Mit seinem Urteil (B 3 KR 21/03 R) vom 22.07.2004 hat das Bundessozialgericht (BSG)
für Recht erkannt, dass gesetzliche Krankenkassen die Kosten stationärer Behandlungen,
bei denen klinische Prüfungen nicht zugelassener Arzneimittel durchgeführt werden,
nicht übernehmen dürfen, auch nicht anteilig. Hintergrund waren 12 Behandlungsfälle,
bei denen durch die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz
in den Jahren 1994-1995 das duale Antidepressivum Duloxetin bzw. der Dopaminagonist
Pramipexol in der Indikation Depression Plazebo-kontrolliert geprüft worden waren.
Pramipexol ist seit 1997 zugelassen zur symptomatischen Behandlung des idiopathischen
Morbus Parkinson (aber nicht der Depression), Duloxetin wurde jüngst in den USA als
Antidepressivum (und in Deutschland zur Behandlung der Dranginkontinenz) zugelassen.
Dieser Entscheidung liegt eine Auslegung von § 8 Abs. 1 Satz 2 Krankenhausentgeltgesetz
(KHEntgG) zugrunde, bei der Zweifel berechtigt sind, ob sie dem Willen des Gesetzgebers
entspricht. Dieser Satz 2 lautet: „Bei Patienten, die im Rahmen einer klinischen Studie
behandelt werden, sind die Entgelte für allgemeine Krankenhausleistungen nach § 7
zu berechnen.” Gemäß amtlicher Begründung „stellt Satz 2 klar, dass bei Patienten,
die im Rahmen einer klinischen Studie behandelt werden, der Versorgungsanteil mit
den normalen Entgelten für die allgemeinen Krankenhausleistungen vergütet wird. Mehrkosten
der Behandlung in Folge der Studien sind über Finanzmittel für Forschung und Lehre
oder Drittmittel zu finanzieren.” Das BSG legt diese Regelung sinngemäß dahingehend
aus, eine klinische Arzneimittelprüfung sei keine klinische Studie. Die klinische
Prüfung eines nicht zugelassenen Arzneimittels diene mit dem Ziel der Arzneimittelzulassung
dem Nutzen des pharmazeutischen Unternehmers, der die gesamten Kosten zu übernehmen
habe. Bei Studien aber, in denen andere, neue, medizinische Untersuchungs- und/oder
Behandlungsmethoden geprüft werden, habe die Krankenkasse sehr wohl die (anteiligen)
Kosten zu tragen. Implizit geht das BSG davon aus, ein neues Arzneimittel sei keine
neue Behandlungsmethode.
Das BSG erkennt immerhin an, dass „der Gesetzgeber an verschiedenen Stellen die Beteiligung
der GKV an der Forschung und damit auch an deren Finanzierung vorgesehen hat. In §
137c ... ist ausdrücklich festgelegt, dass die Durchführung klinischer Studien von
den gemäß § 137c Abs. 1 Satz 1 SGB V vorgesehenen Verfahren zur Bewertung von Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der GKV im Rahmen einer Krankenhausbehandlung
angewandt werden oder angewandt werden sollen, unberührt bleibt. Damit ist auch für
die Vergangenheit eine Klarstellung erfolgt, obwohl § 137c SGB V erst mit Wirkung
zum 1. Januar 2000 in Kraft getreten ist (GKVRefG 2000) und von daher zur Zeit der
in den Jahren 1994 und 1995 durchgeführten Arzneimittelstudien noch nicht galt. So
heißt es in der Gesetzesbegründung: „Insbesondere bei Untersuchungs- und Behandlungsmethoden,
die im Rahmen klinischer Studien oder multizentrischer Studien unter Verantwortung
von Hochschulkliniken angewandt werden, bleibt es dabei, dass die Krankenkassen die
notwendige stationäre Versorgung der in die Studien einbezogenen Patienten mit den
Krankenhausentgelten vergüten. ... Das Votum des Ausschusses Krankenhaus entfaltet
keine Sperrwirkung, die eine kontrollierte Weiterentwicklung der Medizin behindert.”
In der Literatur wird diese Sichtweise zwar als „nicht nachvollziehbar”, zumindest
aber als „überraschend” bezeichnet.”
Weiter führt das BSG-Urteil aus: „Das beschränkt sich aber auf die Anwendung von Untersuchungs-
und Behandlungsmethoden und gilt nicht auch für klinische Studien mit noch nicht zugelassenen
Arzneimitteln. Als Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sind zwar alle professionellen
heilkundlichen - medizinischen - Verrichtungen anzusehen, die zur Erreichung der Behandlungsziele
nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V vorgenommen werden. Trotz dieser weiten Formulierung
ist die klinische Prüfung von noch nicht zugelassenen Arzneimitteln - Doppelblindstudien
ebenso wie Dosisfindungsstudien - aber davon auszunehmen.” Und zwar im wesentlichen
weil „nach § 63 Abs. 4 Satz 2 SGB V weder Fragen der biomedizinischen Forschung noch
Forschungen zur Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln Gegenstand von Modellvorhaben
sein können.”
Daraus schließt das BSG: „Dieser Ausschluss macht deutlich, dass der Gesetzgeber jedenfalls
dann keine Durchbrechung des Grundsatzes des Verbots der Forschungsfinanzierung durch
die GKV zulassen will, wenn die Forschungsergebnisse für Pharma- und Medizinproduktehersteller
von Nutzen sein können. Wenn aber eine Arzneimittelstudie nicht Gegenstand eines Modellvorhabens
sein kann, dann ist sie in der Regel auch nicht als klinische Studie von der GKV zu
finanzieren.”
Die Gesetzeslage kann aber auch anders interpretiert werden. Entscheidend ist § 8
Abs. 1 Satz 2 KHEntgG, wonach eben gerade „bei Patienten, die im Rahmen einer klinischen
Studie behandelt werden, die Entgelte für allgemeine Krankenhausleistungen nach §
7 zu berechnen sind.” Demgegenüber ist § 63 SGB V eine Lex specialis, die sich ausdrücklich
und ausschließlich auf Modellvorhaben der Krankenkassen bezieht. Das ist dem BSG bewusst,
denn das BSG beruft sich im Kern nicht auf § 63(4), sondern zieht § 63(4) als eine
von mehreren Argumentationshilfen bei. Tatsächlich sagt § 63(4) aber nur, dass Krankenkassen
keine Modellvorhaben durchführen dürfen, die der Arzneimittelprüfung dienen. Gemäß
§ 63(1) haben Modellvorhaben der „Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit
der Versorgung” und der „Weiterentwicklung der Verfahrens-, Organisations-, Finanzierungs-
und Vergütungsformen der Leistungserbringung” zu dienen. Im Rahmen dieser in § 63(1)
vorgegebenen Zielsetzung ist plausibel, dass Arzneimittelprüfungen nicht dazu gehören
können. Insofern stellt § 63 Absatz 4 nur eine Konkretisierung zu § 63 Absatz 1 dar.
Arzneimittelprüfungen sind aber keine Modellvorhaben. Folglich kann § 63(4) nicht
die allgemeine Regelung in § 8(1) KHEntgG aushebeln.
Würde man dem BSG folgen, dann wären Arzneimittel keine Behandlungsmethode. Das wäre
mit allgemein gängigen Vorstellungen unvereinbar. Jedenfalls sieht das BSG in Arzneimittelprüfungen
keine klinischen Studien. Diese begriffliche Trennung steht in Widerspruch auch zum
Sprachgebrauch in der internationalen wissenschaftlichen Literatur, die durchgängig
bei Arzneimittelprüfungen von klinischen Studien (z.B. randomized clinical trial (RCT))
spricht und diese nicht von anderen klinischen Studien differenziert.
Diese Auslegung des BSG ignoriert beispielsweise, dass in der psychopharmakologischen
Forschung der Einsatz von Plazebo im Rahmen Plazebo-kontrollierter Studien keineswegs
mit Nicht-Behandlung gleichzusetzen ist, sondern im Gegenteil einem wissenschaftlich
sehr anspruchsvollen und für die Betroffenen besonders hilfreichen Vorgehen entspricht
[1]
[2]. Auch kann ja nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass Patienten, die bei stationärer
Behandlung an einer Arzneimittelprüfung mitwirken, dennoch zumindest teilweise in
den Genuss wirksamer Behandlung kommen. Entsprechend wären die Kosten von der GKV
auch anteilig zu übernehmen, wie ausdrücklich in der amtlichen Begründung zu § 8 KHEntgG
formuliert. Nur so kann dem dringenden Forschungsbedarf - hier bei schweren, stationär
behandlungsbedürftigen Depressionen - entsprochen werden.
Bleibt es beim geltenden Recht und der Rechtsauslegung durch das BSG, dann werden
künftig bei hospitalisierten, also einer vollstationären Behandlung bedürftigen Kranken
keine Arzneimittelprüfungen mehr durchgeführt. Es liegt auf der Hand, dass damit die
Entwicklung und Evaluation moderner Behandlungskonzepte insbesondere für Schwerkranke
gebremst wird. Das Urteil kann über den vollstationären Bereich hinaus Kreise ziehen.
In logischer Übertragung könnte es analog auch auf die ambulante Versorgung angewendet
werden. Das Urteil tangiert nicht nur Industrie-initiierte Arzneimittelprüfungen,
sondern auch Industrie-unabhängige, von klinischen Forschern initiierte Studien. Forschungsgelder,
mit denen die gesamten Behandlungskosten - wie vom BSG gefordert - finanziert werden
müssten, sind zweifellos nicht verfügbar. Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden,
dass das BSG-Urteil die Kostenträger zu Rückforderungen erheblichen Ausmaßes gegenüber
Krankenhäusern veranlassen wird. Diese Rückforderungen werden forschungsaktive Krankenhäuser,
insbesondere also Universitätskliniken, überfordern.
Das Urteil des BSG steht in Widerspruch zum Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom
10.07.1996 (Az.: IV ZR 133/95). Der BGH sieht sehr weitreichende - zum Teil möglicherweise
zu weitreichende - Ansprüche Versicherter vor, „jedenfalls bei schweren, lebensbedrohenden
oder lebenszerstörenden Erkrankungen” sei „nicht zu fordern, dass der Behandlungserfolg
näher liegt als sein Ausbleiben ...”. Hier reiche aus, dass die „gewählte Behandlungsmethode
auf einem nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruht, der die
prognostizierte Wirkweise der Behandlung auf das angestrebte Behandlungsziel zu erklären
vermag, diese Wirkweise sonach zumindest wahrscheinlich macht”. Wenn eine Arzneimittelprüfung
nicht auf einem „nachvollziehbaren Ansatz” beruhen würde, wäre sie u.a. ethisch nicht
vertretbar und dürfte nicht durchgeführt werden. Zahlreiche zivilgerichtliche Urteile
sind inzwischen dem BGH-Urteil auch bei Erkrankungen gefolgt, die keinen „lebensbedrohenden
oder lebenszerstörenden” Charakter haben, oder haben diese Begriffe sehr weit ausgelegt.
Zivilrechtlich haben Versicherte also andere Ansprüche als sozialrechtlich. Das ist
schwer nachvollziehbar. Das BSG-Urteil ignoriert, dass Versicherte bei manchen Krankheiten
(z.B. Malignomen) erst durch die Teilnahme an einer Arzneimittelprüfung eine Chance
auf Besserung oder gar Heilung haben. Jedenfalls steht zu befürchten, dass diesen
Kranken im Gefolge des BSG-Urteils diese Chance kaum noch zugänglich sein wird.
Fazit
Das BSG-Urteil birgt also einigen gesundheitspolitischen Sprengstoff. Von dem Urteil
ist die gesamte klinische Arzneimittelforschung betroffen. Mittelbar stellt das Urteil
die Finanzierung weiter Bereiche der klinischen Forschung in Frage, insbesondere was
innovative Ansätze angeht.
Es darf bezweifelt werden, dass die Auslegung des geltenden Rechts durch das BSG dem
Willen des deutschen Gesetzgebers entspricht. Das höchstrichterliche Urteil des BSG
ist aber unanfechtbar. Folglich ist der Gesetzgeber aufgefordert, seinen Willen eindeutiger
zu formulieren, als im geltenden § 8 KHEntgG und ggf. § 137 SGB V geschehen. Es ist
Sache aller medizinischen Fachgesellschaften, den Gesetzgeber dabei zu unterstützen.