Die Medien, unsere Patienten, wir selbst: Zahlreiche Diskussionen um die Folgen der
Agenda 2010, des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) oder des Arbeitslosengelds II werden
geführt. Der Umbau des Sozialstaates betrifft in ganz erheblichem Maße psychisch kranke
und seelisch behinderte Menschen. Handelt es sich um Umbau oder Abbau? Wir wollen
die Perspektive des Umbaus wählen, da sie Gestaltungsmöglichkeiten impliziert. Nach
welchen Konzepten wird auf der kommunalen Ebene umgebaut, geregelt und geplant? Die
beiden Autoren leiten bzw. leiteten entsprechende Fachabteilungen der Gesundheitsämter
zweier Großstädte (Frankfurt/Main, Halle/Saale), die mit solchen Fragen befasst sind
- und haben nicht immer ohne weiteres Antworten auf diese Frage gefunden.
Aus den bestehenden Empfehlungen und rechtlichen Rahmenbedingungen lassen sich allgemeine
Prinzipien ableiten, die aber recht abstrakt bleiben und wenig konkrete Gestaltungshinweise
beinhalten. Auch ist es so, dass einige dieser Prinzipien so weit von der bestehenden
Realität entfernt sind, dass ihre Relevanz für konkrete Planungsprozesse gering ausfällt:
Natürlich soll unsere Planung und Steuerung gemeindenah und bedarfsgerecht sein. Sie
soll die Prinzipien „ambulant vor stationär”, die Gleichstellung psychisch Kranker
mit somatischen Kranken, die Prinzipien der personenbezogenen Hilfen, das Normalisierungsprinzip
und das „Empowerment” berücksichtigen. Schwendy [1] beklagte zu Recht anlässlich des 25-jährigen Jubiläums zur Psychiatrie-Enquete das
„Versäumnis des Aufbaus einer stringenten Steuerung auf örtlicher Ebene”. Einige neuere
deutschsprachige Publikationen [2] befassen sich deshalb mit der Frage, wie Steuerung auf der Ebene der Gemeinde zu
realisieren ist. Angesichts der Zersplitterung der Finanzierung der Hilfen für psychisch
kranke und behinderte Menschen und angesichts der vielfältigen Gesetze, Verordnungen
und Vorschriften, die diese regeln, liegt der Schwerpunkt der Diskussion hier bei
den konkreten sozialrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten und wird notwendigerweise
in einer Sprache geführt, die überwiegend der Sphäre sozial- und verwaltungsrechtlicher
Regelungen (und nicht der medizinischen Wissenschaft) zugehört. Zugleich wird in den
letzten Jahren mit Interesse die Entwicklung in englischsprachigen Ländern [3] und Italien [4] beobachtet, wo angesichts anderer Finanzierungs- und Gesundheitssysteme interessante
Formen der gemeindepsychiatrischen Versorgung entwickelt wurden. So hat das englische
Gesundheitsministerium Rahmenempfehlungen der psychiatrischen Versorgung veröffentlicht,
an denen sich dortige Planungsprozesse orientierten sollen [5].
Die Inhalte solcher Empfehlungen erscheinen auf den ersten Blick einleuchtend. Letztlich
ist aber nicht belegt, dass ihre Umsetzung tatsächlich die Qualität der psychiatrischen
Versorgung verbessert. Zwar besteht in der „alltäglichen sozialpsychiatrischen Praxis”
in vielen Bereichen Übereinstimmung, was in der Versorgung als wünschenswert angesehen
wird, jedoch finden sich - teilweise erstaunliche - Diskrepanzen zu dem, was sich
als effektiv und effizient erwiesen hat - es sei hier beispielsweise auf Cochrane
Reviews gemäß den Prinzipien der evidenz-basierten Medizin verwiesen, die - nicht
unumstritten - bestimmten psychosozialen Interventionen keine oder geringe Effizienz
zuerkannt haben (z. B. [6]). In der kommunalen Planung spielen nicht nur medizinisch-therapeutische Fragen
eine Rolle, sondern haben auch ordnungspolitische, sicherheitsrelevante, öffentlichkeitswirksame
und haushaltstechnische Fragen eine mindestens gleichrangige Bedeutung. Nachfolgend
sollen drei Aspekte skizziert werden, die die Diskrepanzen zwischen den administrativen
Planungsprozessen der kommunalen Psychiatrie und den wissenschaftlichen Erkenntnissen
berühren:
-
Ergebnisqualität als Zielparameter der Planung,
-
inhaltliche und sprachliche Differenzen zwischen Verwaltung und Wissenschaft sowie
-
die Frage der Zielgruppe.
Ergebnisqualität als Zielparameter der Planung
Ergebnisqualität als Zielparameter der Planung
Die Unterscheidung in Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität gehört mittlerweile
zum Allgemeinschatz gemeindepsychiatrischer Diskussionen. Qualitätssicherung ist auch
in der Sozialpsychiatrie in Mode gekommen. Dabei soll nicht so getan werden, als ob
sozialpsychiatrisches Arbeiten früher solche Aspekte nicht berücksichtigt hätte. Konzepte
und Instrumente wie etwa der „PDCA-Zyklus” (plan-do-check-act) sind überzeugend, weil
sie dem entsprechen, was seit Jahren erfolgreich praktiziert wurde. Sie eröffnen neue
Perspektiven in der Gemeindepsychiatrie: Tansella u. Thornicroft [7] haben eine gemeindepsychiatrische Matrix formuliert, die durch zwei Dimensionen
(Zeit, Ort) umrissen wird, die wiederum in jeweils drei Kategorien untergliedert sind
(Ort: Land, Gemeinde, Person; Zeit: Input, Prozess, Ergebnis). Mit dieser Matrix lassen
sich verschiedene Aspekte der gemeindepsychiatrischen Versorgung konzeptionell einordnen.
Für die Planung in der Gemeindepsychiatrie ist es mittlerweile gut möglich, die Strukturqualität zu erfassen. So liegt mit der deutschsprachigen Version des European Service Mapping
Schedule (ESMS) ein Instrument vor, das es vermag, ein regionales psychiatrisches
Versorgungssystem hinsichtlich verschiedener Hilfen (z. B. medizinische Versorgung,
Rehabilitation, Arbeit oder Wohnen) abzubilden. Das ESMS wurde und wird beispielsweise
in Sachsen-Anhalt landesweit eingesetzt [8]. Auch wenn die Erfassung der Versorgungsstrukturen nicht der einzige Aspekt der
Strukturqualität ist, so kann doch festgestellt werden, dass deren Erfassung und Kontrolle
möglich und realisierbar ist. Die Erfassung und Planung der Strukturqualität ist also
für die gemeindepsychiatrische Versorgungsplanung im Prinzip gut umsetzbar.
Die Sicherung der Prozessqualität ist angesichts der bereits beklagten Zersplitterung der Anbieter und Leistungsträger
gemeindepsychiatrischer Hilfen in Deutschland schwieriger zu bewerkstelligen. Das
frühere Bundesgesundheitsministerium und die Aktion Psychisch Kranke haben Dokumente
und Hilfen erarbeitet, die darauf hin abzielen [9], mittels eines personenzentrierten Ansatzes Hilfen koordiniert an den Bedürfnissen
der Betroffenen zu orientieren, statt sie von den Interessen der versorgenden Institutionen
bestimmen zu lassen. Dass dieser Ansatz auch tatsächlich umsetzbar ist, zeigen erste
Auswertungen eines Implementationsprojektes, beispielsweise in der Region Gera in
Thüringen [10]. Parallel dazu wurde in der Stadt Frankfurt/Main unter Federführung der Abteilung
Psychiatrie des Stadtgesundheitsamtes eine Vereinbarung zur außerstationären gemeindepsychiatrischen
Pflichtversorgung erarbeitet, die verbindliche Versorgungsstrukturen außerhalb der
Kliniken regelt [11]. Durch solche Vorgehensweisen werden die Zuständigkeit der Helfer und die Form der
Hilfen festgelegt. Entsprechende Ansätze befinden sich zwar noch weit gehend im Stadium
der Erprobung in ausgewählten Regionen, dennoch existieren damit auch in Deutschland
durchaus Konzepte der gemeindepsychiatrischen Versorgung, die den Bereich der Prozessqualität
befriedigend berücksichtigen und damit der Planung auch diesen Bereich eröffnet.
Über Ergebnisqualität wird dagegen im Kontext der Versorgung wenig diskutiert. In kaum einer Planung gemeindepsychiatrischer
Versorgung spielen entsprechende Indikatoren eine bedeutsame Rolle. Auch in der sozialpsychiatrischen
Forschung in deutschsprachigen Ländern kommt der Ergebnisqualität nur eine marginale
Rolle zu [12]
[13]. Dabei gibt es stringente Überlegungen wie evidenzbasierte Psychiatrieplanung und
Versorgungsforschung aussehen sollte [14]. Cooper verweist darauf, dass das Bewertungssystem der evidenzbasierten Medizin
[15] - etwas modifiziert - durchaus für Fragen der psychiatrischen Versorgungsforschung
übernommen werden kann, dass aber bislang nur für wenige Bereiche ausreichende „Evidenz”
gemäß dieser Konzeption vorliegt, da randomisierte oder zumindest kontrollierte Interventionsstudien
rar sind. Unzweifelhaft muss aber in der Versorgungsforschung und Versorgungsplanung
der Fokus sehr viel stärker auf die Ergebnisqualität hin gerichtet werden. Wie eingangs
dargestellt, wissen wir wenig über die Wirksamkeit, Effektivität und Effizienz vieler
Hilfen, die heute wie selbstverständlich in der Gemeindepsychiatrie vorgehalten werden
oder als anstrebenswert angesehen werden. Es ist oft erstaunlich wenig dazu bekannt,
ob geplanten oder zu planende Hilfen tatsächlich in angemessener Weise der Gesundheit
und dem Wohlbefinden der Betroffenen zugute kommen. Es müssen darüber hinaus einzelne
Angebote und Konzepte der Versorgung schrittweise mittels der oben genannten Methoden
der evidenzbasierten Medizin evaluiert werden, auch wenn dies bedeutet, dass manches
angestammte Vorgehen und manche etablierte Hilfeform sich als nicht sinnvoll erweisen
könnte. In der Versorgungswirklichkeit und Versorgungsplanung würde das ein fundamentales
Umdenken bedeuten, da Indikatoren der Ergebnisqualität dort bislang kaum Berücksichtigung
finden. Kontrollierte Studien (gar mit randomisiertem Design) erscheinen bislang -
auch angesichts der Gesundheits- und Sozialgesetzgebung - nur mit großen Schwierigkeiten
durchführbar.
Inhaltliche und sprachliche Differenzen zwischen Verwaltung und Wissenschaft
Inhaltliche und sprachliche Differenzen zwischen Verwaltung und Wissenschaft
Eine Schwierigkeit, Prozesse der Psychiatrieplanung wissenschaftlich zu begründen
und zu begleiten, wird unseres Erachtens zu wenig thematisiert: Es gibt fundamentale
Unterschiede zwischen den Arbeitskulturen und -strukturen von Verwaltung und Wissenschaft.
Sprache, Ziele, Methoden und Werte stehen sich - teilweise diametral - gegenüber.
Verwaltungen ist an der Bearbeitung anwendungsorientierter Fragen der Evaluation und
Gestaltung bestehender Systeme im Rahmen der gegebenen rechtlichen Vorschriften gelegen.
Planungshorizonte sind kurz. Ziel ist nicht Erkenntnis, sondern Implementation. Klassische
wissenschaftliche Projekte orientieren sich dagegen in der Regel sehr viel mehr am
Konzept des „Versuches” oder „Experimentes”; gerade die oben dargestellte Notwendigkeit,
evidenzbasierte Erkenntnisse zu gewinnen, machen diese Zielsetzung langfristig noch
bedeutsamer. Hier liegen Interessenkonflikte, die zu wenig beachtet werden. Das Gefühl,
dass in Beratungen zur Psychiatrieplanung Politiker, Verwaltungsmitarbeiter, Wissenschaftler
und in der Versorgung Tätige (eventuell auch Betroffene und Angehörige) jeweils anderes
meinen, wenn sie förmlich vom selben sprechen, ist solchen zwangsläufigen Unterschieden
geschuldet und erschwert die praktische Arbeit. Nicht ohne Grund steht die praktische,
versorgungsorientierte Sozialpsychiatrie im Ruf, auf stundenlangen Beratungen und
Arbeitskreisen zu basieren, die nur mühsam zu Ergebnissen führen. Die bestehenden
Rechtsvorschriften und kleinteiligen Finanzierungswege geben dabei ein System vor,
dass in seiner Entstehungsgeschichte offenkundig kaum von wissenschaftlichen Erkenntnissen
der evidenzbasierten Versorgungsforschung geprägt ist.
Die Frage der Zielgruppe
Die Frage der Zielgruppe
Bislang hat sich die Psychiatrieplanung in deutschsprachigen Ländern vornehmlich den
chronisch psychisch kranken Menschen gewidmet, die an schizophrenen, affektiven oder
organischen Psychosen leiden, an schweren Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen,
an anderen rezdivierenden oder anhaltenden psychischen Störungen, die zur Behinderung
gemäß §§ 39/40 BSHG führen. Rössler hat dagegen kürzlich angefragt, „ob die Öffentlichkeit
und die politischen Entscheidungsträger langfristig nicht doch eher einer breit angelegten
psychiatrischen Basisversorgung für die Gesamtbevölkerung Vorrang einräumen gegenüber
dem Ausbau der Spezialversorgung besonders benachteiligter Gruppen z. B. chronisch
psychisch Kranker” [16]. Damit tut sich ein Konflikt auf, der für die kommunale Psychiatrieplanung von größter
Relevanz ist. Soll sich das Versorgungssystem weiterhin auf die Belange chronisch
psychisch kranker Menschen hin orientieren? Soll es besonders die Belange bestimmter
spezieller benachteiligter Personengruppen berücksichtigen (im oben genannten Sinne
einer Spezialversorgung) - etwa psychisch kranker Wohnungsloser, von Menschen mit
komplexem Hilfebedarf oder Migranten? Oder soll stattdessen der Fokus zukünftig auf
eine „ausreichende und zweckmäßige” psychiatrisch-psychotherapeutische Basisversorgung
der „breiten Bevölkerung” hin ausgerichtet sein? Natürlich wird man zunächst vorschlagen,
möglichst beides umzusetzen. Die Gesundheitsökonomie weist uns aber darauf hin, dass
Aspekte der „Rationierung” dem entgegenstehen [17]. Ob in der kommunalen Planung der psychiatrischen Versorgung also eine Maximierung
des psychischen Gesundheitsergebnisses der Bevölkerung (im Sinne des „Utilarismus”,
auf den Rössler sich beruft) primäres Ziel sein soll, oder ob stattdessen Fragen der
sozialen Gerechtigkeit von größerer Bedeutung sind, ist eine Frage, die grundsätzlich
ethisch und politisch zu beantworten ist. Führende britische Sozialpsychiater haben
sich kürzlich dahin gehend geäußert [18], dass sie den Bereichen „soziale Qualität” und „soziale Teilhabe” ganz besonderen
Wert beimessen. Sie formulierten, dass soziale Qualität nur dann erfolgreich erreicht
wird, wenn neben den formalen gleichen sozialen, politischen und juristischen Bürgerrechten
von Menschen mit psychischen Erkrankungen (sie nennen das griechisch „DEMOS”), auch
deren aktive Teilhabe an der Gesellschaft (im Sinne von Einfluss, Integration und
Bedürfnisbefriedigung) gewährleistet ist. Dieser zweite Bereich, den Huxley und Thornicroft
„ETHNOS” bezeichnen, wird wesentlich durch Berufstätigkeit und Einkommen bzw. Vermögensverhältnisse
mitbestimmt. Die Verwirklichung beider Aspekte (DEMOS und ETHNOS) kann aber unseres
Erachtens ein utilaritisches psychiatrisches Versorgungssystem, das die Belange besonders
benachteiligter Menschen als sekundär ansieht, nicht erreichen. Die Psychiatrieplanung
wird sich zukünftig zunehmend mit solchen Konflikten auseinandersetzen müssen. Für
die Fragen wissenschaftlicher Fundierung bedeutet dies, Aspekte der Gesundheitsökonomie
und Ethik in Planungsprozesse einzuführen, zu erfassen und zu analysieren. Natürlich
werden dann damit auch zunehmend Fragen der Kosten-Nutzen-Relation bestimmter Versorgungssysteme
zu stellen sein, was letztlich zum Problem der Effektivität und Effizienz und damit
der Ergebnisqualität zurückführt.
Fazit
Fazit
Unsere Ausführungen sind keine systematische Bearbeitung des Themas. Sie sind subjektiv
und - auch - aus der persönlichen Verwaltungserfahrung erwachsen. Unsere Einschätzung
ist, dass die Frage, ob Planung und Steuerung der psychiatrischen Versorgung in Deutschland
wissenschaftlich fundiert sein kann, mit einem vorsichtigen „Ja, unter Umständen”
zu beantworten ist. Wenn die unterschiedlichen Sprachstile, Arbeitsweisen und Ziele
berücksichtigt werden, die „Verwaltung” und „Wissenschaft” sehr viel stärker trennen,
als das gemeinhin bedacht wird, wenn geklärt ist, unter welchen ethischen, ökonomischen
und politischen Prämissen geplant wird (vgl. z. B. die Diskussion Utilitarismus versus
Gerechtigkeit) und wenn die Ergebnisqualität und die Prinzipien evidenzbasierter Medizin
breite Berücksichtigung finden, dann kann eine Versorgungsplanung erfolgen, die nicht
nur den Anspruch „wissenschaftlicher Fundierung” besser erfüllen könnte, sondern die
dann - das ist unsere Überzeugung - den Betroffenen, ihren Angehörigen, den Helfern
und der Öffentlichkeit besser dient.