Sozialpsychiater wissen es schon lange: das Umfeld eines Kranken nimmt auf seine Genesung
oder die Chronifizierung seines Leidens Einfluss. Dabei bekommt das sozialrechtliche
Umfeld in der Psychiatrie ein immer größeres Gewicht. Wir möchten deshalb die Situation älterer, von Arbeitslosigkeit bedrohter Patienten in Deutschland betrachten und dazu folgende Thesen vorstellen:
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Durch die Kürzungen im Sozialsystem der BRD drohen vielen psychiatrischen Patienten
gravierende finanzielle Einbußen.
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Die therapeutische Beziehung in der Psychiatrie wird dadurch belastet, dass paradoxerweise
häufig die Gesundung größere finanzielle Not nach sich zieht als eine chronische psychische
Krankheit.
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Dies ist einem Ungleichgewicht im bundesdeutschen Sozialsystem geschuldet, das durch
die Arbeitsmarktreform noch gravierender geworden ist, nämlich der relativen Privilegierung
der Rentenversicherung gegenüber den anderen Zweigen der Sozialversicherung.
Drohende finanzielle Einbußen
Drohende finanzielle Einbußen
Psychisch Kranke sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen oder
bedroht, wobei Arbeitslosigkeit sowohl Ursache als auch Folge einer Erkrankung sein
kann. Der Anteil Arbeitsloser am erwerbsfähigen Klientel unserer allgemeinpsychiatrischen
Tagesklinik im Jahr 2003 betrug beispielsweise 57 % (eigene BADO-Daten) gegenüber
einer Arbeitslosenquote in der Stadt Leipzig von 20 %. Die Einführung des Arbeitslosengelds
II (ALG II) bedroht nun diejenigen, die länger als 1 Jahr ohne Arbeit sind, mit empfindlichen
Einbußen an Einkommen und Status. Das ALG II wird nicht nach dem Versicherungsprinzip,
also aufgrund erworbener Ansprüche, sondern nach dem Bedürftigkeitsprinzip gewährt
- dies allein bedeutet häufig einen Statusverlust. Dafür wird vorhandenes Vermögen
angerechnet und muss verbraucht werden, bevor überhaupt Unterstützung gewährt wird.
Aber nicht nur das eigene Vermögen muss zum Unterhalt herangezogen werden, sondern
auch das Vermögen und Einkommen des Lebenspartners, was zu einer Verringerung des
gemeinsamen Einkommens auf das Niveau der Sozialhilfe führen kann und eine erhebliche
Belastung für die Partnerschaft darstellt. Der arbeitslose Partner muss im Zweifelsfall
„durchgefüttert” werden [1]. All dies ist besonders für ältere und kranke Arbeitssuchende problematisch, da
sie auf dem Arbeitsmarkt weniger Chancen haben als jüngere und gesündere und deshalb
ihre Lage kaum aus eigener Kraft verbessern können.
Rettung durch Rente
Rettung durch Rente
Bei drohender oder bestehender Arbeitslosigkeit kann die Diagnose einer chronischen
psychischen Krankheit zum rettenden Strohhalm für den Patienten werden, da sie ihm
die Chance bietet, Erwerbsminderungsrente zu beantragen und zum Rentenempfänger zu
werden. Es ist unter den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen wesentlich attraktiver,
sich in die Rente „zu retten”, als den (oft aussichtslosen) Kampf um einen Arbeitsplatz
aufzunehmen. In der Rentenversicherung wird die Leistung nicht nach Bedürftigkeit,
sondern nach erworbenen Ansprüchen gewährt, ist also bei Patienten, die schon auf
ein langes Berufsleben zurückblicken, wahrscheinlich höher als der Satz des ALG II.
Außerdem wird in der Rente das angesparte Vermögen geschont, und auch Vermögen und
Einkommen des Lebenspartners werden nicht angerechnet [2]. Der Rentner wird also nicht zur Last in der Partnerschaft, und schließlich ist
sein Status wesentlich besser als der des bedürftigen Sozialleistungsempfängers.
Ungleichgewicht im deutschen Sozialsystem
Ungleichgewicht im deutschen Sozialsystem
Es existiert also eine Schieflage, in der die Erwerbsunfähigkeit in vielen Fällen
attraktiver wird als die Arbeitssuche. Diese Schieflage ist keine Erfindung der jetzigen
Regierung, sondern über die letzten 100 Jahre gewachsen. Bei Einführung der Rentenversicherung
1889 betrug die Leistung nach 30 Beitragsjahren weniger als 20 % des durchschnittlichen
Einkommens und reichte kaum zur Existenzsicherung aus [3]. Bis in die 70er-Jahre des 20. Jh. expandierten alle Teile der Sozialversicherung
(Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung),
insbesondere die Rentenversicherung wurde in der Nachkriegszeit erheblich ausgeweitet.
Durch zwei Rentenreformen 1957 und 1974 wurde die Rente deutlich erhöht, durch Einführung
der „Rentenformel” an vorheriges Einkommen, Beitragsjahre und an die Entwicklung des
Durchschnittslohns gekoppelt. Außerdem wurde der Kreis der Bezugsberechtigten (etwa
durch die Möglichkeit des vorzeitigen Ruhestandes) erweitert.
In den 80er-Jahren begann angesichts leerer öffentlicher Kassen ein vorsichtiger Umbau
des Sozialstaats: Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden gekürzt
bzw. ihr Bezug erschwert, während in der Rentenversicherung weitere Verbesserungen,
insbesondere für Mütter mit kürzeren Erwerbszeiten stattfanden (Anrechenbarkeit von
Erziehungszeiten, Senkung der Mindestbeitragsdauer). Die Leistungen der Rentenversicherung
sind also in Relation zu denen der Arbeitslosenversicherung mit der Zeit deutlich
attraktiver geworden [3].
Unbestreitbar gibt es ein Bedürfnis nach möglichst umfassender sozialer Absicherung.
Umfassende soziale Absicherung ist in der Nachkriegszeit beinahe zum Normalfall geworden.
Da diese Absicherung aber in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung in immer
unterschiedlicherem Ausmaß gewährleistet wird, entsteht ein finanzieller „osmotischer”
Druck in Richtung Rentenversicherung. Wichtig ist dabei, dass man nicht dem einfachen
Fehlschluss erliegen sollte, beim Bemühen um die Rente läge ein schuldhafter Egoismus
des Patienten vor. Es handelt sich vielmehr um ein nachvollziehbares, oft (der eigenen
Familie gegenüber) sehr verantwortungsvolles Eigeninteresse, unter den gegebenen Umständen
die größtmögliche materielle Sicherheit zu erlangen.
Was tun?
Was tun?
Wie kann man als behandelnder Psychiater mit dieser Situation umgehen? Zunächst ist
es wichtig, für das Thema sensibilisiert zu sein. Entscheidend ist dann, über die
relevanten Zusammenhänge Bescheid zu wissen, um sie in der Anamnese gezielt erheben
zu können. Wie lange kann der Patient noch Krankengeld beziehen, welche weiteren Schritte
plant er? Wurde ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt? Muss eine auslaufende
Rente verlängert werden? Liegen Gutachten anderer Fachrichtungen vor, die für einen
Rentenantrag verwendet werden sollen? Wurde bereits ein „Grad der Behinderung” festgesetzt,
der ggf. erhöht werden soll? Sind bereits andere Maßnahmen (Teilhabe am Arbeitsleben)
vom Kostenträger in Erwägung gezogen worden? Es ist hilfreich, zur Klärung dieser
Fragen einen Sozialarbeiter einzubeziehen. Darüber hinaus ist die genaue Auftragsklärung
wichtig. Welches Anliegen hat der Patient selbst? Gibt es andere Auftraggeber für
die Behandlung des Patienten, wie z. B. den MDK, eine Berufsgenossenschaft oder den
Arbeitgeber? Möglicherweise haben diese ganz andere Anliegen. In all diesen Fragen
sollte mit dem Patienten größtmögliche Transparenz hergestellt werden, um eine gemeinsame,
ehrliche Arbeitsgrundlage zu finden. Für die dann folgenden konkreten Schritte kann
es wohl keine allgemein gültigen Lösungen geben. Wir denken aber, dass es möglich
und notwendig ist, den Patienten in seinen gesundheitlichen und sozialen Umständen
ernst zu nehmen, ohne sich instrumentalisieren zu lassen.