Übersicht:
Die weibliche Genitalhypoplasie tauchte vor dem Ersten Weltkrieg in der gynäkologischen
Literatur als vielgestaltiges Syndrom der Unterentwicklung auf, spielte im Nationalsozialismus
eine bedeutsame Rolle in der Gynäkologie und verschwand in der Nachkriegszeit wieder
nahezu vollständig. Die „Karriere” dieses Syndroms wird in der vorliegenden Arbeit
mit der Theorie der sozialen Konstruktion erklärt. Im Wesentlichen werden vier Faktoren
für die Etablierung der Genitalhypoplasie verantwortlich gemacht: (1) Die Konfrontation
der männlichen Angehörigen einer medizinischen Profession mit einem veränderten Berufs-
und Sexualverhalten von Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das als bedrohlich
und faszinierend zugleich empfunden wurde, führte zur somatischen und psychischen
Stigmatisierung dieser Frauen. (2) Befürchtungen angesichts des unerklärlichen Geburtenrückgangs
wurden auf die „minderwertigen” Sexualorgane der Frauen projiziert. Die Diskussion
über die Ursachen des Syndroms stand im Zeichen rassenhygienischer und politischer
Motivationen. (3) Das Konzept der Genitalhypoplasie ermöglichte die Ausweitung der
operativen Disziplin Frauenheilkunde auf psychosomatische und eugenische Gebiete.
Im Binnenraum diente die Genitalhypoplasie der Verwissenschaftlichung besonders der
Geburtshilfe und avancierte im Nationalsozialismus zum Schlüsselbegriff für die gesamte
gynäkologische Forschung. (4) Die Therapie mit Sexualhormonen konnte sich nur in Verbindung
mit der Genitalhypoplasie durchsetzen. Der sukzessive Wegfall der konstituierenden
Faktoren führte seit den 1960er Jahren zum weitgehenden Verschwinden des Syndroms.
Schlüsselwörter:
Eugenik - Genitalhypoplasie - Geschichte der Gynäkologie - Konstitutionsforschung
- Nationalsozialismus - Eugenik
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Dr. R Bröer
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg · Institut für Geschichte der Medizin
Im Neuenheimer Feld 327
69120 Heidelberg
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