Vor 15 Jahren startete in Hamburg das erste „Psychoseseminar”, ein Trialog-Forum zur
Begegnung von Experten aus eigener Erfahrung und solchen durch Ausbildung und Beruf.
Inzwischen gibt es im deutschsprachigen Raum weit über 100 solcher Foren - eine breite
und lebendige Antistigma-Kampagne von unten. Vor zehn Jahren erreichte die Entwicklung
bereits internationales Niveau: Der erste sozialpsychiatrische Weltkongress auf deutschem
Boden „Abschied von Babylon - Verständigung über Grenzen” wurde 1994 in Hamburg gleichberechtigt
von Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen und Profis gestaltet.
Der fachlich/wissenschaftliche Diskurs kann so nur gewinnen: Einbeziehung subjektiver
Perspektiven, frühzeitiges Ringen um Akzeptanz, Korrektur von ideologischen Sackgassen,
Relativierung von allzu reduktionistischen Konzepten, kürzere Wege von der Grundlagenforschung
zur Anwendung. Auch umgekehrt profitieren Erfahrene und Angehörigen von der Teilhabe
am wissenschaftlichen Diskurs. Günstigenfalls kann uns gemeinsam Folgendes gelingen:
Besinnung auf das Wesentliche für ein besseres Verständnis bipolarer Störungen und
dabei auch das dem Wesen des Menschen Entsprechende sowie Entwicklung von Achtung
und Respekt im therapeutischen Handeln. Dem dient auch die folgende Darstellung der
Spannungsfelder, dem alle Beteiligten bei bipolaren Störungen ausgesetzt sind.
Zwischen Höhen und Tiefen - Spannungsfeld der Patienten
Zwischen Höhen und Tiefen - Spannungsfeld der Patienten
Das erste Spannungsfeld ist offensichtlich, springt in die Augen und gibt der Störung
ihren Namen. Bipolare Patienten schwanken insbesondere hinsichtlich Stimmungen und
Energie zwischen Höhen und Tiefen. Euphorische Stimmung, unglaubliche Energie - anfangs
beglückend, dann mitreißend, schließlich kaum noch steuerbar und, je näher die unvermeidliche
Erschöpfung rückt, auch Verzweiflung, manchmal in Destruktivität und Aggressivität
übergehend. Auf der anderen Seite Lähmung und Fühllosigkeit, eben nicht warme Trauer,
sondern kalte Leere, anfangs vielleicht noch verstehbar als Erschöpfung nach ungeheurer
Anstrengung oder Abwehr von unaufhaltbaren Gefühlen, eine Zeitlang auch Schutz vor
akuter Verzweiflungstat, irgendwann geprägt von psychosozialer und biologischer Eigendynamik,
mündend in Zeitlosigkeit und schreckliche Ewigkeit.
Immer ein Zuviel - welche Anstrengung! In Erstarrung oder Flucht nach vorne immer
auch eine Vermeidung von was auch immer. Immer ein Ringen um eigene Maßstäbe, um die
eigene Mitte, die eigenen Werte. Bipolare Menschen haben in der Regel nicht zu wenig,
sondern zuviel Normierung erfahren, haben sich oft zu unhinterfragt die Maßstäbe anderer
zu eigen gemacht, wollten es allen recht machen, ohne das Fundament der Achtung eigener
Bedürfnisse. So sehr uns der manische Patient auf der Akutstation auch dazu verführt:
letztlich geht es nicht darum, ihm „Manieren beizubringen”, sondern mit ihm zu suchen,
wie Ungewöhnliches im Alltag unterzubringen ist, anstatt es immer für die Manie aufzuheben.
Maniker sprengen viele Normen, doch ihre Unkonventionalität kann nicht befreiend wirken,
denn in der Erkrankung schlagen die eigenen Normen erbarmungslos zu. Therapie muss
durch die Phasen begleiten, braucht den Spiegel jeweils einer Seite, braucht die Suche
nach dem auslösenden Konflikt, um dann zu entdecken, dass längst nicht jede Subdepression
zur Depression, längst nicht jede Hypomanie zur Manie führen muss. Der Spielraum ist
größer, als alle Beteiligten bisher denken. Die Erkrankung ist phasisch, auch wenn
die Bewegung manchmal nicht spürbar ist. Wie klein muss der erste Schritt sein, um
den Erfolg unvermeidlich zu machen? Wie lange kann ich steuern, ab wann „geht die
Post ab”?
Es gehört zum Wesen des Menschen, an sich zu zweifeln und dabei auch zu verzweifeln
- so wie es zu seinem Wesen gehört, über sich hinaus zudenken und sich dabei zu verlieren.
Wenn Menschen in dieser Hinsicht besonders ausgeprägt sind, wenn sie also im affektiven
oder kognitiven Sinne psychotisch werden, handeln sie nicht wie Wesen von einem anderen
Stern, sondern zutiefst menschlich. Dies gilt es, im Auge zu behalten, bei allen Behandlungsversuchen;
denn nur so ist der Gefahr der Selbst-Stigmatisierung entgegenzuwirken. Gerade bei
einer Erkrankung, bei der die Störung des Selbstwertgefühls wesentlich ist, ist alles
zu vermeiden, was zusätzlich kränkt.
Zwischen Nähe und Distanz - Spannungsfeld der Angehörigen
Zwischen Nähe und Distanz - Spannungsfeld der Angehörigen
Wenn Menschen hinsichtlich Stimmung und Energie zwischen Extremen schwanken, wenn
sie dabei ihr Wesen verändern und auch, wenn sie in den Extremen verdrängte eigene
Seiten wiederentdecken, dann geht all das an den nahen Angehörigen nicht spurlos vorbei.
Sie fühlen sich mitgerissen, ausgeliefert und eingespannt. Sie strengen sich an, um
die Minderleistung des Depressiven auszugleichen, um ihn trotz Rückzug emotional zu
erreichen, um die Eskapaden der Manie auszubalancieren und den wirklichen Schaden
in Grenzen zu halten. Allzu oft geraten sie selbst ins Schwanken zwischen Höhen und
Tiefen. Vor allem Partner, die mit einer solchen Erkrankung zurecht kommen müssen,
erwecken manchmal nach außen den Eindruck, als würden sie wie Paternoster-Fahrstühle
aneinander vorbei rauschen, um sich nur noch selten auf gleicher emotionaler Ebene
zu begegnen. Die nahen Verwandten stehen dabei vor allem vor folgender Frage: Wie
nah erlaubt das kranke Familienmitglied mir noch zu sein? Wie weit weg lasse ich mich
drängen? Wie viel Abstand brauche ich selber, um angesichts der Depression des anderen
nicht selbst zu verzweifeln und angesichts der Manie des anderen nicht unendlich gekränkt
zu werden? Wieviel Sicherheitsabstand brauchen meine Gefühle? Wieviel Distanz brauche
ich, um eine Liebe zu retten?
Zwischen Macht und Ohnmacht - Spannungsfeld der Profis
Zwischen Macht und Ohnmacht - Spannungsfeld der Profis
Auch als erfahrener Therapeut kann man sich der Rasanz und Dramatik des Geschehens
manchmal kaum entziehen. In der Depression wird versucht, Vertrauen in die therapeutischen
Möglichkeiten zu wecken, Hoffnung zu vermitteln und die Phasenhaftigkeit der Erkrankung
ins Bewusstsein zu rufen. In der Manie müssen manchmal Grenzen gesetzt, konfrontiert
und unter Umständen für den anderen, oder sogar gegen seinen Willen gehandelt werden.
Grundsätzlich ist Optimismus angebracht; denn mit unseren therapeutischen Möglichkeiten
können viele Phasen verkürzt oder vermieden werden. Dennoch wirken die Medikamente
alleine keineswegs so sicher, eindeutig und schnell, wie es wünschenswert wäre, und
sind die psychotherapeutischen Möglichkeiten noch nicht so ausgereift und erst recht
im psychiatrischen Alltag noch nicht so akzeptiert wie bei den unipolaren Depressionen.
Und so bleibt es dabei, dass wir als Profis in einem Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht
landen: In der Depression konfrontiert uns der Patient mit unserer Ohnmacht. Manche
Patienten scheinen uns geradezu beweisen zu wollen, dass alles, was wir uns ausdenken,
nicht ausreicht, um wirklich zu helfen, ja dass all unsere Erfahrung nicht ausreicht,
das ganz besondere Elend der eigenen Depression zu erfassen. So mag es paradox klingen,
dass eine ältere Patientin mit schwerer Depression erst dann wirklich mit dem Therapeuten
arbeiten konnte und wollte, als dieser nach vergeblichen Versuchen eher resigniert
als souverän bekannte, eine so schwere Depression nie gesehen zu haben und nun wirklich
mit seinem Latein am Ende zu sein. In diesem Moment huschte ein Lächeln über ihr versteinertes
Gesicht und die therapeutische Arbeit konnte beginnen.
In der Manie sind wir konfrontiert mit der Macht des Patienten, mit seinem Geschick,
die Finger in die Wunden zu legen, seien es die eigenen therapeutischen Schwächen
oder die Widersprüche im psychiatrischen Alltag. Wir sind konfrontiert mit machtvollen
Worten, sind zwangsläufig beeindruckt von unkonventionellem Auftreten, und erschlagen
von der Fähigkeit des Gegenübers, uns machtvoll an die Wand zu spielen. Zugleich werden
wir verführt oder verpflichtet zu eigenem machtvollen Handeln - sei es mit klaren
Worten in der therapeutischen Situation oder mit klarem Handeln, auch gegen den Willen
des anderen in der akuten Krise. Im Nachhinein mag es beruhigen, von erfahrenen Patienten
im Psychoseseminar zu hören, dass auch und gerade sie die Notwendigkeit unseres Handelns
sehen und den Mut zur Konfrontation fordern. Doch in der aktuellen Situation ist die
Entscheidung für die Macht genauso schwer wie das Aushalten der Ohnmacht.
Bei der Behandlung bipolarer Störungen darf der Therapeut nicht unipolar sein, darf
nicht mit einem allzu engen Repertoire in einer einseitigen Ideologie oder ausschließenden
therapeutischen Schule eingesperrt sein, sondern muss selbst Spielraum haben zwischen
verschiedenen Techniken und Methoden, zwischen geduldigem Zuhören und klarer Abgrenzung,
zwischen der Suche nach biografischem Verständnis und dem klaren Hinweis auf die Mechanismen
psychologischer, sozialer und biologischer Eigendynamik. Als Therapeut muss er den
Mut haben, Polaritäten aufrecht zu erhalten und allzu schnelle harmonisierende Regelungen
im Intervall zu konterkarieren.
Mischung der Spannungsfelder - für alle
Mischung der Spannungsfelder - für alle
Natürlich ist die Aufteilung der drei Ebenen idealtypisch. Die drei Spannungsfelder
betreffen alle Beteiligten, jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung. Auch Angehörige
werden mit eigenen Höhen und Tiefen konfrontiert und kennen das Gefühl von Ohnmacht
und die Verlockungen der Macht. Auch Patienten schwanken gegenüber ihren Angehörigen
und abgemildert auch gegenüber Therapeuten, zwischen Anlehnungsbedürfnis und Entfremdung,
müssen balancieren zwischen Nähe und Distanz. Auch Therapeuten schwanken unter Umständen
zwischen Erschöpfung und der Flucht nach vorn, brauchen Abstand, um nicht verstrickt
zu werden und Nähe, um Energien zu mobilisieren.
Gerade weil die bipolare Störung eine zutiefst menschliche Erscheinung ist (s.o.),
hilft der Austausch über die unterschiedlichen Erlebnisebenen auch außerhalb der akuten
therapeutischen Situation, hilft der Austausch in Dialogforen/Psychoseseminaren oder
auf Tagungen. Der Austausch über die unterschiedlichen subjektiven Perspektiven, die
breite Diskussion wissenschaftlicher Ergebnisse und der fachliche Austausch über therapeutische
Alternativen ist so wichtig, dass wir mehr als bisher versuchen sollten, den Diskurs
gemeinsam und in einer allgemein verständlichen Sprache zu führen. [1].
Besonderheit der bipolaren Störung
Besonderheit der bipolaren Störung
Die Notwendigkeit dieses Diskurses wird unterstrichen von der Besonderheit der bipolaren
Störung: Die Erkrankung ist phasenhaft, d.h. die Störungen sind begrenzt, aber wiederholbar,
unterbrochen von Zeiten unterschiedlich langer Gesundheit und psychischer Stabilität.
Es reicht nicht, die Phasen schnellstmöglich zu beenden, sondern es ist möglich, aus
ihnen zu lernen. Es ist nicht nur wichtig, ob jemand nach der Depression auftaucht
oder nach der Manie landet, sondern auch, wie er es tut, welche Wahrnehmung verborgener
Wünsche und/oder vergangener Kränkung er mitbringt und wie die Suche nach eigenen
inneren Werten und Maßstäben vorankommt.
Gerade weil die bipolare Störung wie auch jede andere Depression vor allem eine Beeinträchtigung
des Selbstwertgefühls bedeutet, ist jede weitere Kränkung zu vermeiden. Gerade deshalb
sind Patienten und Angehörige als Dialogpartner ernst zu nehmen. Gerade deshalb ist
der Blick auf die Ressourcen wichtig und sind Situationen zu schaffen, in denen sich
der Patient nicht nur als Empfänger von Ratschlägen, Anordnungen oder Medikamenten
begreift.
Konsequenzen für das therapeutische Setting
Konsequenzen für das therapeutische Setting
Die Sozialpsychiatrische Ambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf ist
eine der ersten universitären Ambulanzen gewesen, die ein spezifisches therapeutisches
Programm für Patienten mit bipolaren Störungen entwickelt und erprobt hat [2]. Danach lassen sich drei wichtige Bedingungen für die erfolgreiche therapeutische
Arbeit mit bipolaren Patienten formulieren:
-
Vorteile des Gruppensettings: Wir haben herausgefunden, dass das gruppentherapeutische
Setting für die allermeisten Patienten besondere Chancen birgt. In der Gruppe begegnen
sich die unterschiedlichen Phasen. Im anderen Patienten ist die andere Seite der Erkrankung
wahrzunehmen, die zumindest in der akuten Depression oder Manie sonst aus dem Bewusstsein
verdrängt wird. Dadurch wird eine Tendenz zur Mitte eingeleitet. Außerdem erweitert
die Gruppe therapeutische Möglichkeiten. Die Interventionen werden vielseitiger, weil
Gruppenmitglieder und Therapeuten sich ergänzen oder widersprechen können, weil bestimmte
Botschaften von peer experts formuliert und entsprechend besser angenommen werden
können und weil die Polarität der Erkrankung besser abgebildet und so konstruktiv
genutzt werden kann. Ein dritter Grund betrifft die krankheitstypische Selbstwertproblematik.
Im Unterschied zu anderen Settings und zu rein edukativen Programmen erleben die Patienten
sich nicht nur als Objekte von Interventionen oder Informationen, sondern als Experten
in eigener Sache, deren Erfahrung von wechselseitigem Nutzen ist
-
Einbeziehung von Angehörigen: Bipolare Patienten zu behandeln, ohne ihre Angehörigen
einzubeziehen, kommt einem Kunstfehler gleich. Gerade weil die Angehörigen zwangsläufig
mitgeschleudert werden und weil die familiäre Dynamik den Krankheitsverlauf günstig
oder ungünstig beeinflussen kann, ist es notwendig, insbesondere die Familienmitglieder
wahrzunehmen und zu unterstützen, die mit dem Patienten unmittelbar zusammenleben.
Es gibt sogar Hinweise darauf, dass schon die Unterstützung der Angehörigen alleine
in entsprechenden therapeutisch geleiteten Gruppen den Krankheitsverlauf von ansonsten
schwer erreichbaren Patienten günstig beeinflussen. Aber auch die Familiengespräche
vor oder in akuten Krisen sowie die getrennte Beratung und Unterstützung der Familie
sollten zum Repertoire gehören
-
Struktur übergreifende Kontinuität: Gerade weil die Erkrankung phasisch verläuft,
muss die Behandlung kontinuierlich sein. Gerade weil die Erkrankung in den verschiedenen
Phasen unterschiedlich behandelt werden muss, muss die Kontinuität strukturübergreifend
sein, also unabhängig vom ambulanten oder auch teil-stationären Behandlungsstatus
sein. Auf diese Weise ist es möglich, beispielsweise in den therapeutischen Gruppen,
Patienten in akuten Stadien zu erreichen, deren Abwehr anschließend wieder lückenlos
funktioniert. Notwendige stationäre Einweisungen können in aller Regel rechtzeitiger
und undramatischer eingeleitet und deren Dauer deutlich abgekürzt werden. Außerdem
ist es so möglich, die Patienten anders kennenzulernen und die akuten Phasen nicht
nur als Katastrophe, sondern auch als Anstoß zu neuen Erkenntnissen zu nutzen.