Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2005; 40(8): 493-497
DOI: 10.1055/s-2005-861336
Mini-Symposium
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pharmakologische PONV-Kontrolle: Prophylaxe oder Therapie?

M.  R.  Tramèr1
  • 1Division Anästhesie, Universitätskliniken, CH-1211 Genf 14, Schweiz
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Publication Date:
02 August 2005 (online)

Zu Beginn ein bisschen Methodik

Die systematische Übersichtsarbeit (Metaanalyse)

Hunderte von randomisierten Studien, meistens von relativ bescheidener Größe, welche die Effizienz von Antiemetika in der perioperativen Periode testeten, wurden während der letzten Jahrzehnte publiziert. Die Anzahl bis heute vorgeschlagener antiemetischer Interventionen ist in der Tat unübersichtlich geworden. Bis vor kurzem war noch weitgehend unklar, wie sich die Effizienz der verschiedenen Antiemetika zueinander verhält: Welches sind die wirksamsten Medikamente? Welche sind kaum wirksam? Wie sehen die Dosis-Wirkungskurven der einzelnen Antiemetika aus?

Man hätte schon vor Jahren diese zahlreichen Therapien in einer riesigen randomisierten Studie miteinander vergleichen und die effizienteste(n) Intervention(en) definieren können. Diese Mega-Studie hätte Zehntausende von Patienten einschließen müssen. Als elegante Alternative, die ein wenig Klarheit in den Daten-Wirrwarr zu bringen vermag, hat sich jedoch die systematische Übersichtsarbeit oder Metaanalyse angeboten. Systematische Übersichtsarbeiten sind praktische Beispiele umfassender, unvoreingenommener Datensuche, kritischer Datenbewertung und qualitativer oder quantitativer Datensynthese [1]. Da Methodik und Analyse wie bei einer prospektiven Studie jeweils detailliert dokumentiert werden, ist der Prozess jederzeit reproduzierbar [2]. Die systematische Übersichtsarbeit vermag, gestützt auf die wissenschaftlich korrekte Verarbeitung historischer publizierter (und zum Teil auch unpublizierter) Daten, neue Einblicke in Prävention, Therapie und Diagnostik zu gewähren.

Placebo-kontrolliert oder Kopf-an-Kopf-Rennen?

Würde ein universal wirksames Antiemetikum existieren, könnte jedes Antiemetikum mit diesem „Gold-Standard” verglichen werden; aus allen möglichen Direktvergleichen könnte dann auf die relative Wirksamkeit einzelner Antiemetika geschlossen werden. Dieser Gold-Standard existiert jedoch nicht für PONV (obwohl manchmal von Pharma-Herstellern suggeriert). Um mehr über die vergleichbare Wirksamkeit von Antiemetika zu erfahren, wird man sich also auf Placebo-kontrollierte Studien verlassen müssen. Die Effizienz jeder Therapie wird dabei separat mit einem Placebo verglichen. Als Vergleich kann der 100-Meter-Sprint und die alpine Skiabfahrt dienen: beim 100-Meter-Sprint rennen die Konkurrenten in einem Kopf-an-Kopf-Rennen gleichzeitig gegeneinander, es findet also ein Direktvergleich („head-to-head”) statt; dies entspricht der Mega-Studie, welche mehrere Therapien direkt miteinander vergleicht. Bei der Skiabfahrt fahren die Sportler einzeln und nacheinander gegen die Uhr; dies entspricht dem indirekten Vergleich gegen Placebo. Indirekte Vergleiche sind zulässig, um die relative Effizienz medizinischer Therapien gegeneinander abzuschätzen [3].

Number-Needed-to-Treat

Als Maß antiemetischer Effizienz hat sich die Number-Needed-To-Treat (NNT) bewährt [4]. Diese Zahl, der reziproke Wert der absoluten Risikoreduktion, gibt an, wieviele Patienten prophylaktisch oder therapeutisch behandelt werden müssen, damit ein Patient ein bestimmtes Resultat zeigt, das er nicht gezeigt hätte, wenn alle Patienten ein Placebo (oder eine andere Therapie) erhalten hätten. Die NNT informiert also über den „Aufwand”, der betrieben werden muss, um ein Resultat zu erreichen. Damit kann die NNT direkt in der Klinik umgesetzt werden. Die NNT muss immer im Zusammenhang interpretiert werden: auf welches Grundrisiko, welche Vergleichssubstanz, welche Beobachtungsperiode bezieht sich die NNT?

Systematische Übersichtsarbeiten und PONV

Daten über Wirkung und Nebenwirkungen der meisten Antiemetika wurden in zahlreichen systematischen Übersichtsarbeiten zusammengefasst [5]. Diese Arbeiten synthetisieren die Information von mehreren hundert randomisiert-kontrollierten Studien mit Daten von über 50 000 Patienten. Neue und zum Teil verblüffende Einblicke in die Effizienz von Antiemetika wurden gewonnen, der Nutzen der Prävention gegenüber der Therapie wurde untersucht, Kosten-Effizienz ermittelt und Arzneimittel-Nebenwirkungen beschrieben [6]. Diese wissenschaftlichen Datensammlungen haben sich bei der Erstellung von Richtlinien zur rationellen Prävention und Therapie von PONV als sehr nützlich erwiesen [7]. Diese Arbeiten sind ebenso unentbehrlich, wenn es darum geht, ein rationales (und damit ethisches) Forschungsprogramm zu definieren [8]. Dort, wo Erkenntnisse schon vorliegen, brauchen wir nämlich keine zusätzlichen Studien. Hingegen kann eine systematische Übersichtsarbeit ungelöste Probleme, das Fehlen von Daten oder Widersprüche in der Literatur aufzeigen; weitere Studien sind dann indiziert.

Prävention versus Therapie

Um die Frage nach Prävention oder Therapie von PONV beantworten zu können, muss der Nutzen der beiden Strategien gegeneinander abgewogen werden. Dies setzt die Analyse von drei Faktoren voraus: Effizienz, Risiko und Kosten.

Wir kennen antiemetische Therapien, die recht gut wirken („evidence of effect”). Wir kennen andere, die kaum wirken („evidence of lack of effect”) oder bei denen immer noch unklar ist, ob und wie gut sie wirken („lack of evidence of effect”). Die zwei letztgenannten Kategorien können gemeinsam diskutiert werden: wenn mehrere effiziente Therapien vorhanden sind, sollten solche, welche wenig, kaum oder nur in bestimmten Fällen wirksam sind, nicht primär berücksichtigt werden.

Es wirkt! Prophylaxe

Mit Ondansetron wurden mehrere große Dosis-Findungsstudien zur PONV-Prävention durchgeführt. Obwohl diese zum Teil mehrere Hundert Patienten einschlossen, war keine groß genug, um mehr als drei Dosen zu testen. Die Metaanalyse ermöglichte den Vergleich und damit die Quantifizierung der Effizienz aller relevanten je getesteten Dosen. Die Dosis-Wirkungskurve konnte für die orale und die intravenöse Prophylaxe etabliert werden [9] [10]. Zusätzlich wurde deutlicher als in den Einzelstudien gezeigt, dass die Wirkung von Ondansetron gegen Übelkeit wenig ausgeprägt ist. Die effizienteste Dosis von Ondansetron beim Erwachsenen ist 8 mg (NNT verglichen mit Placebo, für eine 24-Stundenwirkung gegen Übelkeit und Erbrechen ≈ 5); 4 mg wirken zwar gegen Erbrechen, aber kaum gegen Übelkeit. Die pädiatrische Dosis ist 100 μg/kg.

Droperidol wurde während Jahrzehnten in zahlreichen Studien getestet; die meisten Studien waren von bescheidener Größe. Die Metaanalyse ergab neue Erkenntnisse [11] [12]. Erstens: Die Dosis-Wirkungskurven für Übelkeit und Erbrechen verlaufen nicht parallel. Die Dosis-Wirkungskurve für Erbrechen verläuft steiler; die Wirkung nimmt bis 2,5 mg zu. Die Dosis-Wirkungskurve für Übelkeit ist jedoch flach; schon sehr geringe Dosen (unter 1 mg beim Erwachsenen) wirken deutlich gegen Übelkeit. Diese ausgeprägte Wirkung gegen Übelkeit macht Droperidol einzigartig. Zweitens: Prophylaktisches Droperidol wirkt am besten, wenn es gegen Ende der Operation verabreicht wird. Die optimale Dosis beim Erwachsenen liegt unter 1 mg (wenn man auf die Wirkung gegen Erbrechen verzichtet und nur die Wirkung gegen Übelkeit anstrebt). Beim Kind ist die maximale Dosis 20 μg/kg.

Auch Dexamethason hat sich als erstaunlich gut wirksames Antiemetikum erwiesen [13] [14] [15]. Die übliche Dosis beim Erwachsenen beträgt 8 mg, beim Kind 100 μg/kg.

Die prophylaktische Effizienz weiterer Moleküle wurde durch systematische Übersichtsarbeiten bestätigt: Granisetron [16], Tropisetron [17], transdermales Scopolamin [18] und Dimenhydrinate [19]. Haloperidol, wie Droperidol ebenfalls ein Butyrophenon, könnte eventuell Droperidol dort ersetzen, wo die FDA Black Box Warning [20] zu einem Verschwinden von Droperidol geführt hat. Das antiemetische Profil von Haloperidol ist durchaus mit dem von Droperidol zu vergleichen [21].

Warum Antiemetika nicht alleine verabreicht werden sollen

Keines der getesteten Antiemetika ist universell effizient [22]. Werden sie als Monoprophylaxe eingesetzt, profitieren höchstens 20 % der behandelten Patienten (NNT ≈ 5), und auch nur dann, wenn es sich um Risikopatienten handelt. Logischerweise nimmt bei Patienten mit niedrigerem Risiko die Effizienz der Prophylaxe ab (und damit die NNT zu). Zudem wirken gewisse Moleküle weniger gut (5-HT3-Rezeptor-Antagonisten) und andere besser gegen Übelkeit (niedrig-dosiertes Droperidol). Die Effizienz einer Monoprophylaxe kann also kaum befriedigen. Hingegen wurde wiederholt gezeigt, dass sich die Wirksamkeit durch gezielte Kombination von Molekülen steigern lässt. Zu den bewährten Kombinationen gehören Dexamethason plus 5-HT3-Rezeptor-Antagonist (der billigste ist der Beste) oder Dexamethason plus Droperidol [13] [23] [24]. Die optimalen Dosierungen dieser Kombinationstherapien sind unbekannt.

Es wirkt! Therapie

Wenige randomisierte Studien haben die therapeutische Effizienz von Antiemetika gegen PONV untersucht. Die überwiegende Anzahl therapeutischer PONV-Studien wurde mit 5-HT3 Rezeptoren-Antagonisten (Ondansetron, Tropisetron, Dolasetron, Granisetron) durchgeführt [25]. Drei Schlussfolgerungen können aus diesen Studien gezogen werden. Erstens: Alle getesteten 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten sind vergleichbar effizient; sie unterscheiden sich also nur in puncto Kosten. Zweitens: Im Gegensatz zur Prophylaxe, wo eine Dosis-Wirkungskurve identifizierbar ist (zumindest für Ondansetron [9]), kann für keines dieser Moleküle eine klinisch relevante therapeutische Dosiswirkung gezeigt werden, und dies, obwohl in den Originalstudien zum Teil weit auseinander liegende Dosen getestet wurden (ein Faktor von 8 war nicht ungewöhnlich). 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten sind also, als Therapie eingesetzt, in einem Dosisbereich effektiv, der ungefähr einem Viertel der prophylaktisch wirksamen Dosis entspricht. Drittens: Ebenso wie bei der Prophylaxe zeigt sich nur eine schwache Wirksamkeit gegen Übelkeit. Es lohnt sich also wahrscheinlich auch bei der Therapie von PONV-Symptomen einen (niedrig dosierten) 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten mit Droperidol und/oder Dexamethason zu kombinieren. Effizienz und optimale Dosen dieser Kombinationstherapien sind unbekannt.

Der Rest, beziehungsweise, was wir nicht so genau wissen

Zahlreiche weitere, potentiell nützliche Präventionen und Therapien wurden empfohlen. Die publizierten Daten suggerieren jedoch, dass diese nicht oder kaum wirken, oder dass die Datenlage quantitativ oder qualitativ zu schlecht oder zu widersprüchlich ist, um gültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Dazu gehören: Metoclopramid; niedrig-dosiertes Propofol; Ingwer; Cannabis; Phenothiazine (und zahlreiche der „alten” Antiemetika); Sauerstoff; Ephedrin. Zur Therapie von PONV Symptomen liegen nur für die 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten qualitativ hochwertige Daten vor. Der Nutzen der anderen Moleküle bleibt unklar. Direkte Vergleiche lassen vermuten, dass Droperidol und Ondansetron ungefähr äquipotent sind [26] [27]. Die therapeutische Dosiswirkungskurve für Droperidol wurde jedoch nie getestet; die optimale therapeutische Dosis bleibt also unbekannt.

Der Mangel an Daten hat Konsequenzen. Natürlich wird es immer experimentierfreudige Anästhesisten geben, welche ihren Patienten zum Teil abenteuerliche und schlecht dokumentierte Medikamente oder Kombinationen verabreichen und dies im festen Glauben, ihre persönliche Lieblingsmedikation sei außerordentlich nützlich und ohne Risiko für den Patienten. Die wissenschaftlich konsequente Haltung müsste jedoch sein, dass vom Gebrauch dieser schlecht, ungenügend oder widersprüchlich dokumentierten Präventionen und Therapien Abstand genommen wird. Eine weitere Konsequenz müsste sein, dass diese Antiemetika in randomisiert-kontrollierten Studien korrekt geprüft werden.

Was jetzt - Prophylaxe oder Therapie?

Für die Prophylaxe spricht ganz allgemein der humane Faktor: der Patient soll auf keinen Fall PONV-Symptome erleiden. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass eine antiemetische Prophylaxe nicht immer und überall wirkt. Eine ausgefeilte multimodale Strategie wird das PONV-Risiko zwar vermindern, aber nie ganz verhindern [28]. Oft wird auch übersehen, dass nicht alle Patienten, die keine Prophylaxe erhalten haben, erbrechen. Unkritisch und ohne Stratifizierungsplan allen Patienten großzügig prophylaktisch Antiemetika anzubieten bedeutet, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Je nach Berechnungsmodell führt Prophylaxe zu erhöhten oder verringerten Kosten. Mit Prophylaxe wird jedoch sicher eine größere Zahl Patienten Arzneimittel-Nebenwirkungen erleiden; dies schließt Patienten ein, die sowieso nicht erbrochen hätten.

Für die Therapie spricht, dass zumindest mit den gut dokumentierten 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten sehr geringe Dosen effizient sind. Die Therapie konzentriert sich automatisch auf Patienten, die das Medikament wirklich benötigen. Medikamentenkosten können somit eingespart werden und die Zahl der Patienten, welche eine Arzneimittel-Nebenwirkung erleiden, wird geringer sein.

Die Frage, ob PONV eher präventiv angegangen oder ob eher therapiert werden soll, wird wohl nie allgemeingültig beantwortet werden können. Zuviele Faktoren müssten bei dieser Abwägung berücksichtigt werden: kulturelle und gesundheitsökonomische Überlegungen, Erwartung des Patienten und lokale Gepflogenheiten. Der rational denkende Anästhesist wird versuchen, den Risikopatienten zu identifizieren und diesen gezielt prophylaktisch zu behandeln. Dabei wird er berücksichtigen, dass es immer Patienten geben wird, die erbrechen, obwohl sie eigentlich nicht sollten, und solche, die nie erbrechen, obwohl alle prediktiven Faktoren dafür sprechen. Der eher pragmatisch handelnde Anästhesist wird in den allermeisten Fällen die „wait and see” Strategie wählen: abwarten und, falls nötig, aggressiv therapieren. Schließlich ist PONV eher eine Unannehmlichkeit als eine wirkliche „Krankheit”. Viele Patienten erbrechen nur ein einziges Mal und wenn sie später danach gefragt werden, haben sie diese Episode glücklicherweise auch schon vergessen.

Nebenwirkungen der Antiemetika

Zu Beginn ein paar grundlegende Überlegungen

PONV ist, pragmatisch ausgedrückt, kein wirkliches medizinisches Problem; PONV gefährdet kaum das Leben der Patienten, wird nie chronisch und ist selbstlimitierend. Mit anderen Worten: sogar wenn nicht therapeutisch eingegriffen wird, löst sich das PONV-Problem von alleine. Eine rationale Nutzen-Risiko-Abwägung ist deshalb umso mehr gefordert, vor allem wenn Antiemetika Patienten prophylaktisch verabreicht werden (bei der Prophylaxe wissen wir nie hundertprozentig, ob der Patient das Medikament wirklich benötigen wird).

Anästhesisten haben die Tendenz, potenzielle Probleme prophylaktisch anzugehen. Ein klassisches Beispiel ist die „preemptive” Analgesie. Obwohl dieses physiopathologische Denkschema, das sich prinzipiell auf Tiermodelle stützt, sehr beliebt und weit verbreitet ist, bestehen keinerlei Hinweise, dass es sich im klinischen Alltag auch wirklich erfolgreich umsetzen lässt [29]. Ebenso denken viele Anästhesisten präventiv, wenn es darum geht, die PONV-Inzidenz zu senken. Hier besteht jedoch nicht einmal eine biologische Basis, welche für die Prophylaxe spricht (PONV kann im Tierversuch leider nicht gut studiert werden). Und es gibt auch für die „preemptive Antiemesis” keinerlei klinische Hinweise, dass diese Strategie von Nutzen wäre. Es gibt also kaum wirkliche medizinische Gründe, warum Antiemetika prophylaktisch eingesetzt werden. (Diese Aussage gilt für die Annahme, dass Patientenzufriedenheit zwar wichtig, aber medizinisch-ökonomisch irrelevant und eigentlich ein „surrogater Endpoint” ist).

Und noch ein bisschen Methodik

Bei der Interpretation potenzieller Arzneimittel-Nebenwirkungen stellen sich mehrere Fragen. Erstens: Besteht tatsächlich ein Kausalzusammenhang zwischen Exposition und Symptom? Dies ist eine Frage der statistischen Signifikanz, und es ist gerade deswegen wichtig, dass zur Interpretation von Arzneimittel-Nebenwirkungen wenn immer möglich auf Daten randomisiert-kontrollierter Studien zurückgegriffen wird. Zweitens: Wie häufig kommt die Arzneimittel-Nebenwirkung vor? Die Quantifizierung ist wichtig, um die klinische Relevanz der Nebenwirkung abschätzen zu können. Drittens: Wie schwerwiegend ist die Arzneimittel-Nebenwirkung? Kopfschmerzen werden anders beurteilt als erhöhte Leberwerte. Viertens: Wie schwerwiegend ist die Grundkrankheit, die prophylaktisch oder therapeutisch angegangen wird? Bei einer Chemotherapie, die bei einem malignen Tumor eingesetzt wird, nimmt man eine Agranulozytose eher in Kauf als bei der PONV-Prävention. Fünftens: Sind die Arzneimittel-Nebenwirkungen dosisabhängig? Dies betrifft zum Beispiel Droperidol; bei sehr geringen Dosen (1 mg beim Erwachsenen), die immer noch gegen Nausea wirksam sind, spielt Sedation kaum eine Rolle.

„Every drug is a poison”

Alle Antiemetika haben Nebenwirkungen [22]. Die Akzeptanz einer Nebenwirkung hängt unter anderem von den oben besprochenen Faktoren ab. Typische Antiemetika-Nebenwirkungen sind zum Teil recht häufig (Sedation mit Droperidol, Kopfschmerzen mit 5-HT3-Rezeptor-Antagonist), zum Teil ausgesprochen selten (extrapyramidale oder kardiale Symptome mit Droperidol). Für andere potenzielle Arzneimittel-Nebenwirkungen fehlen oft wissenschaftlich erhärtete Daten, um klare Schlussfolgerungen ziehen zu können. Dexamethason, zum Beispiel, wird oft als relativ toxisch betrachtet und es gibt tatsächlich gewisse Hinweise, dass bei chirurgischen Patienten eine einmalige Dexamethason-Dosis eine Erhöhung der Blutzuckerwerte bewirken kann [30]. Auch ist sehr wenig bekannt über pharmakokinetische und pharmakodynamische Interaktionen (Lebermetabolismus!) wenn Antiemetika kombiniert werden. Detaillierte Angaben über das potenzielle Risiko der Antiemetika, die wir regelmäßig unseren Patienten verabreichen, sind also dringend nötig. Umso fragwürdiger ist es, dass immer noch große Studien durchgeführt werden, welche Arzneimittel-Nebenwirkungen weitgehend ignorieren.

Im Idealfall wird der Anästhesist mit dem Patienten Frequenz und Schwere der potenziellen Arzneimittel-Nebenwirkung vor der Prophylaxe oder Therapie besprechen.

Droperidol: ein Sonderfall

Im Dezember 2001 hat die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) eine so genannte „black box warning” über Droperidol verhängt [31]. Dies ist die schwerwiegendste Warnung, welche die FDA für ein FDA-zugelassenes Medikament publizieren kann. Gemäss FDA darf Droperidol nur noch bei Patienten mit fortlaufender EKG-Überwachung verabreicht werden. Die FDA hält in dieser Warnung fest, dass Droperidol die QT-Zeit verlängern kann; dies kann zu Torsades de Pointes und in seltenen Fällen zum Tode führen. Droperidol ist ein Butyrophenon; diese Medikamentenklasse kann tatsächlich Arrhythmien vom Typ Torsades de Pointes auslösen. Dies kommt jedoch außerordentlich selten vor und ist abhängig von der Dosis des jeweiligen Butyrophenons. Dieses Problem wurde im Zusammenhang mit Droperidol bei Patienten beschrieben, welche sehr hohe, antipsychotisch wirksame Dosen von Droperidol über mehrere Tage bis Wochen erhielten. Bisher wurde jedoch kein einziger Fall einer QT-Verlängerung, welche durch niedrig-dosiertes Droperidol ausgelöst wurde, in einem Journal mit Peer-Review publiziert. In der Zeit zwischen dem 1. November 1997 und dem 2. Januar 2002 wurden 273 verdächtige Fälle an die FDA gemeldet. Diese Fälle wurden kritisch begutachtet: 10 Patienten hatten Droperidol-Dosen von 1,25 mg oder weniger erhalten; 2 davon sind gestorben [32]. Es ist außerordentlich schwierig, gestützt auf diese 10 Berichte über niedrig-dosiertes Droperidol, einen klaren Kausalitätszusammenhang zwischen Exposition und Auftreten der Arrhythmie nachzuweisen; zu viele „verzerrende” Faktoren (zum Beispiel Grundkrankheit, gleichzeitig eingenommene Medikamente, die ebenfalls die QT-Zeit verlängern können, spontanes Auftreten von QT-Verlängerung etc.) sind bei Einzelbeobachtungen involviert. Ebenso schwierig ist zu beweisen, dass Droperidol in niedriger Dosis kein kardiales Risiko darstellt. Die Inzidenz kardialer Nebenwirkungen nach Gabe von Droperidol im Rahmen der PONV-Prophylaxe oder -Therapie wurde auf 74 pro 11 Millionen Dosen geschätzt [32]. Es ist in diesem Zusammenhang auch interessant zu erwähnen, dass viele Medikamente, die in der Anästhesie regelmäßig gebraucht werden, die QT-Zeit verlängern können; dazu gehören Thiopental, Isofluran, Sevofluran, Succinylcholin, Sufentanil, Atropin und Neostigmin [33] [34]. Kardiale Rhythmusstörungen und Ischämien sind auch im Zusammenhang mit Ondansetron beschrieben worden [34] [35].

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PD Dr. med. Martin Tramèr, Dphil

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