Nach ICD-10 F42 wird eine Zwangsstörung definiert als wiederkehrende Zwangsgedanken
oder -handlungen für die Dauer von mindestens zwei Wochen an den meisten Tagen. Unter
Zwangsgedanken sind sich aufdrängende Ideen, Vorstellungen oder Impulse zu verstehen,
unter Zwangshandlungen sich ständig wiederholende Stereotypien bzw. Rituale. Sowohl
Zwangsgedanken als auch -handlungen werden vom Betreffenden als unsinnig und oft abstoßend
(ich-dyston) empfunden; Widerstand oder Vermeidung führen jedoch zu Ängsten, ein bestimmtes
Unheil auszulösen. Für die Diagnose müssen die in [Tabelle 1] gezeigten Diffferentialdiagnosen ausgeschlossen sein.
Klinik
Klinik
Zwangsgedanken beziehen sich inhaltlich oft auf Verschmutzung, Bakterien, Infektionen,
Symmetrie, Genauigkeit, das Sammeln von Gegenständen, Sorgen im Hinblick auf Unfälle,
Tod oder Krankheit oder tabuisierte Vorstellungen, die sich unwillkürlich dem Bewusstsein
aufdrängen. Zwangsgedanken werden nicht als von außen kommend oder durch andere eingegeben
erlebt, sondern als eigene Gedanken wahrgenommen. Die Befürchtungen können abergläubischen
oder magischen Inhalt haben. Manche Betroffene entwickeln ein für Außenstehende geradezu
groteskes Gebäude von miteinander verwobenen, bizarren Zwangsphänomenen.
Zwangshandlungen unterstehen eigentlich der willentlichen Kontrolle; ihre Nichtausführung
ist dem Betroffenen jedoch aus unterschiedlichen Gründen in der Regel nur schwer möglich.
Typische Zwangshandlungen sind Wasch- und Reinigungsrituale oder exzessives Kontrollieren.
Auch einfache motorische Abläufe wie das Einhalten einer bestimmten Ordnung, Wiederholungsrituale,
Sammel-, Berührungszwänge oder Zählen sind häufige Symptome. Es gibt Hinweise darauf,
dass Zwangshandlungen häufig ausgeführt werden, um vorausgehende Zwangsgedanken zu
neutralisieren. Allerdings verliert sich dieser Neutralisationseffekt zunehmend im
chronifizierten Stadium. Die Handlungen laufen dann ritualisierter, stereotyper und
ohne vorausgehende Zwangsgedanken ab, verselbstständigen sich und steigen in der Frequenz.
Genetik
Genetik
Zwillingsstudien weisen auf erhöhte Konkordanzraten von Zwangsstörungen bei eineiigen
Zwillingen hin. Das Risiko für Verwandte 1. Grades, ebenfalls an einer Zwangsstörung
zu erkranken, wird uneinheitlich bewertet [7]. Vermutlich wird vorrangig eine Vulnerabilität i.S. einer anankastischen bzw. neurotischen
Persönlichkeitsstruktur vererbt. Eine wichtige Rolle spielen auch Umweltfaktoren.
Molekulargenetische Untersuchungen entdeckten Variationen des MAO-A-Gens, des Katechol-O-Methyltransferase-(COMT)
Gens und des 5-HT2A Promotor-Gens [1]
[4]
[12]
Serotonin-Hypothese
Serotonin-Hypothese
Auf eine Schlüsselrolle des Serotonin in der Pathologie der Zwangsstörung schloss
man aus der positiven Wirkung von Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI und Clomipramin)
auf die Zwangssymptomatik. Dennoch ist ein eindeutig kausaler Zusammenhang zwischen
Serotonin-Mangel und Zwangserkrankungen anzuzweifeln, da eine verminderte zerebrale
Verfügbarkeit des für die Serotonin-Synthese erforderlichen Bausteins Tryptophan zwar
kausal depressive, jedoch keine Zwangs-Symptome auslöst [3]. Zudem konnte bei Zwangskranken, anders als bei Depressiven, keine Erniedrigung
der Liquorkonzentration des Serotonin-Metaboliten 5-Hydroxyindolessigsäure gefunden
werden (dto). Weitere Gründe, die gegen eine kausale Serotonin-Hypothese bei Zwang
sprechen, ist die im Vergleich zu reinen, potenten SSRI relativ bessere Wirksamkeit
im Erwachsenenbereich des weniger selektiven Clomipramin auf Zwangssymptome [5] sowie die fehlende Wirkung der Serotonin-Agonisten MK-212, Ipsapiron und i.v.-Gabe
von L-Tryptophan auf Zwangssymptome [8]. In Zusammenschau der bisherigen Befunde ist vielmehr die Hypothese einer zentralnervösen
Netzwerkstörung (s. u.) zu favorisieren, innerhalb derer Serotonin modulatorische
Funktionen einnimmt.
Neuroanatomische Korrelate
Neuroanatomische Korrelate
Das gängige Erklärungsmodell zur Pathogenese der Zwangsstörung [9] geht von zwei zerebralen Regelkreisen aus, siehe [Abbildung 1].
Die aufgezeigten Regelkreise steuern die Wahrnehmung biologischer Stimuli und deren
adäquate emotionale Bewertung i. S. einer entsprechenden Reaktion auf der Verhaltensebene.
Voraussetzung ist die Balance zwischen direktem und indirektem Regelkreis. Überwiegt
die Enthemmung, kommt es zu Fehlbewertungen äußerer Reize (z.B. inadäquate Ängste
und Befürchtungen) mit pathologisch stereotypen Handlungsmustern (Zwang).
Caudatum und Pallidum üben in den o.g. Schaltkreisen eine modulatorische Funktion
aus. Da Zwangserkrankungen mit Defekten dieser Basalganglien-Strukturen einhergehen
[9], ist die Folge eine gesteigerte thalamokortikale Erregbarkeit. Die resultierende
frontoorbitale Überaktivität bestätigte sich in funktionellen bildgebenden Verfahren
durch erhöhte Perfusionsraten und Glukoseutilisation v.a. frontoorbital, aber auch
in Caudatum, Striatum und Thalamus (dto). Nach erfolgreicher Therapie normalisieren
sich die Befunde [10].
Beteiligte Neurotransmitter
Beteiligte Neurotransmitter
Die o.g. Regelkreise sind abhängig von verschiedenen Neurotransmittern. Glutamat und
(abhängig von Wirkort und quantitativer Rezeptorbindung) Dopamin wirken exzitatorisch;
GABA, Dopamin-Rezeptor-Antagonisten (Neuroleptika) und Serotonin (via Glutamat-Hemmung)
inhibitorisch. SSRI stellen daher einen protektiven Faktor bzgl. Überstimulation dar.
Neuroleptika erweisen besonders bei Patienten mit komorbiden Bewegungsstörungen (Tics
etc.) und schizophreniformen Symptomen eine gute Wirksamkeit auch auf die Zwänge.
Verschiedene Studien zeigten außerdem erhöhte Liquorkonzentrationen von an der Stressantwort
beteiligten Neuropeptiden (Corticotropin releasing hormone, Somatostatin, Oxytozin).
PANDAS (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcus)
PANDAS (pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcus)
Beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A können autoimmunologische Prozesse
in Gang setzen, die in bestimmte Zwangs- oder Tic-Phänomene münden [2]. Entsprechende immunmodulatorische Behandlungsansätze befinden sich noch in Erprobung.
Neuropsychologische Auffälligkeiten
Neuropsychologische Auffälligkeiten
Die Gedächtnisfähigkeit zeigt sich bei Zwangserkrankten abgeschwächt [11], wodurch Iterationen auf der Handlungsebene bedingt werden, die ihrerseits durch
die Automatisierung die Gedächtnisflexibilität herabzusetzen scheinen. Des Weiteren
ist von einer Beeinträchtigung insbesondere der gustatorischen und taktilen Wahrnehmungsfähigkeit
auszugehen, wodurch Fehlinterpretationen äußerer Reize und entsprechend inadäquate
Handlungen folgen [17].
Therapie
Therapie
Aus Verlaufsuntersuchungen über Zwangsstörungen mit Beginn im Kindes- und Jugendalter
[6]
[15] ist bekannt, dass der Therapie eine große Bedeutung zukommt. Bei Zwangshandlungen
und Zwangsgedanken hat sich die Kombination aus verhaltenstherapeutischen und pharmakologischen
Behandlungsstrategien als besonders wirksam erwiesen. Bei zu Grunde liegender Streptokokkeninfektion
kann der Versuch einer Penizillin-Behandlung erfolgen. Sollten mehrere Versuche mit
ausreichend hoch dosierten und jeweils über sechs bis zehn Wochen beibehaltenen Antidepressiva
verschiedener Klassen gescheitert sein, kann vorsichtig eine Kombinationstherapie
oder eine intravenöse Behandlung mit Clomipramin erwogen werden.
Verhaltenstherapie
Verhaltenstherapie
Die wichtigsten verhaltenstherapeutischen Methoden sind Exposition und Reaktionsverhinderung.
Der therapeutische Prozess soll dem Patienten eine Distanzierungsfähigkeit ermöglichen,
um Reizsituationen besser als solche zu erkennen und rechtzeitig eine entsprechende
Verhaltensmodifikation vornehmen zu können. Die verhaltenstherapeutische Behandlung
erfordert ein hohes Maß an Eigeninitiative und Kooperationsbereitschaft von Seiten
des Patienten.
Bei besonders ausgeprägter Symptomatik und mangelnder Therapie-Motivation besteht
die Indikation für eine medikamentöse Unterstützung. Oft erschließt sich erst dann
der Zugang für ein verhaltenstherapeutisches Arbeitsbündnis. Besonders wichtig ist
die Einbeziehung der Familie, um krankheitsaufrechterhaltende Interaktionsmuster zu
durchbrechen [13].
Pharmakotherapie
Pharmakotherapie
Medikamente der ersten Wahl in der Behandlung von Zwangssymptomen sind Antidepressiva,
die selektiv die Wiederaufnahme von Serotonin im synaptischen Spalt hemmen. Dies sind
vor allem das trizyklische Antidepressivum Clomipramin und die SSRIs (Serotonin Reuptake
Inhibitors) Citalopram, Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin. Es gibt bislang
nur wenige plazebo-kontrollierte Studien zur klinischen Wirksamkeit der SSRI Fluoxetin,
Fluvoxamin und Sertralin in der Behandlung von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
[16]. Diese erwiesen eine signifikante Überlegenheit der genannten SSRI gegenüber Plazebo.
Fluvoxamin ist als einziges der SSRI für die Behandlung von Zwangserkrankungen bei
Kindern und Jugendlichen zugelassen (ab dem 8. Lebensjahr). Mit Clomipramin (zugelassen
ab dem 5. Lebensjahr) bestehen die meisten Erfahrungen bei jungen Patienten (3 kontrollierte
Studien, 16). In einer klinischen Untersuchung von Greist [5] zeigte sich bei Erwachsenen für Clomipramin eine Überlegenheit der „effect size”
verglichen zu den SSRI Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin. Wegen des günstigeren
Nebenwirkungsprofils und der sicheren Anwendung sind SSRI jedoch im Kinder- und Jugendbereich
vorzuziehen. Zwangserkrankungen erfordern in der Regel höhere Tagesdosen als die Behandlung
der Depression, siehe [Tabelle 2]. Die Dosisfindung sollte in langsamen Schritten (Steigerung alle 4-5 Tage) individuell
erfolgen. Zu schnelle Dosissteigerungen können v. a. bei Clomipramin zu Krampfanfällen
führen, bei SSRI zu Übelkeit. Wegen der besseren Verträglichkeit hat sich, sofern
vorhanden, die Umstellung auf Retardpräparate bewährt.
SSRI zeigen eine gute Verträglichkeit bei geringer Toxizität. Eine seltene, aber bedrohliche
unerwünschte Wirkung ist das serotonerge Syndrom mit Herzrhythmusstörungen, Krampfanfällen
bis hin zu komatösen Erscheinungen (Orientierungs- und Bewusstseinsstörungen). Die
Therapie besteht im sofortigem Absetzen der Medikation, Fieberbehandlung, Flüssigkeitssubstitution,
evtl. intensiv-medizinischer Überwachung und Behandlung mit Methysergid. Besondere
Beachtung gilt dem Fluoxetin aufgrund der langen Plasmahalbwertszeit (9-25 h).
Unter Clomipramin lassen sich positive Effekte auf Zwangssymptome bereits ab 75 mg
Tagesdosis verzeichnen. Häufige unerwünschte anticholinerge Wirkungen sind Mundtrockenheit,
Schläfrigkeit, Schwindel, Tremor, Kopfschmerzen und Obstipation. Trizyklische Antidepressiva
zeigen eine geringe therapeutische Breite. Deshalb sollten besonders bei Hinweisen
auf Suizidalität keine maximalen Dosen rezeptiert werden. Bei Verdacht auf Intoxikation
müssen sofort alle anticholinerg wirkenden Stoffe abgesetzt werden (cave Herzrhythmusstörungen,
Harnverhalt, paralytischer Ileus). Die Patienten sollten einer intensivmedizinisch
Überwachung zugeführt werden. Bei ausgeprägter Symptomatik können 2-4 mg Physostigmin
intramuskulär oder intravenös verabreicht werden (Monitorüberwachung!). Wegen der
kardialen Nebenwirkungen empfiehlt sich vor Einsatz eines Trizyklikums grundsätzlich
die Ableitung eines EKGs, des Gleichen EKG-Kontrollen im Verlauf.
Besondere Vorsicht ist bei Kotherapeutika (z.B. bestimmte Antibiotika) gegeben, die
- wie viele Antidepressiva - über das Cytochrom P450-System metabolisiert werden.
Hierdurch kann es zu Plasmaspiegelveränderungen kommen, die zu Wirkverlust oder aber
Konzentrationsanstieg mit Intoxikationsgefahr führen können.
Da - unter Voraussetzung einer adäquaten Dosierung - mit dem Wirkungseintritt von
SSRIs und Clomipramin erst nach vier bis zehn Wochen zu rechnen ist, kann der Therapieerfolg
eines Präparats erst nach etwa zehnwöchiger Behandlungsdauer beurteilt werden. Erst
dann ist ein Wechsel des Wirkstoffes indiziert. Mögliche Nebenwirkungen werden oft
früher als die positive Wirkung bemerkt. Zur Aufrechterhaltung der Compliance ist
deshalb wichtig, den Patienten über die zu erwartende Wirklatenz aufzuklären.
Die Dauer der Pharmakotherapie ist längerfristig zu planen. Die meisten Patienten
benötigen eine 12- bis 18-monatige medikamentöse Behandlung. Die Absetzung der Medikation
sollte sehr langsam durchgeführt werden, um ein Absetzsyndrom mit grippeähnlichem
Bild (Fieber, Schweißausbrüche, Kopf- und Muskelschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel;
des Weiteren Ängste, Stimmungsverschlechterung) zu vermeiden.
Abb. 1
Tab. 1 Differentialdiagnosen der Zwangsstörung
-
Körperliche Erkrankungen und organische psychische Störungen: z.B. ziellose Aktivitäten
bei Temporallappenepilepsie (iktal), postenzephalitische und hirntraumatisch bedingte
Stereotypien und sprachliche Iterationen
-
Schizophrene Störungen: Wahn (objektiv falsch, nicht verstehbar, unkorrigierbar, keine
Einsicht), Ich-Störungen (Gedankeneingebung: nicht als eigen erlebt)
-
Autistische Störungen: Steorotype Verhaltensweisen, Sonderinteressen, Rituale und
Veränderungsängste
-
Depressive Störungen: Gedankliche Einengung, exzessives Grübeln
-
Anorexia nervosa: Gedankliche Einengung auf Essen und Figur, ritualisiertes Essverhalten
und exzessive körperliche Aktivität
-
Hypochondrische und körperdysmorphe Störung: Gedankliche Einengung auf körperliche
Erkrankung oder Entstellung; angstbindende Verhaltensweisen wie wiederholte Arztbesuche
oder exzessives Schminken
-
Störungen der Impulskontrolle und der Sexualpräferenz: nicht kontrollierbarer Drang
zu bestimmten Verhaltensweisen bei Trichotillomanie, Kleptomanie, pathologischem Spielen,
Exhibitionismus
-
Tic-Störungen: komplexe motorische Tics wie etwa Berührungen
-
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung: als ich-synton erlebte, in störendem Ausmaß ausgeprägte
Einstellungen und Verhaltensweisen wie Ordnungssinn, Pedanterie, Rigidität, Sparsamkeit
|
(nach 6) |
Tab. 2 Dosierungsempfehlungen für die Pharmakotherapie von Zwangsstörungen
Wirkstoff
|
Initialdosis
|
Mittlere Wirkdosis
|
Max. Dosis
|
- |
pro Tag |
pro Tag |
pro Tag |
Citalopram |
10 mg |
20-30 mg |
60 mg |
Clomipramin |
25 mg |
75-150 mg |
250 mg |
Fluoxetin |
5-10 mg |
20-40 mg |
60 mg |
Fluvoxamin |
25 mg |
75-150 mg |
250 mg |
Paroxetin |
10-25 mg |
20-30 mg |
60 mg |
Sertralin |
25 mg |
100-150 mg |
200 mg |
(nach 14) |