Rudolf Virchow gilt als der bedeutendste Pathologe des 19. Jahrhunderts. Er hat die
gesamte medizinische Wissenschaft in Deutschland für Jahrzehnte geprägt. Virchow war
aber darüber hinaus auch ein sehr streitbarer republikanischer Politiker.
Wie die gesamte Medizin verdankt ihm auch die Pneumologie Grundlegendes zur Lehre
von den Geschwülsten, zur Entzündung und zur Granulationsforschung. Er prägte als
Erster den Begriff des Granuloms. Wir sind auch heute noch weit entfernt von einer
definitiven Antwort wann, warum und bei wem der Organismus mit der Bildung derartiger
Zellverbände reagiert. Ein Grund mehr, sich den Anfängen der Granulomforschung erneut
zuzuwenden.
Erstes Organkonzept und Gewebe als Sitz von Krankheiten
Erstes Organkonzept und Gewebe als Sitz von Krankheiten
1761 veröffentlichte der 80-jährige G. B. Morgagni (1682 - 1771), Anatom in Padua/Italien,
sein epochales Werk „De sedibus et causis morborum ... libri quinque” („Über Sitz
und Ursache der Krankheiten ...”) [9]
[15]. Fußend auf mehr als 700 Fallberichten etablierte er die erste sorgfältige Synopse
von klinischen Zeichen und pathologisch-anatomischen post-mortem-Befunden. Indem er
das Konzept eines „Sitzes” von Krankheiten in der Medizin etablierte, wurde er zum Protagonisten einer pathologischen
Anatomie als unabhängiger Disziplin, in welcher die Organe als Sitz von Krankheiten erkannt wurden.
Xavier Bichat (1771 - 1802), Anatom in Paris, führte diesen Leitgedanken fort mit
dem Argument, dass alle diese Organe aus charakteristischen Geweben aufgebaut seien
und er wies den Geweben die zentrale Rolle als Sitz krankhafter Veränderungen zu [5]. Neben anderen bedeutenden Forschern wurde aber Rudolf Virchow mit seiner 1858 in
Buchform veröffentlichten „Cellularpathologie” [21] zu dem Protagonisten schlechthin für einen zellen- und organassoziierten Sitz von Krankheiten,
pointiert in seiner Frage „Ubi est morbus?” [2] (Abb. [1]).
Abb. 1 R. Virchow, Portrait um 1860. Archiv des Verfassers.
Frühe Vorstellungen zu „Granulation” und „Granulom”
Frühe Vorstellungen zu „Granulation” und „Granulom”
Spätestens zu Beginn des 19. Jahrhundert begann man in der Medizin den gekörnten Grund
von abheilenden Wunden „Granulationsgewebe” zu nennen, hierbei allein dem visuellen
Aspekt folgend. Bereits frühe histologische Befunde enthüllten in diesem Granulationsgewebe
einen charakteristischen Aufbau. Heute wissen wir, dass jede dieser granulomatösen
Prominenzen einem Konvolut von Kapillarschlingen entspricht [26].
Darüber hinaus war bekannt, dass etliche Krankheiten mit der Präsenz von Knoten verschiedener
Größe einhergingen, deren Kleinere später „Granulome” genannt wurden [11].
Die Phthise/Tuberkulose, speziell in deren pulmonalen Formen, schien die Granulomkrankheit schlechthin zu sein. Häufig genug offenbarte der Anschnitt einer
tuberkulösen Lunge, mitunter über das gesamte Organ verteilt, eine Vielzahl kleinster
Knötchen weißlicher Farbe. Wiederum dem visuellen Aspekt folgend, wurde diese Form
Miliartuberkulose genannt (lat.: milium = Hirsekorn) (Abb. [2]).
Abb. 2 Nieren-Blasentuberkulose mit miliaren Herden, Tubercules des reins, aus: Pierre Rayer,
Folio Atlas mit 60 Tafeln, hier Tafel XLIV, 3 Bde. Paris 1837.
Es war M. Baillie (1761 - 1823), der 1793 als Erster eine miliare Form der Lungentuberkulose
erwähnte [3] und G. A. Bayle (1774 - 1816), französischer Phthisiologe, verwandte den Begriff
„miliar” ab 1810 [4]. Später erhielt in Frankreich die Miliartuberkulose bis in die ersten Jahrzehnte
des 20. Jahrhunderts den Namen „Granulie”. Mit der Weiterentwicklung der makro- und
mikroskopischen Pathoanatomie ergaben sich immer mehr Belege dafür, dass auch andere
Krankheiten granulomatöse Strukturen in den befallenen Organ aufwiesen. Johannes Müller
(1801 - 1858), bedeutender Anatom und Physiologe, einer der akademischen Lehrer des
jungen Rudolf Virchow, definierte 1834:
„Ein Tuberkel ist eine knotige Entartung von weißlicher oder gelblicher Farbe unbestimmter
Größe und Gestalt, groß wie ein Punkt bis zur Größe eines Hühnereis. Diese Masse ist
hart und fest oder weiß und bröckelig (Käse)” [16] (Abb. [3]).
Abb. 3 Pulmonary Tubercles, in: Robert Carswell: Pathological Anatomy - Illustrations of
the Elementary Forms of Disease. London, 1838, hier Plate I, fig. 4, koloriert.
Rudolf Virchow (1821 - 1902), Pathologe und pathologischer Anatom
Rudolf Virchow (1821 - 1902), Pathologe und pathologischer Anatom
Er wurde der führende Pathologe der Mitte und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland,
wenn nicht gar in Europa. Neben seiner zentralen Stellung als Pathologe war er ein
Mann vieler Interessen und anerkannter Fähigkeiten: republikanischer Politiker, Sozialhygieniker
(„Die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen”), Anthropologe, Ethnologe,
Prähistoriker [1]
[2]
[18].
Nach W. Doerr lässt sich das geistige Leben von R. Virchow in 3 große Perioden gliedern,
innerhalb derer er aber zu keinem Zeitpunkt einseitig festgelegt war [8]: Von 1844 bis in die sechziger Jahre war er pathologischer Anatom und Arzt; vom
Jahre 1859 an Politiker und Sozialhygieniker und ab Ende der sechziger Jahre zunehmend
Anthropologe, Paläontologe, Ethnologe und Archäologe.
Sein Wirken als Pathologe wies wiederum 2 Phasen auf: 1849 bis 1856 als Professor
der Pathologie und pathologischen Anatomie in Würzburg (erster deutscher Lehrstuhl
für Pathologie überhaupt). 1856 bis 1902 als Pathologe an der Charité/Berlin in einem
neugebauten Institut für Pathologie mit enger Anbindung an die klinischen Fächer.
Sein Institut wurde kraft seines Wirkens zu einem weltweiten wissenschaftlichen Brennpunkt
[2]
[8]
[18].
Sein Konzept der „Cellularpathologie” [21], zuerst umrissen 1855 in Würzburg und 1858 unter eben diesem Titel veröffentlicht,
stellte die Pathologie wie auch die gesamte klinische Medizin auf eine morphologische
Basis. Die Zelle war in diesem System die zentrale Struktur, sowohl im gesunden Zustand
als auch mit ihren sich im Gewebsverband abspielenden krankhaften Reaktionen. Dabei
war das Mikroskop fundamental wichtiges Instrument und Virchow forderte, es sei nötig,
„dass die gesamte Medizin den natürlichen Vorgängen mindestens um 300-mal nähertreten”
müsse. Dies war die damals maximal mögliche Vergrößerung von Mikroskopen (Abb. [4]).
Abb. 4 Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der Pleura, aus: R. Virchow, Cellularpathologie,
1858, hier Fig. 140, S. 422.
Rudolf Virchow und die Phänomene von Entzündung und Geschwulstbildung
Rudolf Virchow und die Phänomene von Entzündung und Geschwulstbildung
Nach eigener Aussage ließen ihn durch sein ganzes wissenschaftliches Leben hindurch
zwei Phänomene niemals los: Form und Wesen der Entzündung sowie die Prozesse der Geschwulstbildung.
Er „rang” mit diesen Problemen sein ganzes Leben hindurch, so Otto Lubarsch [13], Virchows Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl.
Zwischen 1863 bis 1865 brachte Virchow das dreibändige Werk „Die krankhaften Geschwülste”
heraus, fußend auf eingehender mikroskopischer Forschung als Niederschlag umfassender
morphologischer Erfahrung [14]
[22]. Hier prägte er auch die Begriffe „Granulationsgeschwulst” und „Granulom”. Nach
W. Doerr [8] zeichnet sich dieses Werk durch 3 Besonderheiten aus:
-
durch das Bekenntnis „wollte man auch jemand auf das Blut pressen, dass er sagen sollte,
was Geschwülste eigentlich seien, so glaube ich nicht, dass man irgend einen lebenden
Menschen finden würde, der in der Lage wäre, dies sagen zu können.”
-
durch den Umstand, dass die entzündlichen Granulationsgeschwülste zusammen mit den
echten Geschwülsten abgehandelt werden.
-
durch die Tatsache, dass der Band II inkomplett bleibt und dort endet, wo die epithelialen
Geschwülste hätten abgehandelt werden müssen.
Auch in über 30 Jahren weiterer wissenschaftlicher Arbeit kehrte Virchow niemals zu
diesem Thema zurück. Über seine Gründe dafür erwähnte er nichts. Ein wesentlicher
Grund wird darin liegen, dass er sich zeitlebens niemals von dem irrigen Konzept der
bindegewebigen Herkunft aller Geschwülste lösen konnte [7] (Abb. [5]).
Abb. 5 Schema der Bindegewebswucherung, aus: R. Virchow, Die krankhaften Geschwülste, Band
I, 1863, hier Fig. 7.
Im Jahre 1863 prägte Virchow in Band II dieses Werkes im 20. Kapitel „Granulationsgeschwülste”
erstmals den Terminus „Granulom” [22]: „Die hier zu betrachtende Reihe kann man, wie ich glaube, am besten zusammenfassen
unter dem Namen der Granulationsgeschwülste, insofern das gewöhnliche Gewebe der Granulation
oder, wenn man einen normalen Typus will, das Knochenmark in seinem jugendlichen Zustand,
das Paradigma abgiebt, über welches diese Entwickelungen in der Regel nicht hinausgehen.
In der französischen Literatur sind manche hierher gehörige Geschwülste unter dem
Namen der „Tumeurs á cytoblastions” oder der Cytoblastome beschrieben worden; will man einen einfachen Terminus, so könnte man sie Granulome nennen”.
G. Dhom kommentiert dazu [7]: „Für Virchow zählen alle Proliferationsprozesse, also auch Tuberkel und Gumma zu
den Geschwülsten. Die 20. Vorlesung im 2. Band über Granulationsgeschwülste umfasst
schließlich allein 154 Seiten! Dass „die große Mehrzahl der Proliferationsgeschwülste”
aus dem Bindegewebe hervorgeht, diese Grundüberzeugung wird hier von Virchow noch
einmal betont” [7].
Wie schon Doerr bemerkte [8], ist aus heutiger Sicht die Tatsache erstaunlich, dass Virchow die entzündlichen
Granulationsgeschwülste zusammen mit den echten Geschwülsten abhandelte. Dabei betonte
er jedoch den zumeist transitorischen Charakter der ersteren gegenüber den „echten”
tumorösen Formen. In seiner unterteilten Zuordnung der Tuberkulose spiegelt sich seine
viel und langanhaltende Verwirrung stiftende, so genannte „dualistische Theorie” der
Tuberkulose wider:
Granulationsgeschwülste: Syphilis, Lupus, Rotz, Lepra
Lymphatische Geschwülste: leukämische, typhöse und einfache Lymphome, Knötchenform
der Tbc (!), Drüsenskrofulose (!)
Lymphosarkom: Perlsucht (bovine Tbc) (!)
Histologische Tuberkuloseforschung und Fortschritte in der Kenntnis epithelialer Granulome
Histologische Tuberkuloseforschung und Fortschritte in der Kenntnis epithelialer Granulome
1861 - 1872 beschrieb E. Wagner die Epitheloidzelle und die retikuläre Struktur des
Tuberkels. Er bezog sich bereits auf die frühen Schritte der Akzeptanz von Virchows
Granulom-Terminologie [23]
[24] (Abb. [6]).
1868 prägte Th. Langhans den Begriff „Riesenzelle” [12] (Abb. [7]).
1869 beschrieb K. Köster das Epitheloidzellgranulom in fungösen Gelenkentzündungen
(„tumor albus”) [10] (Abb. [8]).
1870 - 1873 v. Schüppel forderte drei obligate zellige Elemente als kennzeichnend
für Tuberkel [17].
Abb. 6 Lymphadenom der Lunge, Tafel II aus E. Wagner, Lit. 24.
Abb. 7 Riesenzellen aus der Arbeit von Th. Langhans, Lit. 12.
Abb. 8 aus K. Köster: Ueber fungöse Gelenkentzündung, Lit. 10.
Der historischen Exaktheit halber sei erwähnt, dass Rudolf Virchow bereits im Mai
1855 in dem Referat „Die Franzosenkrankheit (Perlsucht) des Rindviehs” Riesenzellen
beschrieben hat, ohne diese jedoch als solche zu benennen („... Kerne, deren Zahl
50 bis 60 erreichen kann ...”) [20].
Weitere Akzeptanz des Terminus „Granulom”
Weitere Akzeptanz des Terminus „Granulom”
1879 plädieren zwei niederländische Autoren für den Gebrauch des Begriffes Granulom
anstelle von Tuberkel. Es sind dies S. Talma, Kliniker und Pathologe aus Utrecht,
in seinen in deutscher Sprache veröffentlichten „Studien über Lungenschwindsucht”
[19], sowie im gleichen Jahr sein junger Mitarbeiter C. Winkler in seiner Dissertation
„Over Virus Tuberculosum” [25]. Dort schreibt er: „Virchow definiert als Tuberkel eine sehr kleine Geschwulst oder
ein Lymphosarkom, oder eine örtliche Zellformation in der Adventitia eines Blutgefäßes.”
(Abb. [9]).
Abb. 9 Frische, graue Tuberkeln aus einer akuten Miliartuberkulose der Pia mater. Handzeichnung
aus Ernst Haeckel's Atlas der Pathologischen Histologie bei Prof. Rudolf Virchow,
Würzburg, Winter 1855/1856 (mit freundlicher Erlaubnis des Ernst-Haeckel-Hauses, Jena).
Auch die oben genannten Autoren Wagner [23]
[24], Langhans [12], v. Schüppel [17] sowie L. von Buhl [5] bezeichnen nun einen Tuberkel als Granulom, wenn die folgenden Kriterien vorhanden
sind: „ein Reticulum, wo eingestreut größere und kleinere Zellen zu finden sind.”
Viele dieser Autoren messen der Existenz von Riesenzellen wegweisende Bedeutung zu.
C. Winkler sagt: „die Ansichten, ob solch ein Granulom als Geschwulst oder als ein
Entzündungsprodukt angerechnet werden soll, sind sehr unterschiedlich” [25]. In der deutschsprachigen Pathologie um 1890 galten die Begriffe fungöse Granulationen für wuchernde Wandgranulationen sowie für mehr geschwulstartige Produkte der Terminus
Granulationsgeschwülste oder Granulome als etabliert. Ziegler fügt 1889 hinzu, dass bei den Granulationsgeschwülsten noch
eine besondere Gruppe, die infektiösen Granulationsgeschwülste, unterschieden werden kann. Dazu gehören nach ihm 7 Krankheiten: Tuberkulose, Syphilis,
Lepra, Rotz, Aktinomykose, Mycosis fungoides sowie Rhinosklerom. Ziegler kommentiert
dazu ausführlich: „Die Vereinigung der oben genannten Affectionen unter dem Namen
Granulationsgeschwülste stammt von Virchow (vergl. Virchow, Die krankhaften Geschwülste,
II. Band), welcher zuerst ihre anatomischen Charaktere scharf kennzeichnete. Virchow
hob auch schon als charakteristisch hervor, dass die Entwickelung derselben gewöhnlich
nicht über das Stadium der Granulationsbildung hinauszugehen pflege, dass das Gewebe
einen transitorischen Charakter trage, dass Ulceration der regelmäßige Schluss seiner
Existenz sei. In Rücksicht auf den infectiösen Charakter hat Klebs (Prager Vierteljahresschriften
126. Band) für diese Bildungen den Namen Infectionsgeschwülste vorgeschlagen und Cohnheim
diese Bezeichnung adoptirt. Meines Erachtens genügt weder die eine, noch die andere
Benennung vollkommen. ...
Ich habe sie deshalb infectiöse Granulationsgeschwülste genannt, weil damit sowohl dem anatomischen Bau, als den klinischen Eigenthümlichkeiten
der betreffenden Processe Rechnung getragen wird.” [26].
Mit der fortschreitenden Akzeptanz des Granulombegriffes in Pathologie und Klinik
bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde gemäß ihrer damaligen Bedeutung als „Volksseuche”
Tuberkulose zu der Granulomkrankheit schlechthin (Abb. [10]).
Abb. 10 Postulierte unterschiedliche Granulomformen bei Tuberkulose, „Principaux Types de
Follicules Tuberculeux”, kolorierte Handzeichnung, Paris, La Salpêtrière, Bibliothèque
Charcot, um 1904, Autor unbekannt (mit freundlicher Erlaubnis der Bibliotheksleitung).
Um die Wende zum und im frühen 20. Jahrhundert wurde eine weitere durch epitheloidzellige
Granulome geprägte Erkrankung des Menschen bekannt, die Boeck-Besnier-Schaumann'sche
Krankheit, später Sarkoidose genannt. Die facettenreiche Geschichte dieser Erkrankung
soll in einer eigenen Arbeit dargestellt werden.
Der von Virchow vor über 140 Jahren geprägte Begriff des Granuloms ist weiter von
zentralem Interesse für das Verständnis derartiger Krankheitsbilder. Doch trotz aller
Fortschritte, z. B. der Immunologie und Molekularbiologie, sind wir - wie schon eingangs
erwähnt - auch heute noch weit davon entfernt, Wesen und Erscheinungsbild des Granuloms
vollständig erfassen zu können.