Für kaum eine Gruppe von Patienten fühlen wir Ärzte uns so wenig ausgebildet und so
inkompetent wie für Alkoholpatienten. Damit tragen wir ungewollt dazu bei, dass im
Schnitt zehn Jahre zwischen dem Beginn einer Abhängigkeit und der ersten Entwöhnungsbehandlung
vergehen. Vergleicht man diese Zahl mit der Latenz zwischen Diagnostik und erster
stationärer Intervention bei anderen potenziell zum Tode führenden Krankheiten, so
wird der Nachholbedarf an Kenntnissen und Erfahrungen noch deutlicher. Die Situation
lässt sich mit der Aussage einer Krankenschwester am besten beschreiben: „Bei Ärzten
und Pflegepersonal herrschen die Vorurteile, dass Suchtpatienten vorsätzlich und völlig
freiwillig ihr Leben zerstören und es somit eigentlich nicht mehr verdient haben,
im Krankenhaus versorgt zu werden. Schließlich müssten sie ja nur aufhören, ihre Suchtmittel
einzunehmen.” Dabei hat die neuere Forschung überzeugende Belege geliefert, wonach
die Minderung der Kontrolle über Beginn, Höhe und Beendigung des Alkoholkonsums wesentlich
für das Syndrom der Abhängigkeit ist und ein erfolgreicher Umgang damit in der Therapie
nicht vorausgesetzt werden kann. Mit anderen Worten „Sucht hat wenig mit Willen und
nichts mit Charakter zu tun” .
Die vorliegende Ausgabe von psychoneuro widmet sich den skizzierten Defiziten. In
den letzten Jahren wurden eine Reihe neuer Ansätze sowohl für die qualifizierte Behandlung
als auch für eine völlig neuartige medikamentöse Therapie von Alkoholabhängigen entwickelt.
Neben einem Beitrag zur Komorbidität sind sie Gegenstand der nachfolgend abgedruckten
Arbeiten.
So gibt es beispielsweise neue Daten, wonach die Weiterentwicklung der traditionellen
körperlichen Entgiftung zur sog. Qualifizierten Entzugsbehandlung deutlich mehr Patienten
schon primär zu einer längerfristigen Abstinenz verhilft und einer zusätzlich größeren
Anzahl von Patienten den Weg in die weiterführenden Entwöhnungsbehandlungen in spezialisierten
Fachkliniken ebnet. Den potenziell größten Fortschritt im Sinne der Erreichbarkeit
großer Gruppen von Patienten dürfen wir von der Einführung neuer sog. Anticraving-Substanzen
erwarten. Beispielsweise kann unter der Behandlung mit Acamprosat im Vergleich zur
Plazebo-Therapie von einer Verdoppelung der Chance zur Abstinenz ausgegangen werden.
Dies ist auch für den Arzt von Bedeutung, will er die körperliche Entgiftung seiner
Patienten in eine stabile Abstinenzphase überführen. Alle Maßnahmen sollten flankiert
werden von regelmäßigen Kontakten mit Suchtberatungsstellen und Selbsthilfegruppen.
Eine zunehmend größere Zahl niedergelassener Kolleginnen und Kollegen hat in den letzten
Jahren die Zusatzqualifikation „suchtmedizinische Grundversorgung” erworben und steht
somit als kompetenter Partner für die ambulante Weiterbetreuung zur Verfügung. Viele
der genannten Punkte sind mittlerweile Konsens zwischen Forschung, Versorgung und
Suchtpolitik. Beispielhaft hierfür seien die „Berliner Eckpunkte zur Verbesserung
der Therapie bei Alkoholproblemen” aufgeführt:
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Alkohol und Nikotin verursachen 25 % aller Behinderungen und Todesfälle.
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Die derzeitige (Rehabilitations-)Behandlung ist gut, sie erreicht aber zu wenige Betroffene
und setzt insgesamt zu spät ein.
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Früherkennung und Frühintervention sind neue niedrigschwellige Ansätze in der Frühphase
einer Abhängigkeitsentwicklung. Sie erfordern eine Zusatzqualifikation bei Ärzten,
Psychologen und Suchtberatern.
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Die Aus- und Weiterbildung der Ärzte in Suchtmedizin muss verbessert werden.
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Die „suchtmedizinische Grundversorgung” stellt einen ersten Ansatz im Bereich der
ärztlichen Fortbildung dar.
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Der „qualifizierte Entzug” ist eine medizinische Sofortintervention, die über somatische
und psychologische Zugänge Veränderungsbereitschaft und Abstinenzmotivation induziert.
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Als Sofortintervention ist der qualifizierte Entzug eine Kassenleistung, dessen Art
und Umfang ärztlich begründet ist.
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Jedes fünfte Krankenhausbett ist de facto ein Suchtbett, deshalb muss die qualifizierte
Beratung im Krankenhaus Standard werden.
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Der Ausbau ambulanter und teilstationärer wohnortnaher Hilfsangebote ist erforderlich.
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„Anticraving-Medikamente” verdoppeln die Abstinenzrate und erhöhen die Haltequote
in der ambulanten Betreuung von Alkoholabhängigen.
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Die Selbsthilfe ist so zu qualifizieren, dass sie durch spezielle Angebote auch für
jüngere attraktiv ist, denn sie trägt bei zum dauerhaften und rechtzeitigen Erfolg.