierungen
Die subjektive Einschätzung der Therapeuten, bei welchem prozentualen Anteil der jeweiligen
Patientinnen und Patienten „Traumatisierungen eine wesentliche Rolle in der Entstehung
und/oder Aufrechterhaltung der Suchtproblematik spielen”, ergab über die gesamte Stichprobe
hinweg einen Mittelwert von 33 % der Patienten (SD = 23,8, range 0 - 100 %, n = 249).
Zwei Drittel (68 %) der teilnehmenden Personen schätzte diesen Anteil auf mindestens
20 % aller Patienten. Während männliche Teilnehmer eine bedeutsame Rolle von Traumatisierungen
bei durchschnittlich 27 % (SD = 21,0) ihrer Patientinnen und Patienten vermuteten,
lag dieser Wert bei weiblichen Teilnehmerinnen mit 39 % (SD = 25,1) signifikant höher
(t = 4,08, df = 236, p < 0,001). Auch die durchschnittliche Behandlungsdauer zeigte
einen, wenn auch schwachen, Zusammenhang mit dem Anteil der Patienten, bei denen Traumatisierungen
als relevant eingeschätzt wurden (r = .15, p = ,021). Anhand einer zweifaktoriellen
Varianzanalyse wurde der Einfluss der Indikationsgruppen bestätigt, ein Interaktionseffekt
zwischen dem Geschlecht und der Einrichtungsgruppe lag jedoch nicht vor. Bei der Überprüfung
der Behandlungsdauer als Kovariate zeigte sich deren Einfluss auch im multivariaten
Modell; auch hier blieb der Geschlechtsunterschied davon jedoch unbeeinflusst. Keine
Zusammenhänge mit der Einschätzung der Relevanz zeigten die Zugehörigkeit zu den verschiedenen
Berufsgruppen, die Anzahl der monatlich behandelten Patienten, das Alter sowie die
Berufserfahrung. Wurden die Mittelwerte zwischen den drei Einrichtungstypen verglichen
(„Alk”, „Alk/Drog”, „Drog”), so zeigte sich, dass in den Einrichtungen, die ausschließlich
Drogenpatienten behandelten, diese Zahl signifikant höher eingeschätzt wurde. Während
sich in den ersten beiden Typen von Einrichtungen Mittelwerte von 27 % (SD = 21,0)
bzw. 31 % (SD = 21,3) ergaben, wurde in diesen Einrichtungen geschätzt, dass Traumatisierungen
bei durchschnittlich 50 % (SD = 50,1) der Patienten eine „wesentliche Rolle” spielten
(p < 0,001).
Auf die offene Frage nach Besonderheiten im Therapieverlauf bei betroffenen Patienten
wurde in 76 % (n = 199) der Fälle geantwortet. Am häufigsten wurde berichtet, dass
es zu Problemen in der therapeutischen Beziehung komme („therapeutisches Bündnis schwer
zu etablieren”, „Kontaktabbrüche”, „Übertragungsphänomene”, „Unsicherheit der Therapeuten”
...), dass Schwierigkeiten im Verlauf der Therapie aufträten („können Grundvoraussetzung
der Abstinenz nicht erfüllen”, „Verlängerung der Therapiedauer”, „häufigere Rückfälle”,
„lange Stabilisierungsphase” ...) und dass bei Betroffenen in besonderem Maße komorbide
psychische Störungen vorlägen („Ängste”, „Depression”, „Autoaggression”, „Suizidalität”,
„Persönlichkeitsstörungen” ...). Insgesamt wurde ein hoher Bedarf an spezifischen
Angeboten für betroffene Patienten gesehen. 87 % (n = 223) der teilnehmenden Personen
waren der Ansicht, dass solche Angebote „eher wichtig” bzw. „wichtig” seien (Abb.
[1]).
Abb. 1 „Wie wichtig sind Ihrer Meinung nach spezielle Angebote für Klientinnen und Klienten
mit traumatischen Lebensereignissen?”
In noch höherem Maße war dies für Weiterbildung und fachliche Unterstützung bezüglich
traumaspezifischer Suchttherapie der Fall, die 95 % (n = 243) für „wichtig” bzw. „eher
wichtig” ansahen (Abb. [2]).
Abb. 2 „Wie wichtig wären nach Ihrer Einschätzung Weiterbildung bzw. fachliche Unterstützung
bezüglich traumaspezifischer Suchttherapie?”
Aktueller Umgang mit Traumatisierungen
Zur Diagnostik von Traumatisierungen berichteten 44 % (n = 111), dass in ihrer Einrichtung
systematisch traumatische Lebenserfahrungen exploriert würden. 16 % (n = 40) gaben
an, systematisch eine Sexualanamnese zu erheben. Lediglich knapp 10 % der Gesamtstichprobe
(n = 24) berichteten, dass traumatische Erlebnisse standardisiert anhand von speziellen
Instrumenten oder Fragebögen erhoben würden.
Auf die Frage, ob traumaspezifische Angebote vorgehalten würden, berichteten 18 %
der ausfüllenden Personen (n = 46), dass dies in ihrer Einrichtung der Fall sei. Am
häufigsten wurde berichtet, dass dies „in der Einzeltherapie berücksichtigt” werde
(n = 14), dass Stabilisierungstechniken (n = 9), verhaltenstherapeutische Interventionen
(n = 7) oder Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) eingesetzt würden
(n = 6) bzw. dass (Indikations-)Gruppen vorhanden seien (n = 6). Während die Mitarbeiter
dieser Einrichtungen den Anteil von Patienten, bei denen Traumatisierungen eine bedeutsame
Rolle spielen, auf durchschnittlich 44 % (SD = 25,1) schätzten, betrug auch dort der
Anteil der Personen, von denen angegeben wurde, dass sie an einer solchen Intervention
teilnähmen, lediglich 17 % (SD = 23,4). Über die gesamte Stichprobe hinweg zeigte
sich zwischen der Einschätzung der Relevanz von Traumatisierungen und dem Anteil der
Patienten, die spezifische Interventionen erhalten, eine noch deutlichere Diskrepanz
(Tab. [3]).
Tab. 3 Subjektive Einschätzung der Bedeutung und Teilnahme an spezifischen Angeboten nach
Einrichtungstypen
Einrichtungstyp |
Anteil der Patienten „bei denen Traumatisierungen eine wesentliche Rolle ... spielen” |
Anteil der Patienten „die an einer (trauma-)spezifischen Intervention teilnehmen” |
Alk |
M = 27,4 % (SD = 21,0) |
M = 2,7 % (SD = 6,8) |
Alk/Drog |
M = 31,3 % (SD = 21,6) |
M = 3,7 % (SD = 13,1) |
Drog |
M = 50,1 % (SD = 27,7) |
M = 9,3 % (SD = 20,8) |
Anmerkungen: „Alk”: Hauptindikationen Alkohol-/Medikamentenabhängigkeit (n = 113); „Alk/Drog”: zusätzlich Indikation Drogenabhängigkeit/Polytoxikomanie (n = 93); „Drog”: Hauptindikation Drogenabhängigkeit (n = 42)
Zu ihrem persönlichen Weiterbildungsstand berichteten 27 % (n = 69) der ausfüllenden
Personen, über eine „psychotherapeutische Zusatzqualifikation” zu verfügen. Im Bereich
Traumatherapie berichteten 41 % (n = 106), bereits eine „(Kurz-)Fortbildung” besucht
zu haben, jedoch nur 6 % (n = 15) einen „Lehrgang”.
Auf die offene Frage nach wichtigen therapeutischen Rahmenbedingungen bei der Behandlung
betroffener Patienten wurden von insgesamt n = 122 Personen Angaben gemacht (47 %).
Oft wurde darauf hingewiesen, dass traumatisierte Patienten besonders niedrigschwellige
und flexible Angebote benötigten. Dies betreffe die Kriterien für eine Aufnahme in
die Behandlung, etwa die oft zunächst nicht zu erreichende Abstinenz, aber auch eine
möglichst geringe Wartezeit und eine geschlechtsspezifische Beratung und Therapeutenwahl.
Besonders häufig wurde die Notwendigkeit hochfrequenter, langfristiger Therapieangebote
mit hoher Beziehungskontinuität betont und die Schwierigkeit, entsprechende Zusagen
von den Kostenträgern zu erhalten. So würden viele Patienten kontinuierliche Einzelgespräche
in kurzen Intervallen benötigen und zusätzliche engmaschige Kontaktangebote, ggf.
auch abends und an Wochenenden. Auch die Nachbetreuung müsse dem besonderen Bedarf
der Patienten entsprechend kurzfristig intensiviert werden können. Ein weiterer besonders
häufig geäußerter Aspekt betraf eine bessere Vernetzung mit spezialisierten niedergelassenen
Kollegen, stationären und teilstationären Einrichtungen. Viele der ausfüllenden Personen
beklagten einen Mangel an qualifizierten, regional erreichbaren Psychiatern und Psychotherapeuten,
die ggf. konsiliarisch konsultiert werden könnten oder für die weitere Behandlung
Betroffener zur Verfügung stünden. Auch die Möglichkeit, Patienten an spezialisierte
Kliniken zu verweisen oder dort kurzfristig zur Krisenintervention aufnehmen zu lassen,
sei bei weitem zu selten gegeben. Erneut wurde schließlich nachdrücklich der Wunsch
nach qualifizierter Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu traumaspezifischen
Themen geäußert.
Diskussion
Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, einen Eindruck davon zu erhalten, welcher
Stellenwert Traumatisierungen bei Personen mit Abhängigkeitserkrankungen von den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern ambulanter Suchttherapieeinrichtungen zugemessen wird. Bereits die
für postalische Befragungen vergleichsweise hohe Teilnehmerquote (56 %) deutete dabei
darauf hin, dass an dieser Fragestellung ein erhebliches Interesse bestand. Explizit
wurde dies in entsprechenden Kommentaren auf vielen der zurückgesandten Bögen geäußert.
Nach Einschätzung der teilnehmenden Personen spielen Traumatisierungen bei einem erheblichen
Anteil der Patientinnen und Patienten „eine wesentliche Rolle bei der Entstehung und/oder
Aufrechterhaltung der Suchtproblematik”. Er wurde über die gesamte Stichprobe hinweg
auf ein Drittel geschätzt, annähernd 70 % der teilnehmenden Personen schätzten ihn
auf mindestens ein Fünftel aller Patienten. In Einrichtungen für drogenabhängige bzw.
polytoxikomane Patienten wurde dieser Anteil mit der Hälfte aller dort behandelten
Personen angegeben. Selbst wenn in Betracht gezogen wird, dass sich an der Befragung
in besonderem Maße Mitarbeiter beteiligten, die bereits für dieses Themenfeld sensibilisiert
waren, unterstreicht dies die hohe therapeutische Relevanz von Traumatisierungen.
So wurde von den Teilnehmern eine Vielzahl von Problemen bei der Behandlung traumatisierter
Patienten berichtet, die sich mit den Befunden empirischer Studien decken [7]
[8]
[9]. Während Befunde zur Häufigkeit von Traumatisierungen und zu den besonderen Bedürfnissen
traumatisierter Suchtpatienten bislang vorwiegend im angloamerikanischen Raum durchgeführt
wurden, zeigt die vorliegende Untersuchung dabei für ein bedeutendes Segment des deutschen
Suchthilfesystems, dass sich die hier Tätigen in identischer Weise mit diesen Problemen
konfrontiert sehen. Diese Einschätzung war unabhängig vom Alter, der Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Berufsgruppe und der Berufserfahrung. Allerdings zeigten sich
deutliche Geschlechtsunterschiede, die auch unter Kontrolle anderer Variablen bestehen
blieben. Dieser Befund könnte darauf hinweisen, dass weibliche Therapeuten Traumatisierungen
eher in Erwägung ziehen und häufiger entsprechende Gesprächsangebote machen. Andererseits
wäre auch denkbar, dass Betroffene ihre Erfahrungen weiblichen Therapeuten eher mitteilen.
Von der überwiegenden Mehrzahl der teilnehmenden Personen wurde die Wichtigkeit spezifischer
Angebote für die betroffenen Patienten unterstrichen. Dies stand in deutlicher Diskrepanz
zur Anzahl der Einrichtungen, die bereits entsprechende Angebote implementiert hatten.
Der Grund dafür scheint zum einen in den dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu liegen.
So sind viele Aspekte eines differenzierten Angebots, wie die Durchführung spezifischer
Gruppen oder eine adäquate Supervision, nur bei einer besseren personellen und finanziellen
Ausstattung möglich. Häufig sprengt auch die oft längere Therapiedauer bei betroffenen
Patienten den von den Kostenträgern diktierten Rahmen. Andererseits sind spezialisierte
Angebote auch nicht in jedem Setting sinnvoll zu integrieren und es stellt sich die
Frage, ob jede Einrichtung „alles anbieten” und jede therapeutische Person „alles
können” muss. Auch wenn für posttraumatische Störungen bei Suchtpatienten gezeigt
werden konnte, dass deren integrative Behandlung durch dieselben Therapeuten mit höherer
Wahrscheinlichkeit zu Therapieerfolgen führt [19]
[20]
[21]
[22] und auch von den Patienten bevorzugt wird [23], müssen alternative Modelle erwogen werden, die sich für viele Einrichtungen als
passender erweisen könnten. Das Spektrum alternativer Möglichkeiten könnte sich dabei
von der konsiliarischen Beratung durch Traumatherapeuten über die Durchführung spezialisierter
Gruppenangebote durch externe Therapeuten bis hin zu einer sequenziellen Therapie
erstrecken. In jedem Fall dürfte einer intensivierten Zusammenarbeit mit spezialisierten
Angeboten bzw. Therapeuten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Suchthilfesystems
eine Schlüsselrolle zukommen. Ein wichtiges Ziel, das auch von vielen der Befragten
geäußert wurde, wäre der Aufbau lokaler Netzwerke, die unter den jeweiligen Gegebenheiten
eine optimale, an die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen adaptierte Behandlung
ermöglichen. Auch wenn dabei in manchen Fällen eine Überweisung die sinnvollste Alternative
darstellen sollte, setzt dies eine adäquate Diagnostik in suchttherapeutischen Einrichtungen
voraus. Aufgrund der Häufigkeit von Traumatisierungen bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen
sollte dies eine „Minimalanforderung” an alle in der Suchttherapie Tätigen darstellen.
In der vorliegenden Untersuchung berichteten lediglich 43 % der Therapeutinnen und
Therapeuten, dass traumatische Lebensereignisse in ihren Einrichtungen systematisch
erfragt würden. Da damit gerechnet werden muss, dass Personen bzw. Einrichtungen mit
Interesse an der Fragestellung in der Untersuchungsstichprobe eher überrepräsentiert
waren, dürfte diese Zahl in der Gesamtheit der ambulanten Einrichtungen noch niedriger
liegen. Besonders interpersonale Traumatisierungen, wie sexuelle und physische Gewalt,
werden von Betroffenen jedoch weit eher berichtet, wenn sie von therapeutischen Personen
systematisch erfragt werden (z. B. [24]). Häufig wird befürchtet, dass eine Exploration solcher Erlebnisse von den Klienten
eher abgelehnt wird [25]. Wenn sie in ein Hilfsangebot eingebettet ist, wird sie von einem Großteil der Betroffenen
jedoch als hilfreich empfunden [26]
[27]. Einen wichtigen Beitrag dazu, die Diagnostik von Traumatisierungen und traumabezogenen
Störungen weiter zu verbessern, kann dabei eine angemessene Weiterbildung leisten.
In entsprechenden Fortbildungen könnte mit vertretbarem Aufwand zumindest ein Grundlagenwissen
im Bereich der Psychotraumatologie und zu speziellen Aspekten bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen
erworben werden. Wie sich in der Untersuchung zeigte, hat allerdings nur ein geringer
Anteil der Befragten bislang spezifische Lehrgänge durchlaufen und 95 % gaben an,
dass sie eine weitere Qualifikation in diesem Bereich für wichtig hielten. Zusammenfassend
kann gesagt werden, dass Traumatisierungen bei Suchtpatienten in Einrichtungen der
ambulanten Suchttherapie, die heute den größten Anteil von Patienten behandeln, eine
erhebliche Bedeutung zugesprochen wird. Ein Teil der Einrichtungen trägt dem auch
bereits in Form spezialisierter Angebote Rechnung. Allerdings befindet sich diese
Entwicklung, bezogen auf das Ausmaß des Problems, noch am Anfang. Zum einen sind künftig
die Kostenträger gefordert, den nötigen finanziellen Rahmen für eine adäquate Therapie
traumatisierter Patienten zu schaffen. Auf Seite der Einrichtungen sollte hingegen
überprüft werden, in welchem Maße eigene Konzepte modifiziert und Behandlungsangebote
ergänzt werden sollten und wie durch eine bessere lokale Vernetzung und umfassende
Fortbildung dazu beigetragen werden kann, die vorhandenen Angebote weiter auf die
Bedürfnisse dieser Patientengruppe abzustimmen.