Das Sozialgesetzbuch IX regelt die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
in rechtsverbindlicher Form und man könnte sagen, dass in dieses 2001 in-Kraft-getretene
Gesetzeswerk der Geist der Gemeindepsychiatrie Einzug gehalten hat. Gleich im § 1
wird die Basis gelegt, wenn gesagt wird, dass sozialstaatliche Leistungen das Ziel
haben müssen, bei behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen „Selbstbestimmung
und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen
zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.” Im § 4, in dem die „Leistungen zur Teilhabe”
weiter spezifiziert werden, dass diese die Aufgaben hätten, „die persönliche Entwicklung
ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst
selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern.”
Dieses Sozialgesetzbuch IX zeichnet sich durch einen großen „utopischen Überschuss”
aus. Das ist gut und schlecht zugleich. Es ist gut, weil in einem Gesetzbuch endlich
die Ideen der Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen
Alltag ihren Niederschlag gefunden haben und die Diskurse des Schutzes der Gesellschaft
vor den abweichenden Subjekten und deren Kontrolle durch den fürsorglichen Staat abgelöst
haben. Die Lektüre dieser einführenden Grundprinzipien des Sozialgesetzbuches könnten
den Eindruck erwecken, als hätte auch die Psychiatriereformbewegung ihren Gang durch
die Institutionen erfolgreich abgeschlossen. Diese Ziele standen im Zentrum des sozialpsychiatrischen
Projektes. Sind sie einst in Demonstrationen und provokativen Aktionen in den politischen
Raum transportiert worden und sind sie immer wieder an bestehenden herrschaftlichen
Hierarchien im psychiatrischen Feld abgeprallt, so stehen sie jetzt an prominentester
Stelle in einem Gesetzbuch. Das ist gut so und auch ein bemerkenswerter Erfolg der
Reformbewegung. Hier liegt aber auch genau das Problem solcher „utopischer Überschüsse”:
Sie deklarieren einen normativen Zustand so, als wären wir in ihm schon angekommen
und unter dem Deckmantel eines solchen schönen Scheins wird die hässliche Fratze der
Realität gar nicht mehr sichtbar und mir scheint, dass die aktuelle Situation in Bezug
auf Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit psychosozialen Lebensproblemen
und die erkennbaren Tendenzen in diesen Bereichen wenig Anlass für eine zufrieden
stellende Bilanz liefern.
Die Teilhabe an den Lebens- und Arbeitsformen, die in einer soziokulturellen Lebenswelt
als selbstverständliche Normalitätsstandards angesehen werden, die Überwindung von
Sonderbezirken für Menschen mit spezifischen Defiziten waren die Messlatte und Ziellinie
für so unterschiedlich etikettierte Projekte wie das Programm der „Normalisierung”
oder von „Community Care” und sie sind in wissenschaftlich fundierten Konzepten wie
einer „Inklusions-” oder einer „Differenzpädagogik” erkenntnisleitend. Auch das Anliegen
von Sozial- und Gemeindepsychiatrie lässt sich im Wesentlichen auf diesen Nenner bringen.
Es wird von einem sich immer stärker vollziehenden Paradigmenwechsel gesprochen, in
dessen Zentrum ein Teilhabekonzept steht, das einen Weg zurück in die Aussonderung
spezieller Populationen in Spezialeinrichtungen irreversibel versperren würde.
Genau in dieser Phase, in der wichtige Erkenntnisse ins fachliche Bewusstsein der
einschlägigen Disziplinen und Professionen eingesickert sind und dort eine wichtige
Veränderung bewirkt haben, ist dieser Prozess bedroht - nicht in erster Linie durch
eine ideologische Gegenbewegung in den Fachkulturen, sondern durch einen ökonomisch
gesteuerten Globalisierungsprozess, der uns mit seiner neoliberalen Begleitmusik in
Mitteleuropa mit einer Infragestellung von sozialen Standards konfrontiert, die uns
glauben machen will, als hätten wir uns der Illusion hingegeben, dass wir auf einer
„Insel der Seligen” leben würden. Und nun hätten wir uns endgültig davon zu verabschieden.
Wir müssten die Imperative des Marktes akzeptieren und die würden spezifischen sozialpolitischen
Errungenschaften heute keine Chance mehr lassen. Wer das nicht einzusehen vermöge,
sei ein Traumtänzer, ein Sozialromantiker oder ein unverbesserlicher Sozialist. Wir
müssten uns jetzt endgültig von sozialen „Hängematten” und Schonräumen verabschieden,
die ja auch ohnehin nur dazu einladen, missbraucht zu werden. Der Staat sollte seine
„Fürsorglichkeit” endlich aufgeben, damit auch die Menschen lernen könnten, mehr Selbstverantwortung
zu übernehmen. Gepaart ist diese neoliberale „Dekonstruktion” einer solidarischen
Sozialpolitik[1] mit einer Offensive der „Neuerfindung des Menschen”, die einen sozial „entfetteten”
Menschen konstruiert, der eine allseitige Bereitschaft zeigt, sein Leben und auch
seine psychische Innenausstattung vollkommen den Imperativen des Marktes auszuliefern.
Er ist von einer geschmeidigen Anpassungsbereitschaft, stellt sich flexibel und mobil
auf jede Marktveränderung ein und zeigt als Grundbereitschaft, unablässig an der Optimierung
der eigenen mentalen und körperlichen Fitness zu arbeiten. Die Sperrigkeit einer eigenwilligen
Biographie, die psychischen Folgewirkungen von belastenden Lebensereignissen, körperliche
Spuren von Entwürdigungen und Misshandlungen, aber auch Werteprinzipien, die im Widerspruch
zur Fitnessideologie stehen, sind zu entsorgen.
Zusammenfassende These 1
Jeden Tag kann man hören, dass die Zeiten, in denen sich soziale Reformbewegungen
formiert hätten, endgültig vorbei seien. Es seien Bewegungen auf dem Plateau entwickelter
Wohlfahrtsstaaten gewesen. Sie hätten im Wesentlichen einen weiteren Ausbau dieser
Wohlfahrtssysteme gefordert und eine nachholende Modernisierung für gesellschaftliche
Bereiche betrieben, die - wie Bildung oder psychosoziale Versorgung - den Vorstellungen
von Chancengleichheit offenkundig nicht entsprachen. War das Projekt der Sozial- und
Gemeindepsychiatrie, der Rekommunalisierung von psychischem Leid und den erforderlichen
Hilfen, ein Teil dieser Illusion? Zeigt nicht das allmähliche Verblassen der Faszinationskraft,
die gemeindepsychiatrische Projekte einst ausgezeichnet hat, dass ihre Zeit vorbei
ist? In der Psychiatrie haben sich biologische Denkmodelle und Therapieverfahren,
nach Jahren heftiger Kritik, wieder gut erholt und wohl eher an Bedeutung gewonnen.
Und wo bleibt das gemeindepsychiatrische Projekt? Es war immer Anspruch der Gemeinde-
oder Sozialpsychiatrie, das eigene Handeln als gesellschaftliches Handeln zu reflektieren.
Die Vorsilbe „Sozial-” in der Sozialpsychiatrie hat den Reformgruppierungen Identität
und eine kämpferische Perspektive ermöglicht und gleichzeitig hat sie etwas beunruhigendes,
vor allem dann, wenn - wie gegenwärtig - dieses „Soziale” so unklar wird. Jedenfalls
setzt es uns unter den Anspruch, immer wieder von neuem das „Sozialpsychiatrische
Projekt” zu reflektieren.
Was sind denn die zentralen Veränderungsdynamiken, die das Leben der Menschen in diesen
spätkapitalistischen Gesellschaften bestimmen, ihre Biographien und Identitäten umschreiben?
Zusammenfassende These 2
Im Unterschied zu einer sich naturwissenschaftlich verstehenden Psychiatrie schöpft
die Gemeindepsychiatrie aus sozialwissenschaftlichen Quellen und muss ihr Selbstverständnis
und ihre Handlungskonzepte immer wieder neu an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen
ausrichten. Sozialwissenschaftliche Gegenwartsanalysen zeigen dramatische gesellschaftlichen
Umbrüche auf, die - so Manuel Castells - einen „qualitativen Wandel in der menschlichen
Erfahrung” bedingen: Die Konsequenzen der entstehenden Netzwerkgesellschaft „breiten
sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus, und transformieren
die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben”.
Im Unterschied zu neoliberalen Verheißungen schier grenzenloser neuer Chancen beschreiben
die seriösen Gegenwartsdeutungen einen ambivalenten Prozess, der längst nicht alle
gesellschaftlichen Gruppen positiv einbezieht (Inklusion) und eher die Gefahr des
gesellschaftlichen Ausschlusses erhöht (Exklusion). Menschen, die den neuen Anforderungen
an Hyperflexibilität, Mobilität und allseitiger Fitness nicht genügen können, sind
von Exklusionsprozessen besonders betroffen. Berechtigterweise wird auch die Frage
gestellt, ob diese Anforderungen nicht ihrerseits persönlichkeitszerstörend wirken.
Wie der globalisierte neue Kapitalismus unsere Lebens- und Arbeitsformen verändert
Wie der globalisierte neue Kapitalismus unsere Lebens- und Arbeitsformen verändert
Die großen Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich in ihrem Urteil relativ
einig: Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche gehen ans „Eingemachte” in der Ökonomie,
in der Gesellschaft, in der Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität
der Subjekte. In Frage stehen zentrale Grundprämissen der hinter uns liegenden gesellschaftlichen
Epoche.
An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freude, der ja alles
im Fließen sah. Heute wird uns eine „fluide Gesellschaft” oder die „liquid modernity”
[3] zur Kenntnis gebracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist.
Wir leben in einer Gesellschaft, die von einem Vorgang tief greifend verändert wird,
den Giddens als „disembedding” bezeichnet hat. Dieser Prozess lässt sich einerseits
als tief greifende Individualisierung und als explosive Pluralisierung andererseits
beschreiben. Diese Trends hängen natürlich zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen
herauslösen aus vorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher ein Stück
eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wächst die Zahl möglicher Lebensformen
und damit die der möglichen Vorstellungen von Normalität und Identität [Abb. 1].
Zusammenfassende These 3
Wenn diese Gesellschaftsdiagnosen einigermaßen zutreffen, dann ist das für das Projekt
der Gemeindepsychiatrie folgenreich. Es entstehen neue Risikolagen und es werden neue
Kompetenzen von den Individuen gefordert, die in einer so charakterisierten Gesellschaft
handlungsfähig sein sollen. Und da das Projekt der Gemeindepsychiatrie am „Normalisierungsprinzip”
orientiert ist, heißt das, dass sich auch die Bezugspunkte für die Arbeit mit psychisch
Kranken erheblich zu verändern beginnen.
Es steht auf jeden Fall die gesellschaftliche Frage im Raum, auf welches Ziel hin
das sozialpsychiatrische Projekt angelegt ist. Wenn die neuen Normalitätsprinzipien
von Mobilität, Flexibilität und multioptionaler Offenheit unkritisch zu Leitlinien
unseres Handelns werden, wird ein großer Teil der Menschen mit psychischen Problemen
auf der Strecke bleiben. Sie werden diese Ziellinien nie erreichen oder so spät, dass
der gesellschaftliche Prozess schon längst wieder auf andere Ziele zusteuert. Wir
können aber auch versuchen, uns dem Affirmationszwang an das neoliberale Menschenbild
zu widersetzen und damit die Sozialpsychiatrie wieder als Teil einer gesellschaftlichen
Oppositionsbewegung begreifen.
Prioritäten der Gemeindepsychiatrie in einer individualisierten Gesellschaft
Prioritäten der Gemeindepsychiatrie in einer individualisierten Gesellschaft
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich aus der Gegenwartsanalyse Prioritätensetzungen
für das gemeindepsychiatrische Projekt in einer individualisierten Gesellschaft vornehmen:
-
Sozial ungleich verteilte Ressourcen als unverändert zentrales Krankheitsrisiko
-
Zum Normalitätswert von Arbeit
-
Gemeinschaft als rares Gut
-
Die Suche nach Lebenssinn als prekäres Projekt
-
Identitätskompetenz als Bedingung für Zukunftsfähigkeit
-
Qualität durch Empowerment und Partizipation.
These A
Eine sich weiter spaltende Gesellschaft führt zu einer sozialen Ungleichverteilung
von zentralen Ressourcen für gelingendes Leben und damit zu einer sozialen Ungleichverteilung
von Krankheitsrisiken.
These B
Der Normalitätswert von Arbeit, der in der Integrationsperspektive der Sozialpsychiatrie
zentraler Bezugspunkt war, wird immer illusionärer und wirkt zynisch, wenn er Integrationsanstrengungen
unverändert begründet, aber immer weniger Inklusionschancen eröffnet werden können.
Die Konjunktur sozialpsychiatrischer Reformziele war verbunden mit einer gesellschaftlich-ökonomischen
Aufschwungphase, die es nahe legte, die Reform und endgültige Überwindung der ausgrenzenden
traditionellen Psychiatrie auf die Tagesordnung zu setzen. Die Arbeitsmärkte schienen
ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten zu offerieren und es wurde zu einer realistischen
Option, möglichst vielen Menschen, auch und gerade solchen mit schweren lebensgeschichtlichen
Hypotheken, Integrationsmöglichkeiten in diese Arbeitsmärkte zu verschaffen. Ausgrenzung
sollte durch „Rekommunalisierung” überwunden werden und die Arbeitsintegration war
ein bevorzugtes Ziel. Natürlich gab es auch den Diskurs über die „krankmachende”,
zerstörerische Qualität von Arbeit, aber der damals so offensiv angelegte Versuch
einer „Humanisierung der Arbeitswelt” schien diesem Diskurs seine Bedrohlichkeit zu
nehmen. Das „sozialpsychiatrische Projekt” hatte auf die normalitätsspendende Kraft
der „Erwerbsarbeit” gesetzt. Seit einiger Zeit werden in den Sozialwissenschaften
Szenarien durchgespielt, die deutlich machen, welch unterschiedliche Entwicklungspfade
für die deutsche „Arbeitsgesellschaft” denkbar sind. Neben positiven Varianten, die
aber nur unter Bedingungen positiver ökonomischer Entwicklungsperspektiven bzw. einem
durchgängigen Bewusstseins- und Politikwandel hin zu einer nicht mehr erwerbszentrierten
gesellschaftlichen Ordnung eintreten können, gibt es Negativszenarien. Eine dramatische
Abnahme des Erwerbsarbeitsvolumens würde bedeuten, dass die Menschen in Erwerbsarbeit
von zwei Drittel auf bis zu einem Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerung zurückgehen
würden. Soziale Ungleichheiten würden sich in Folge dieser Entwicklung weiter verschärfen,
ohne dass sozialpolitisch gegengesteuert werden würde. Die gesteigerte Negativutopie
würde noch über dieses Szenario hinausreichen und einen Zusammenbruch der Erwerbsgesellschaft
zur Folge haben und damit eine der zentralen Bindekräfte unserer Gesellschaftsordnung
zerstören.
Von diesen Negativentwicklungen würden neben vielen anderen Gruppen vor allem Menschen
mit geringer psychischer Belastbarkeit betroffen sein, die ja auch schon in Zeiten
besserer ökonomischer Kennziffern keine Chance mehr hatten, in den regulären Arbeitsmarkt
integriert zu werden. Spezielle sozialpolitische Förderprogramme haben allerdings
kompensatorische Arbeitsangebote ermöglicht, die zumindest in Spurenelementen auch
das Gefühl der Teilhabe am „normalen” gesellschaftlichen Lebensprozess ermöglicht
haben. Gerade die Praxisansätze, die auf der Basis freiwilliger Leistungen der Kommunen
oder der Länder möglich waren, sind im Zuge der aktuellen fiskalischen Magersucht
als erste gekürzt worden und die noch bestehenden Projekte werden - sollte die öffentliche
Anorexie weiter anhalten - kaum überleben können. Manche Politiker haben den Abschuss
bereits verbal vorbereitet. Es wird vom psychosozialen Wildwuchs gesprochen, dessen
Beseitigung ja wohl mehr recht als billig sei. In diesem Feld ist aber eine Initiativenkultur
gewachsen, eine psychosoziale Infrastruktur von Beratungsangeboten, kommunikativen
Anlaufstellen, Lebens- und Arbeitsformen, die kleinräumige und damit überschaubare
Formen der Teilhabe an kommunalen Lebenswelten ermöglicht haben. Neben den gesetzlich
fixierten und einklagbaren sozialen und gesundheitlichen Sicherungssystemen ist es
vor allem dieser psychosoziale Initiativenreichtum gewesen, der für Menschen mit schweren
psychischen Belastungen und Einschränkungen soziale Erfahrungen von Respekt, Anerkennung,
Würde und Zugehörigkeit ermöglicht hat. Was bleibt als Basis einer inklusiven Sozialpsychiatrie,
wenn diese Infrastruktur zerbröselt?
These C
Gemeinschaft ist in einer individualisierten Gesellschaft ein rares Gut und es wird
immer mehr zur Aufgabe des Einzelnen, sich seine „Gemeinde” zu schaffen. Hier ergeben
sich für die Gemeindepsychiatrie spezielle Aufgaben der Netzwerkförderung und der
Förderung der Fähigkeit zur Netzwerkbildung bei den Einzelnen.
These D
Die Suche nach Lebenssinn wird in einer Gesellschaft, die zunehmend den Glauben an
traditionelle „Meta-Erzählungen” verliert, zum prekären Projekt. Gerade aber unser
Wissen über Salutogenese zeigt, dass Gesundheit und Identitätsgewinnung entscheidend
von Sinn- und Kohärenzfindung abhängen.
These E
Identitätskompetenz als subjektive Verarbeitungsmöglichkeit von gesellschaftlichen
„Entbettungserfahrungen” und als eine unabschließbare Passungsarbeit zwischen innerer
und äußerer Welt ist eine neue Bedingung für individuelle Zukunftsfähigkeit und bedarf
der gezielten professionellen Unterstützung.
Anforderungsprofil
Wenn man die Thesen A bis E zusammenfasst, dann kommt ein spezifisches Anforderungsprofil
für die Gemeindepsychiatrie heraus. Lebensbewältigung braucht Ressourcen, materielle,
soziale und psychische, und diese sind gesellschaftlich sehr ungleich verteilt. Die
Sozialpsychiatrie in der Zeit von annähernder Vollbeschäftigung hat ihr Ziel der sozialen
Integration von Menschen mit schweren psychischen Hypotheken durch Arbeitsrehabilitation
versucht. Das ist immer noch ein Weg, der weiterverfolgt werden sollte, und gleichzeitig
führt er für viele Betroffene nicht mehr zum Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe.
Dies gilt zunehmend nicht nur für psychisch Kranke, sondern auch für immer mehr Menschen,
die dann etwas zynisch als „Problemgruppen” des Arbeitsmarktes bezeichnet werden.
Es bedarf anderer Formen der Förderung von sozialer Zugehörigkeit durch die Förderung
von Netzwerkarbeit. Ein immer wieder nachgewiesener Befund zeigt, dass sozioökonomisch
unterprivilegierte und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen offensichtlich besondere
Defizite aufweisen bei dieser gesellschaftlich zunehmend geforderten eigeninitiativen
Beziehungsarbeit. Was bedeuten nun solche Befunde für unsere psychosoziale Arbeit?
Gefordert sind professionelle Ziele und Kompetenzen, die Prozesse von solidarischer
Vernetzung und Selbstorganisation vor allem dort zu initiieren und zu unterstützen
versuchen, wo sie auf der Basis der vorhandenen psychischen und sozialen Ressourcen
nicht von selbst entstehen können. Statt einer Förderung und Beschleunigung von Individualisierungsprozessen,
gilt es Projekte zur Gewinnung kollektiver Handlungsfähigkeit zu unterstützen, speziell
dort, wo die vorhandenen Ressourcen für einen autonomen Prozess von gesellschaftlicher
Selbstorganisation nicht ausreichen. Zentrale Bedingungen für eine hilfreiche Unterstützung
sieht beispielsweise Manfred Bleuler in folgenden Punkten: „Wichtig ist vorerst eine
natürliche, stetige Beziehung, sei es zum Arzt, sei es zu einem Familienmitglied oder
einer anderen Bezugsperson, eine Beziehung, die weder emotionell überladen noch bloß
kalt und logisch geplant ist. Wichtig ist die Eingliederung des Kranken in eine ihm
passende aktive Gemeinschaft. Wichtig ist, dass er in dieser Gemeinschaft seine Fähigkeiten
und Interessen ausleben kann, aber auch im rechten Maße Ruhe findet”. Diese Empfehlung
stammt aus einem Brief von Bleuer (1984) an einen jungen Kollegen in Gütersloh, in
dem er zusammenfasst, was nach einem langen Forscherleben für ihn der Kern der Schizophrenie
sei. Ich will den zentralen Satz daraus aufgreifen: „Nach unserem heutigen Wissen
bedeutet Schizophrenie in den meisten Fällen die besondere Entwicklung, den besonderen
Lebensweg eines Menschen unter besonders schwerwiegenden inneren und äußeren disharmonischen
Bedingungen - welche Entwicklung einen Schwellenwert überschritten hat, nach welchem
die Konfrontation der persönlichen inneren Welt mit der Realität und der Notwendigkeit
zur Vereinheitlichung zu schwierig und zu schmerzhaft geworden ist und aufgegeben
worden ist”. In dieser Formulierung wird Normalität als Produkt harter Arbeit angesprochen,
die in der Vereinheitlichung von äußeren und inneren Realitäten zu leisten ist. Der/die
Einzelne muss einzelne Lebensfragmente passförmig machen oder eine hohe Spaltungskompetenz
entwickeln. Er/sie muss das eigene Drehbuch schreiben und herausfinden, was für sie/ihn
stimmt. Es macht also Sinn, der Frage nachzugehen, ob die alltägliche Identitätsarbeit
in einer postmodernen Gesellschaft etwas von der anstrengenden Passungsarbeit angenommen
hat, die Bleuler in Bezug auf die Schizophrenie beschrieben hat. Aber es bleibt die
Frage nach der „Schwelle”.
Für die Psychose knüpft Bleuler klar an die durchschnittlichen alltäglichen Balancierungs-
und Synchronisierungsversuche an und setzt sich damit in Gegensatz zu allen Versuchen,
eine Ontologie der Psychose zu formulieren, in deren Erfahrungsräume sich gar niemand
hineinversetzen könnte. „Es geht im Leben darum, dass wir die verschiedenen, oft sich
widersprechenden inneren Strebungen harmonisieren, so dass wir ihrer Widersprüchlichkeit
zum Trotz ein Ich, eine ganze Persönlichkeit werden und bleiben. Gleichzeitig haben
wir uns damit auseinander zu setzen, dass unsere äußeren Lebensverhältnisse nie den
inneren Bedürfnissen voll entsprechen, dass wir uns an Umwelt und Realität anzupassen
haben. Bis heute lässt sich nichts Objektives gegen die Feststellung vorbringen, dass
sich der spätere Schizophrene vorgängig seiner Erkrankung mit diesen Problemen, die
diejenigen von uns allen wesensähnlich sind, in einer Art auseinandersetzt, die unser
aller inneren Entwicklung wesensähnlich ist”. Und es gibt für Bleuler trotzdem eine
Differenz: „Der spätere Schizophrene hat präpsychotisch mit ungewöhnlich vielfältigen
und ungewöhnlich schweren Kämpfen um die Harmonisierung seiner inneren Welt und um
seine Anpassung an die äußere Welt zu schaffen”.
Erforderlich ist eine kontinuierliche Passungsarbeit deshalb, weil sich klassisch-moderne
Vorstellung nicht mehr halten lassen, dass wir die „inneren Kapitalien”, die Besitzstände
unserer Identität irgendwann im Projekt des Erwachsenwerdens beisammen hätten und
auf der Basis dieses Besitzes dann unser Leben meistern. Auf einem solchen Hintergrund
wird es zu einer wichtigen Frage, was Menschen heute für Grundqualifikationen benötigen,
um mit ihrer alltäglichen Lebensführung und Identitätsarbeit im produktiven Sinne
zurecht zu kommen. Die Bestimmung von aktuellen Bildungszielen sollte sich nach Oskar
Negt [9] von folgender Frage leiten lassen: „Was müssen Menschen lernen, damit sie in der
heutigen Krisensituation begreifen können, was vorgeht? Welche Möglichkeiten gibt
es für sie, ihre Lebensbedingungen in solidarischer Kooperation zu verbessern und
eine Grundhaltung zu entwickeln, dass Gemeinwohl mehr und anderes ist als nur die
Summe betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Kalkulationen?” Negt nennt als erste
seiner fünf Schlüsselqualifikationen, welche durch die Verknüpfung von persönlicher
Lebenserfahrung und allgemeinen Entwicklungen „Bewusstseinserweiterung” schaffen können:
„1. Identitätskompetenz: Aufgeklärte Umgangsweise mit bedrohter und gebrochener Identität.
„Die traditionelle Identität der Menschen, die in den Grundinstitutionen von Eigentum
und Arbeit gebildet war, ist ausgehöhlt”. „Die Kompetenz einer aufgeklärten Umgangsweise
mit bedrohter und gebrochener Identität gehört zu den Grundausstattungen der Lernprozesse,
die auf die Zukunft gerichtet sind”. (...). „Zu dieser Anforderung gehört auch, dass
Menschen aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen herausgerissen und mit Verlust von
Selbstwertgefühl und Anerkennung konfrontiert werden. Wo aber Vertreibung aus gewachsenen
Lebensverhältnissen, aus dem Erwerbssystem, aus der Heimat, aus dem gewohnten Wohnmilieu
stattfindet, wo der Mensch kein zu Hause mehr hat, kein äußeres und kein inneres zu
Hause, da wird lernender und wissender Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität
zur Lebensfrage”.
These F
Im Rahmen der Projekte zur Qualitätsentwicklung psychosozialer Arbeit sollte die Förderung
von Empowerment und Partizipation zu einem zentralen Qualitätsmerkmal werden.
Förderung von Ressourcen: Die Empowerment-Perspektive
Förderung von Ressourcen: Die Empowerment-Perspektive
Abschließend möchte ich auf das eingehen, was ich als Basisphilosophie psychosozialer
oder gemeindepsychiatrischer Arbeit ansehe. Sie verbirgt sich hinter dem Schlagwort
„Empowerment”. In ihr ist jene sozialpsychiatrische oder gemeindepsychologische Grundhaltung
ausgedrückt, über die sich Realisierungsversuche der benannten Prioritätensetzungen
zu verstehen haben.
Das Kernstück dieser Überlegungen ist die Verbindung von Salutogenese und Empowerment-Perspektive.
Beide richten ihre Aufmerksamkeit auf das aktiv-handelnde Individuum in seiner gesellschaftlichen
Alltagswelt und sie eröffnen für die psychosoziale Praxis andere Perspektiven, als
wenn Krankheit und Gesundheit als mechanisch ablaufende Prozesse betrachtet würden,
denen der Einzelne ausgeliefert ist und die letztlich nur durch den kundigen Experten
von außen beeinflusst werden können.
Was zeichnet diese Empowerment-Perspektive aus?
Was zeichnet diese Empowerment-Perspektive aus?
Die Empowerment-Perspektive bündelt wichtige Lernprozesse des letzten Jahrzehnts.
Sie knüpft ein Netz von Ideen zu einer neuen Orientierung psychosozialen Handelns.
Es sind vor allem die folgenden Lernprozesse:
-
Von der Defizit- oder Krankheitsperspektive zur Ressourcen- oder Kompetenz-Perspektive.
Das Wissen um die Stärken der Menschen und der Glaube an ihre Fähigkeiten, in eigener
Regie eine lebenswerte Lebenswelt und einen gelingenden Alltag herzustellen, führt
mit Notwendigkeit zu einer anderen beruflichen Perspektive als im Falle eines professionellen
Szenarios der Hilfebedürftigkeit
-
Nur jene Art von professionellem Angebot kann letztlich wirksam werden, die in das
System des Selbst- und Weltverständnisses der Klienten integrierbar ist und die persönlich
glaubwürdig und überzeugend vermittelt wird. Solche Einsichten führen mit Notwendigkeit
zur Überwindung einer einseitigen Betonung professioneller Lösungskompetenzen und
von der Orientierung an der Allmacht der Experten zu einer partnerschaftlichen Kooperation
von Betroffenen und Fachleuten. Von Dauer können nur Veränderungen sein, die den Grundsatz
„Hilfe zur Selbsthilfe” realisieren
-
Jede professionelle Aktivität, der es nicht gelingt, zur Überwindung des Erfahrungskomplexes
der „gelernten Hilflosigkeit” oder „Demoralisierung” beizutragen, wird wirkungslos
bleiben. Die Wirksamkeit professioneller Hilfe wird davon abhängen, ob das Gefühl
gefördert werden kann, mehr Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu erlangen
-
Soziale Unterstützung im eigenen sozialen Beziehungsgefüge ist von großer Bedeutung
bei der Bewältigung von Krisen, Krankheiten und Behinderungen sowie bei der Formulierung
und Realisierung selbstbestimmter Lebensentwürfe. Gerade die Kräfte, die durch die
Vernetzung von gleich Betroffenen entstehen können, sind von besonderer Qualität
-
Psychosoziale Praxis lässt sich nicht in Kategorien von Widerspruchsfreiheit oder
im Funktionskreis instrumentellen Denkens adäquat erfassen. Anstelle eines Diskurses,
der von der Unterstellung eines hehren Allgemeinwohls ausgeht, ist es notwendig, Widersprüche,
Interessenunterschiede und unterschiedliche Bedürfnisse zum Thema zu machen. Hierzu
gehören auch Themen wie die Janusköpfigkeit von Hilfe und Kontrolle in allen Formen
psychosozialen Handelns; die Analyse unerwünschter Nebenfolgen „fürsorglicher Belagerung”
und ihrer institutionellen Eigenlogiken und schließlich auch die Anerkennung unterschiedlicher
und teilweise widersprüchlicher Interessen von Klienten und Professionellen
-
Die wichtigste Erkenntnis, die auf solchen Pfaden divergenten Denkens zu gewinnen
ist, ist die Einsicht in die Dialektik von Rechten und Bedürftigkeiten. Die klassische
wohlfahrtstaatliche Philosophie war ausschließlich von einer Definition von Bedürftigkeiten
und auf sie bezogener sozialstaatlicher Hilfe- oder Präventionsprogramme bestimmt.
Die meisten Therapie- und Präventionsprogramme gehen - in aller Regel mit guten und
nachvollziehbaren Gründen - von einer Annahme spezifischer Defizite und Bedürftigkeiten
aus, die im wohlverstandenen Interesse der Betroffenen verhindert, kompensiert oder
verändert werden sollen. Erst in den 70er Jahren wurde - nicht zuletzt in Folge heftiger
Konflikte zwischen wohlwollenden Helfern und zunehmend eigene Ansprüche formulierender
Klienten - die Ebene der Rechte als unabhängiger Begründungsinstanz für Handeln oder
dessen Unterlassung „entdeckt”. Es war sicher kein Zufall, dass diese Entdeckung in
die Zeit der sich abzeichnenden Krise des Wohlfahrtsstaates fiel. In Zeiten wachsender
Sozialbudgets ist eher die Vorstellung gewachsen, dass bei uns Professionellen die
Angelegenheiten der Betroffenen in guten Händen seien. Die Segnungen immer neuer Spezialprogramme
und -inrichtungen ließen sich beweiskräftig so verstehen. Die von uns so bereitgestellte
„fürsorgliche Belagerung” hatte eine Qualität der tendenziellen Rund-um-Versorgung,
bei der der Gedanke der Einschränkung von Klienten-Rechten und der Kontrolle von Lebenssouveränität
wenig Nahrung erhielt. Die Krise des Sozialstaats hat auch für viele Betroffene sichtbar
gemacht, dass ihre Rechte keineswegs in Wohlfahrtsleistungen gesichert sind und mit
deren Abbau auch gefährdet sind und eigenständig vertreten und abgesichert werden
müssen. Rappaport bringt die beiden Sichtweisen auf die Formel von „Kinder in Not”
oder „Bürger mit Rechten”. Es handelt sich nicht um Entweder-Oder-Perspektiven, sie
müssen in dem Spannungsverhältnis, in dem sie zueinander stehen, erhalten bleiben.
Gerade an der Reaganschen Kahlschlagpolitik im Sozialbereich kann das aufgezeigt werden.
Sie hat sich gerne mit Schlagworten wie Bürgerrechte oder „Freiheit” vom Staat drapiert
und gleichzeitig wohlfahrtsstaatliche Leistungen abgebaut. Dazu bemerkt Rappaport
treffend: „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz” [10].
Auf einer Tagung von Klinischen Psychologen in der Psychiatrie des Landschaftsverbandes
Rheinland hat Wolfgang Voelzke, Psychiatrie-Erfahrener aus Bielefeld, eine sehr klare
Position zu diesem Thema formuliert. In seiner Einleitung heißt es: „Sie merken vielleicht,
dass ich nicht den Begriff der NutzerInnen verwandt habe, weil er den Menschen auf
betriebswirtschaftliche Steuergrößen reduziert, es in der Psychiatrie selten eine
echte Wahlmöglichkeit gibt und vor allem die persönliche Begegnung, die Basis jeder
psychologischen Behandlung ist, damit ausgeblendet wird. Viele fühlen sich in der
Psychiatrie weniger als „Nutzer” als vielmehr benutzt. (...) Egal ob Diagnosen erstellt
und entsprechende Therapien verordnet und durchgeführt werden, ob Defizite, Problemlagen
oder Bedürfnisse festgestellt und dazu adäquate psychosoziale Dienstleistungen zur
Lösung oder Besserung erbracht werden, immer haben Betroffene weitestgehend eine passive
Rolle im Rahmen eines Über- bzw. Unterordnungsverhältnisses einzunehmen und auf die
Problemdefinitionen und Hilfen durch Profis zu warten. Die Rolle der Betroffenen und
die Machtverteilung erreichen nie die Qualität einer echten Partnerschaft. Dies muss
sich ändern!” (11). Und schließlich fordert er: „Begriff und Methoden der Qualitätssicherung
gewinnen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Psychologen sollten dabei auf
wirkliche Qualität achten und darauf, dass gleichberechtigte Beteiligung und Mitbestimmung
von Betroffenen, echte Partizipation von Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrene in
ihrem Bereich umgesetzt werden. Dazu sollten sie Psychiatrie-Erfahrenen in ihre Arbeitsgruppen
zur Qualitätssicherung einladen, damit die Betroffenen ihre Bedürfnisse und Forderungen
unmittelbar darlegen können”.
Gerade für die psychosozialen Professionellen, die sich als Teil der Reformbewegung
des psychosozialen Feldes verstehen, ist dies der wichtigste Lernprozess der letzten
Jahren. Wir haben kein Recht, für die Betroffenen unserer Handlungen zu definieren,
was für sie gut und qualitätsvoll ist. Dieses Handeln im „wohlverstandenen Interesse”,
auch das rein „anwaltschaftliche Handeln” bergen die Gefahr der Bevormundung, der
„fürsorglichen Belagerung”. Notwendig ist vielmehr eine Perspektive, die Lebenssouveränität
und den „aufrechten Gang” fördern, also eine Empowerment-Perspektive und die ist ohne
weitestgehende Einbeziehung der Betroffenen nicht vorstellbar.
Abb. 1