Im klinischen Alltag ist die Tendenz zu beobachten, die diagnostisch klar definierte
Kategorie der Posttraumatischen Belastungsstörung auch auf Störungen auszuweiten,
die nicht aus der Konfrontation mit einem lebensbedrohlichen Ereignis, sondern mit
einer lebensüblichen Belastung hervorgegangen sind, obwohl hierfür eigentlich die
Kategorie der Anpassungsstörungen vorgesehen ist. Dies zeigt, dass es in der Praxis
die Notwendigkeit einer weiteren differentialdiagnostischen Differenzierung und Präzisierung
der Anpassungsstörungen gibt.
Eine derartige Subkategorie der Anpassungsstörungen stellt die Posttraumatische Verbitterungsstörung
PTED (Posttraumatic Embitterment Disorder = PTED) dar, die nach einschneidenden, wenn
auch nicht außergewöhnlichen Lebensereignissen auftreten kann, wie beispielsweise
einer Kündigung oder Scheidung. Charakteristische Auslöser sind Kränkungsereignisse,
die zentrale Grundannahmen des Betroffenen verletzen. Das resultierende psychopathologische
Syndrom ist analog zur Posttraumatischen Belastungsstörung PTSD gekennzeichnet durch
Intrusionen, Hyperarousal, Herabgestimmtheit und Vermeidung. Im Unterschied zur PTSD
ist der Leitaffekt jedoch nicht Angst, sondern Verbitterung und Aggression gegen sich
selbst und die Umwelt [13]
[15].
Die Abbildung 1 zeigt Daten aus einer Untersuchung zu Art und Häufigkeit vorherrschender
Beschwerden von PTED-Patienten im Vergleich zu einer klinischen Kontrollgruppe. Das
Beschwerdebild ist sehr vielgestaltig und schließt neben dem Leitaffekt der Verbitterung
auch Fremd- und Selbstaggression, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, phobisches
Vermeiden ereignisbezogener Situationen und Personen sowie Rückzug aus sozialen Verpflichtungen
mit ein.
Während nach ICD-10 Anpassungsstörungen vorübergehender Natur sind und sich in der
Regel nach sechs Monaten zurückgebildet haben sollten, gilt dies in der klinischen
Realität für viele reaktive Störungen eindeutig nicht. Insbesondere die PTED kann
zu langfristiger Chronifizierung führen mit schwerer Beeinträchtigung der sozialen
Anpassung, Lebensführung und Lebensqualität.
Ätiologie der PTED
Nach den bisherigen klinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen treten Posttraumatische
Verbitterungsstörungen nach Kränkungserlebnissen auf. In Anlehnung an Konzepte der
kognitiven Psychotherapie ist ein Kennzeichen solcher einschneidenden, wenn auch durchaus
lebenstypischen Erlebnisse wie Kündigung, berufliche Herabwürdigung, Scheidung oder
Verlust eines nahen Menschen, dass eine grobe Verletzung zentraler Grundannahmen und
Wertvorstellungen [4]
[5] vorliegt. Ein Beispiel wäre eine Frau, die die Grundannahme hat, dass die Familie
das Wichtigste im Leben ist. Sie hat dementsprechend ihre eigene berufliche Entwicklung
aufgegeben, um dem Mann das Studium zu ermöglichen, sich für die Kinder und den Mann
„aufgeopfert”, um schließlich auf rücksichtslose Weise gegen eine jüngere Frau ausgetauscht
zu werden, wobei die Kinder es zudem noch vorziehen, mit dem Vater zu leben. Gleiches
könnte z.B. geschehen bei großer Bedeutung des Berufs, unbegrenztem Einsatz für die
Firma und dann einer Kündigung noch vor allen anderen Mitarbeitern. Grundannahmen,
die einen Menschen in einem Lebensbereich besonders erfolgreich machen, machen ihn
auch potentiell verwundbar.
Neben diesem inhaltlichen Schlüssel-Schloss-Problem scheint ein weiterer wichtiger
pathogenetischer Faktor ein sog. „Mangel an Weisheit” zu sein. Die Weisheitspsychologie
ist eine neue Forschungsrichtung, die im Rahmen der Psychologie der Lebensspanne entwickelt
wurde [2]
[3]
[6]
[9]
[24]
[25]
[26]
[28]. Weisheit ist definiert als „Expertise im Umgang mit schwierigen Fragen des Lebens,
wie z.B. Fragen der Lebensplanung, Lebensgestaltung und der Lebensdeutung” und stellt
eine psychologische Fähigkeit dar, die hilft, komplexe und letztlich nicht eindeutig
lösbare Lebensprobleme zu verarbeiten bzw. zu ertragen. Sie ist operationalisiert
als ein mehrdimensionales Konstrukt und umfasst die Fähigkeit zum Perspektivwechsel,
zur Empathie, zur Emotionsakzeptanz, zur Serenität, Faktenwissen, zum Kontextualismus,
zur Wertrelativierung, zur Ungewissheitstoleranz oder zur Nachhaltigkeitsperspektive.
Diese Fähigkeiten sind bei Menschen, die einschneidenden Lebensbelastungen ausgesetzt
waren, in besonderer Weise gefordert, bei Patienten mit Posttraumatischen Verbitterungsstörungen
aber offenbar nicht hinreichend gegeben. Es ergibt sich aus dem klinischen Eindruck
und ersten empirischen Daten der Eindruck, dass Patienten mit einer Posttraumatischen
Verbitterungsstörung Defizite in der Aktivierung weisheitsbezogener Leistungen aufweisen
[Abb. 2]. Weisheit kann einem rigiden, dogmatischen, einseitigen, emotionsgesteuerten und
unflexiblen Denken, welches Verbitterung und selbstzerstörerische Resignation wahrscheinlicher
macht, gegenübergestellt werden.
Therapieansätze
Die Therapie überdauernder Anpassungsstörungen und Posttraumatischer Verbitterungsstörungen
kann erhebliche Probleme aufwerfen. Insbesondere der Leitaffekt der Verbitterung führt
oft zu einer Ablehnung therapeutischer Hilfsangebote („die Welt kann ruhig sehen,
was mir angetan wurde”). Eine Therapie wird schließlich auch erschwert durch eine
fatalistisch anmutende resignativ-aggressive Grundhaltung der Patienten, die Verarbeitungs-
und Änderungsprozesse sowie den Aufbau neuer Lebensperspektiven blockiert und eine
Therapiemotivation erschwert.
Erste Therapieansätze wurden im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt
[13]
[20]. Die Patienten müssen in die Lage versetzt werden, das kritische Lebensereignis
und die damit verbundene Kränkung und Herabwürdigung zu verarbeiten, sich davon innerlich
zu distanzieren sowie neue Lebensperspektiven aufzubauen. Hierzu kann auf bewährte
kognitive Strategien der Einstellungsänderung und Problemlösung zurückgegriffen werden
[14]. Dazu gehören kognitive Verfahren wie z.B. Reframing oder kognitives Neubenennen,
um Neuinterpretationen, eine Reintegration des Erlebten sowie Änderungen des inneren
Bewertungssystems anzustoßen. Aber auch Methoden wie Exposition, Wiederaufbau von
Sozialkontakten und die Förderung von Selbstwirksamkeitserfahrungen kommen zum Einsatz,
um Vermeidungsverhalten und Rückzug aufzuhalten und Realitätsprüfungen zu unterstützen.
Einen neuen und speziell auf die PTED abgestellten Behandlungsansatz stellen Interventionen
im Sinne einer „Weisheitstherapie” dar, die sich an der bereits angesprochenen Weisheitsforschung
orientieren [3]
[6]
[20]
[25]. Es werden „weisheitsaktivierende” Problemlösestrategien vermittelt, die es dem
Patienten ermöglichen, mit neuen Perspektiven, mehr Distanz, wechselnden Referenzsystemen
und unter Berücksichtigung verschiedener Metaaspekte über sein Problem differenzierter
nachzudenken und zu urteilen und eine Verarbeitung anzustoßen. Hierbei werden dem
Patienten beispielsweise komplexe und unlösbare Lebensprobleme vorgegeben (z.B. ein
Mann lässt seine Frau mit Schulden sitzen) und die Patienten angeleitet, dieses Problem
aus verschiedenen Perspektiven (Mann oder Frau, heute oder am Lebensende, externer
Kommentar eines Pfarrers, Psychologen, einer lebenserfahrenen Großmutter) zu kommentieren
und dabei Fähigkeiten des Perspektivwechsels, der Wertrelativierung u.a. einzuüben
Der Stellenwert der PTED und Weisheitstherapie
Um Missverständnissen bezüglich des PTED-Konzepts wie der Weisheitstherapie vorzubeugen,
ist darauf hinzuweisen, dass sich die Krankheitswertigkeit der PTED nicht aus dem
Auslöseereignis, sondern der pathologischen Reaktion ableitet, d.h. der Art und Schwere
der Psychopathologie und der daraus resultierenden Funktions-, Fähigkeits- und Partizipationsstörungen.
Tod, Scheidung, Kündigung usw. gehören zum menschlichen Leben. Der Mensch verfügt
über die Fähigkeit zur psychologischen Widerstandsfähigkeit (Resilience), die es ihm
ermöglicht, solche belastenden Ereignisse zu verarbeiten [27]. Erst wenn es zu bleibenden psychopathologischen Normabweichungen kommt, ist von
Krankheit zu sprechen. Dies ist ähnlich wie beispielsweise in der Chirurgie, wo die
Art der Fraktur krankheitsdefinierend ist und nicht, ob der Patient einen Skiunfall
erlitten hat oder auf einer Banane ausgerutscht ist. Auch scheinbar bagatellhafte
Erlebnisse können unter bestimmten Rahmenbedingungen zu dramatischen Konsequenzen
führen, in der Chirurgie wie in der Psychopathologie. Dies bedeutet, dass die Funktionsstörung
und nicht der Auslöser diagnostisch wegweisend sind.
Gleiches gilt auch für die Therapie. Es geht bei der Weisheitstherapie nicht um eine
Lebensberatung und Unterstützung bei der Bewältigung eines Lebenskonflikts. Es geht
um die Besserung der Psychopathologie. Dies geschieht auch nicht durch die Erarbeitung
von Konfliktlösungen, sondern durch die Förderung psychologischer Funktionen, die
erforderlich sind, um eine Konfliktlösung erreichen zu können. Die Weisheitstherapie
vermeidet daher auch weitgehend, direkt am Thema des Konflikts zu arbeiten. Stattdessen
werden Weisheitsstrategien an Modellproblemen eingeübt. Auch bezüglich der Therapie
gilt also, dass die Funktion und nicht der Inhalt das Therapieziel ist, was auch grundsätzlich
als Unterschied zwischen Therapie und Beratung gelten kann.
Zum Schluss ist darauf hinzuweisen, dass sowohl das Konzept der PTED wie die Weisheitstherapie
wissenschaftliche Neuentwicklungen sind. Die hier vorgestellten diagnostischen wie
therapeutischen Ansätze müssen daher als vorläufige Entwürfe verstanden werden. Sie
basieren auf der klinischen Erfahrung und ersten wissenschaftlichen Untersuchungen.
Es wird weiterer Forschung bedürfen, um endgültige Empfehlungen geben zu können.