Wer mit wachen Sinnen eine Wallfahrtskirche betritt, wird die Devotionalien in Form
von Teilen des menschlichen Körpers gewiss nicht übersehen. Vor allem Augen und Ohren,
Arme, Beine oder Herzen schmücken, aus Holz und Wachs, Kunststoff oder dünnem Blech
geformt, die Altäre und Bilder wundertätiger Heiliger.
Körperteile nachzubilden und denjenigen höheren Wesen zu weihen, denen besondere Kräfte
und Fähigkeiten gegen Not und Krankheit zugeschrieben werden, ist ein uralter Brauch.
Schon in prähistorischer Zeit unterstreicht der Besucher eines Heiligtums seine Bitte
um Linderung in Schmerz und Leid durch die Dedikation anatomischer Votive. So begegnen
uns im Museum von Iraklion auf Kreta Gliedmaßen und andere Teile des menschlichen
Körpers aus Terrakotta, die nachweislich bereits im 2. Jahrtausend vor Christus geweiht
worden sind[1]. Etwas später formte man sie auch aus edlem Metall oder aus Marmor[2] und stellte somit das verbal vorgetragene Flehen bzw. den Dank für erfahrene Hilfe
auf eine anspruchsvolle, greifbare Basis.
Manchem Körperteil kommen darüber hinaus noch andere Funktionen zu. Ein Fuß z. B.
dokumentiert die Anwesenheit des Adoranten im Heiligtum; er vertritt gleichsam den
Weihenden selbst. Ähnliches gilt für die häufigen Nachbildungen der Hand, die auch
unter dem Aspekt der Beschwörung und des Bannens zu sehen sind. Man denke an die Fluchtafeln
mit den stets gegen den Betrachter geöffneten Händen, die geeignet waren, den Zorn
der Götter auf einen Übeltäter herab zu rufen[3]. In ähnlichem Sinne ,doppelt‘ sind auch die Augendarstellungen zu sehen: einerseits
als leidensfähiges Organ, andererseits als magischer Gegenstand. Ohrvotive dagegen
appellieren immer auch an die Gottheit als an die „gnädig Erhörende”[4]; das häufig auf Weihinschriften erscheinende Beiwort „epekoos” = erhörend macht
dies deutlich.
Nun stellte man in der Antike aber auch solche Körperteile dar, die dem frommen Pilger
in Alt-Ötting nicht begegnen. Beim Betrachten eines Terrakottatäfelchens aus dem Asklepieion
von Korinth erkennen wir in dem plastisch angegebenen Ohrenpaar ebenfalls einen Appell
an den gnädig hörenden Gott. Nur nehmen diese Ohren hier ein männliches Geschlechtsorgan
in die Mitte[5]. Dass ein solches Weihtäfelchen als Sinnbild dreier von einer Krankheit befallener
Körperteile zu deuten wäre, ist wohl auszuschließen. Vielmehr dürfte sich der Adorant
mit seinen Sorgen um die Funktionsfähigkeit des zentralen Organs an den Gott gewandt
haben, und zwar, wie die flankierenden Ohren zeigen, an den „gnädig Erhörenden”.
Abb. 1
Abb. 2
Antike Genitalvotive (männliche und weibliche) sind rings um das Mittelmeer gefunden
worden, in Heiligtümern, aber vor allem auch in Votivdepots, wo man die Weihgaben
rituell niederlegte, um Platz für neue zu schaffen und die alten einem etwaigen profanen
Gebrauch zu entziehen. Wie das hier abgebildete männliche Geschlechtsorgan aus Veji,
Südetrurien[6], waren die Adressaten meist Vegetationsgottheiten in ländlichen Heiligtümern, die
unter verschiedenen Aspekten verehrt wurden. Die Bedeutung solcher Votive ging denn
vermutlich auch weit über nahe liegende Aspekte wie die Sorge um Potentia coeundi
und andere organspezifische Störungen hinaus. Wir werden hinter diesen Weihungen den
Wunsch nach Fruchtbarkeit und Wachstum ganz allgemein sehen dürfen. Sie gelten der
Fortpflanzung im weitesten Sinne, dem Schutz und Gedeihen der Nachkommenschaft des
Menschen, aber auch der Tier- und Pflanzenwelt, die ihn ernähren.
Unser etruskisch-italisches Votiv zeigt einen halb erigierten, vom Präputium vollständig
bedeckten Penis. Einige gelockte Strähnen bezeichnen das Schamhaar. Die Hoden sind
sorgfältig modelliert; der linke steht etwas tiefer und ist leicht zurückgesetzt.
Rechts sind die Skrotalfalten mit einem flachen Instrument nachgearbeitet.
Die Vorhaut ragt „rüsselartig vor”; „an diesem vorderen Abschnitt ganz leichte zirkuläre
Furchen” sind von Stieda als Abdruck der Kynodesme, eines das Präputium abschnürenden
Bandes, interpretiert worden [7]. Die phimosenartig bedeckte Eichel hatte auch an eine Darstellung der pathologischen
Vorhautverengung denken lassen[8]. Nun sind aber Weihungen krankhaft veränderter Körperteile extrem selten. Wahrscheinlich
also folgten die Etrusker dem Schönheitsideal der Hellenen [9]. Zahlreiche Darstellungen auf Vasen zeigen, dass sich der nackt in der Palaistra
übende griechische Sportler (gymnos) der Infibulation [10] bediente und die Glans penis mit dem vorgezogenen Präputium „verhüllte”. Dieser
Sitte entsprechend sind auch die Genitalvotive der Griechen und Etrusker gebildet,
während man auf Zypern und in römischer Zeit die Wiedergabe des membrum virile in
vollständig erigierter Form und mit „entblößter” Eichel bevorzugt [11].