Der Klinikarzt 2005; 34(4): 97-101
DOI: 10.1055/s-2005-868151
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ein Leitfaden für den Notarzt - Prähospitale Versorgung bei akutem Koronarsyndrom

A Guideline for the Emergency Physician - Prehospital Treatment of Acute Coronary SyndromeH.R. Arntz1
  • 1Medizinische Klinik II, Kardiologie und Pulmologie, Charité, Campus Benjamin Franklin, Berlin (Leiter: Prof. Dr. H.P. Schultheiss)
Weitere Informationen
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Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. Hans-Richard Arntz

Medizinische Klinik II

Charité, Campus Benjamin Franklin

Hindenburgdamm 30

12200 Berlin

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. April 2005 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Das akute Koronarsyndrom, definiert als ST-Streckenhebungsinfarkt, Nicht-ST-Streckenhebungsinfarkt und instabile Angina pectoris, ist die häufigste Einsatzindikation für den Notarzt. Definitionsgemäß ist neben der Berücksichtigung der klinischen Beschwerden das Zwölf-Kanal-EKG Schlüsselinstrument zur Diagnostik. Um einen optimalen Therapieweg zu wählen, muss der Notarzt über die lokale Infrastruktur der Versorgungsmöglichkeiten (Verfügbarkeit der Akutintervention, Zeit bis zur Durchführung einer eventuellen Intervention) informiert sein. Bei ST-Streckenhebungsinfarkt kommt die prähospitale Lyse vor allem bei Patienten mit kurzer Symptomdauer in Betracht, bei Kontraindikationen zur Lyse und sicher kurzfristig erreichbarer Intervention ist die perkutane Intervention vorzuziehen. Auch die Kombination beider Verfahren („facilitated PCI”) ist möglich. Bei Patienten ohne ST-Streckenhebung ist die Nachbeobachtung über mehrere Stunden zur endgültigen Beurteilung regelhaft notwendig. Vor dem Hintergrund der aktuell gültigen Leitlinien sollten zudem Netzwerkstrukturen gebildet werden, in denen alle Beteiligten zusammenarbeiten.

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Summary

Acute coronary syndrome, defined as an ST-elevation myocardial infarction, non-ST-elevation myocardial infarction and unstable angina is the most common reason for calling in the emergency physician. In accordance with the definition, apart from the clinical symptomatology, the twelve-channel ECG is a key diagnostic instrument. In order to provide optimal primary care, the emergency physician must be aware of the local infrastructure of the emergency care services (availability of acute intervention facilities, transport time lapse to required interventions). In the case of ST-elevation myocardial infarction the prehospital thrombolysis must be considered in particular in patients with an only short history of symptoms; in the event of a contraindication to thrombolysis and when rapid transportation to interventional treatment is certain, PCI is to be preferred. The combination of both approaches (facilitated PCI) is also possible. In patients with no ST elevation, close observation of the patients over several hours to establish a final diagnosis is regularly necessary. In addition, against the background of currently valid guidelines network structures securing the cooperation of all relevant care-providers should be put in place.

Der akute transmurale Myokardinfarkt, traditionell definiert durch Symptomatik einerseits und Enzym- bzw. EKG-Verlauf andererseits, hat durch die fortschreitenden Kenntnisse zu Diagnostik und Prognose in jüngster Zeit eine neue Einordnung erfahren [5]. Nach dieser neuen Definition ist der klassisch definierte akute Myokardinfarkt eines der drei Krankheitsbilder, die untereinander einen fließenden Übergang zeigen [Abb 1]. Sie werden unter dem Sammelbegriff „akutes Koronarsyndrom” zusammengefasst. Dieser Begriff subsumiert heute den so genannten ST-Streckenhebungsinfarkt (STEMI), den Nicht-ST-Streckenhebungsinfarkt (NSTEMI) und die instabile Angina pectoris (UAP, „unstable angina pectoris”). Einige Autoren zählen auch den plötzlichen Herztod zum akuten Koronarsyndrom, da dieser in etwa 20 % der Fälle erstes und einziges Symptom einer vorhandenen schweren koronaren Herzerkrankung ist.

Pathophysiologisch wie klinisch besteht ein fließender Übergang zwischen den genannten Krankheitsbildern. Während früher angenommen wurde, dass der akute transmurale Myokardinfarkt auf dem Boden einer höchstgradigen Koronarstenose entsteht, wissen wir heute, dass die Mehrzahl aller Infarkte vorwiegend an hämodynamisch nicht oder höchstens wenig wirksamen arteriosklerotischen Plaques entsteht. Unter dem Einfluss bisher nur teilweise definierter Faktoren (z.B. plötzlicher Blutdruckanstieg im Rahmen akuter körperlicher oder psychischer Belastungen) kommt es zur Verletzung der Strukturen, die eine instabile Plaque decken. Das Ausmaß dieser Verletzung bestimmt offensichtlich mit über den weiteren Verlauf.

Reißt die Plaque komplett auf und ist ihr thrombogener Inhalt dem Blutstrom exponiert oder kommt es sogar zu einer Einblutung in die Plaque, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Gefäß komplett verschließt und einen transmuralen ST-Streckenhebungsinfarkt verursacht, sehr groß. Findet sich dagegen nur eine Erosion der oberflächlichen Endothelschicht mit Exposition der subendothelialen Schichten, entstehen bevorzugt nicht verschließende Gerinnsel, von deren Oberfläche Mikrothromben abreißen können, die wiederum kleinste Gefäße in der Mikrozirkulation verlegen. Solche Ereignisse entsprechen klinisch dem Bild des Nicht-ST-Streckenhebungsinfarktes, der nicht zu den transmuralen Ischämiezeichen in Form der ST-Strecken im EKG führt, sondern unter Umständen mit ST-Streckensenkungen, aber mit dem Nachweis von erhöhten Troponinwerten einhergeht. Der Thrombus kann spontan durch endogene Aktivität lysiert werden oder in Form einer narbigen Abheilung zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Stenose führen.

Bei der instabilen Angina pectoris fehlen diese Einzelzellnekrosen, die Troponinwerte bleiben demnach normal. Hier spielen häufig auch die bei der Arteriosklerose zu beobachtenden funktionellen Störungen (Stichwort „endotheliale Dysfunktion” mit paradoxer Gefäßengstellung) eine wichtige Rolle. Insbesondere Patienten mit Nicht-ST-Streckenhebungsinfarkt wie mit ST-Elevationsinfarkt sind demnach erheblich gefährdet, ischämiegetriggerte bösartige Rhythmusstörungen zu entwickeln. Darüber hinaus kann bei einem NSTEMI nicht vorausgesagt werden, ob es im Verlauf nicht doch noch zu einem kompletten Gefäßverschluss kommt und sich damit ein transmuraler Infarkt ereignet.

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Diagnostik

Der Verdacht auf ein akutes Koronarsyndrom muss bei Patienten geäußert werden, bei denen aus der Ruhe oder der minimalen Belastung heraus präkordiale Schmerzen mit Ausstrahlung in Nacken, Hals, Unterkiefer, Schulter, Arme bzw. Oberbauch zu finden sind. Das typische Alter der Patienten (Männer 50.-65. Lebensjahr, Frauen im Mittel 15 Jahre älter) und das Vorliegen klassischer Risikofaktoren (Rauchen, Hypercholesterinämie, Hypertonie, Diabetes mellitus) verstärken den diagnostischen Anfangsverdacht. Bei Patienten unter 30 Jahren ist ein akutes Koronarsyndrom sehr ungewöhnlich.

Weitere wichtige Hinweise auf ein schweres akutes Koronarsyndrom sind bestehende vegetative Symptome wie Blässe, Übelkeit, Erbrechen oder Kaltschweißigkeit. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass ältere Patienten - insbesondere auch ältere Frauen und Diabetiker - atypische oder sehr abgemilderte Symptome haben können.

Die Auskultation der Lunge ermöglicht die Erfassung von Stauungs- und Rasselgeräuschen, die auf eine gravierende Funktionsstörung des linken Ventrikels (Lungenstauung) hinweisen. Auch die Auskultation des Herzens gehört zur Basisuntersuchung eines Patienten mit akutem Koronarsyndrom. Insbesondere pathologische Geräusche über der Aortenklappe bzw. der Herzbasis (Aortenvitium, hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie) können Hinweise auf die Ursache der pektanginösen Beschwerden geben.

Leicht erhöhte oder hoch normale Blutdruckwerte sind eher willkommen, erlauben sie doch die problemlose Anwendung des gesamten therapeutischen Spektrums der symptomatischen Therapie. Bei der Blutdruckmessung wird gleichzeitig die Herzfrequenz festzustellen sein, die - falls massiv erhöht (Richtwert für eine bedrohliche Herzfrequenz ist eine Frequenz von 200-220 minus Alter des Patienten) - auch eine Angina pectoris auslösen kann. Bradykarde Herzfrequenzen bis etwa 40 Schläge/Minute tolerieren die Patienten in der Regel gut. Sie können eine Folge der vorbestehenden Therapie (z.B. Betablocker), aber auch ein Hinweis auf eine bradykarde Rhythmusstörung zum Beispiel im Rahmen des inferioren Myokardinfarkts sein.

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Apparative Diagnostik

Ganz im Vordergrund der technischen Untersuchungen steht das Zwölf-Kanal-EKG, das so früh wie möglich abgeleitet werden soll. Die prähospitale EKG-Registrierung ist eine unabdingbare Forderung der Leitlinien an den Notarzt [1] [6] [10], da sie nicht nur differenzialdiagnostisch, sondern auch für die therapeutischen Schritte von wesentlicher Bedeutung ist.

Falls Rhythmusstörungen vorliegen, dokumentiert das Zwölf-Kanal-EKG die Art der Störung eindeutig - ein entscheidender Faktor sowohl für die Primärbehandlung durch den Notarzt als auch für die Nachbehandlung im Krankenhaus. Damit ist das EKG ein unverzichtbares Schlüsselinstrument der Primärdiagnostik.

Findet sich im EKG eine ST-Streckenhebung von ≥ 0,1 mV in mindestens zwei zusammenhängenden Extremitätenableitungen oder ≥ 2 mV in mindestens zwei zusammenhängenden Brustwandableitungen ist die Diagnose eines ST-Streckenhebungsinfarkts bereits gesichert. Liegen nur ST-Streckensenkungen vor, ist die koronare Herzerkrankung bewiesen. Ein normales EKG allerdings schließt das Vorhandensein auch eines akuten lebensbedrohlichen Koronarsyndroms nicht aus. Dies ist insofern von Bedeutung, als zwar der Nachweis des bedrohlichen akuten Koronarsyndroms bei Klinik und EKG-Veränderungen eindeutig gelingt, wohingegen klinische Beschwerden ohne EKG-Veränderungen ein akutes Koronarsyndrom weder beweisen noch ausschließen. Klinisch verdächtige Patienten müssen daher grundsätzlich einige Stunden nachbeobachtet werden.

Weitere technische Untersuchungsverfahren wie beispielsweise die Messung der Sauerstoffsättigung (SaO2) spielen in der primären Infarktdiagnostik keine bedeutende Rolle. Bei klinischen Zeichen der Herzinsuffizienz (Lungenstauung, Atemnot) kann mithilfe der SaO2-Messung die Sauerstofftherapie so gesteuert werden, dass eine Sättigung von über 90 % aufrecht erhalten werden kann.

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Nekrosemarker

Troponine sind die spezifischen Marker des myokardialen Zelluntergangs, wobei Troponin T und Troponin I gleichermaßen wichtig sind. Der Nachweis pathologischer Werte gelingt innerhalb weniger Minuten mit so genannten Bedside-Tests mit großer Genauigkeit. Jedoch sind die Troponinwerte frühestens drei bis vier Stunden nach dem Symptombeginn (also dem potenziellen Beginn des Zelluntergangs) positiv.

Da die Krankheitszeichen der allermeisten Patienten, die vom Notarzt gesehen werden, nur wesentlich kürzer andauern, lohnt sich die routinemäßige Anwendung dieser relativ teuren Tests in der Prähospitalphase nicht. Die Troponinbestimmung sollte deshalb in der Regel erst nach stationärer Aufnahme erfolgen. Nur in Einzelfällen - zum Beispiel bei Vorliegen eines Linksschenkelblocks, schwer interpretierbarem Multi-Infarkt-EKG ohne alleinigen Nachweis von ST-Streckensenkungen und entsprechend langer Symptomdauer - kann ein solcher Test schon für die Notarztentscheidung hilfreich sein. Bei Vorliegen von ST-Streckenhebungen ist er überflüssig.

Die Kinetik der Troponinfreisetzung erklärt auch, warum Patienten mit Verdacht auf ein akutes Koronarsyndrom ohne ST-Streckenalteration regelhaft nachbeobachtet werden müssen. Bei einem Teil der Patienten finden sich erst in den Folgestunden bei serieller Messung erhöhte Troponinwerte. Man kann davon ausgehen, dass negative Befunde bis zu acht bis zehn Stunden nach Symptombeginn auch negativ bleiben und damit (bei Beschwerdefreiheit und unauffälligem EKG-Verlauf) ein akut erhöhtes Risiko des Patienten zunächst ausgeschlossen ist [7].

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Therapie und Zielkrankenhaus

Aus den oben aufgeführten diagnostischen Schritten entwickelt sich eine Arbeitsdiagnose als Grundlage für die Therapie. Dabei sind drei Problemkreise zu unterscheiden:

  • die symptomatische Therapie

  • die kausale Therapie

  • und mit letzterer Entscheidung verbunden: die Wahl des Zielkrankenhauses.

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Symptomatische Therapie

Die Gabe von Sauerstoff (4-8 l/min) und eine bequeme Lagerung mit leicht angehobenem Oberkörper sind Erstmaßnahmen. Ein frühzeitig gelegter venöser Verweilzugang sichert die Therapiemöglichkeit auch bei lebensbedrohlichen Komplikationen. Zudem ist eine kontinuierliche Monitorüberwachung notwendig.

Bei ausreichendem Blutdruck (> 100 mmHg) kann Nitro als Kapsel oder Spray (1 Kapsel/1 Hub) unter Blutdruckmessung - im Zweifelsfall auch wiederholt - gegeben werden. Bei deutlich höherem Blutdruck sind auch höhere Nitrodosen möglich. Vorsicht geboten ist jedoch bei relativ niedrigem Blutdruck und gleichzeitig auffälliger Bradykardie (höhergradige AV-Blockierung im EKG), da ein eventueller Blutdruckabfall nicht durch eine Frequenzsteigerung kompensiert werden kann. Unter der ungewöhnlichen Bedingung eines niedrigen Blutdrucks, verbunden mit einer höhergradigen atrioventrikulären Blockierung (AV-Block) bei gleichzeitig vorliegendem rechtsventrikulären Infarkt (erkennbar an einer ST-Streckenelevation in V4 rechts) kann die Nitrogabe lebensbedrohlich werden.

Von großer Bedeutung ist die Schmerztherapie. Sie hat nicht nur aus ethischen Gründen Vorrang, man entlastet damit auch das ischämiegeschädigte Herz. Das Standardmedikament ist heute Morphin, das in Einzeldosen von 3-5 mg in Abständen von wenigen Minuten gegeben wird. Eine eventuell auftretende Übelkeit ist nur von sehr kurzer Dauer und kann im Übrigen mit Metroclopamid bekämpft werden. Die Schmerztherapie soll so lange fortgesetzt werden, bis der Patient weitestgehend schmerzfrei ist. Nebenwirkungen im Sinne von Atemdepressionen oder Ähnlichem durch die wiederholte Morphingabe sind - selbst in hohen kumulativen Dosen von 30-40 mg - in der Situation des Herzinfarkts nicht zu befürchten.

Bei Patienten mit deutlicher Tachykardie (> 110 Schläge/Minute) kann die intravenöse Gabe eines Betablockers (z.B. Metoprolol 2,5-5 mg i.v.) hilfreich sein, wenn keine Schmerzen mehr bestehen und Zeichen der Herzinsuffizienz fehlen. Kurz wirksame Betablocker wie Esmolol haben in der Infarktbehandlung keinen Platz. Bei Sinusbradykardie, Sinusarrhythmie oder AV-Block II° Typ Wenckebach ist Atropin in der Regel in einer Dosis von 0,5 mg wirksam. Atropin hat jedoch keinen Effekt, wenn ein AV-Block II° Typ Mobitz bzw. AV-Block III° vorliegt.

Falls wesentliche hämodynamische Auswirkungen bestehen (auch beim liegenden Patienten), kann versucht werden, die Herzfrequenz mit niedrigen Dosen von Suprarenin (2-50 μg/kg/min) zu steigern. Im schlimmsten Fall muss - unter Umständen in Narkose wegen der Schmerzhaftigkeit - mit einem externen Schrittmachersystem geholfen werden.

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Kausale Therapie

Da dem akuten Koronarsyndrom regelhaft ein thrombotisches Geschehen zugrunde liegt, ist die antithrombotische Therapie von entscheidender Bedeutung. Standard beim akuten Koronarsyndrom ist heute die Gabe von Acetylsalicylsäure (ASS; mindestens 150 mg i.v.). Dies kann sicherheitshalber auch dann geschehen, wenn der Patient bereits chronisch ASS einnimmt. Die Antikoagulation mit einem Antithrombin erfolgt routinemäßig mit Standardheparin 60 U/kg, maximal jedoch 5000 U. Höhere Dosen gehen mit einer Erhöhung des Blutungsrisikos einher, ohne hilfreich zu sein.

Für weitere Therapieoptionen, wie zum Beispiel die frühzeitige Gabe von Clopidogrel oder Glykoprotein(GP)-IIb/IIIa-Rezeptorantagonisten vor einer geplanten Intervention liegen keine ausreichend gesicherten Daten vor, die den Notarzt zum prähospitalen Einsatz verpflichten würden.

Die nach Möglichkeit sofortige prähospitale Thrombolyse, der unmittelbare Transport zu einer primären Koronarintervention (PCI) und die Kombination beider Verfahren stehen für den Fall des ST-Streckenhebungsinfarkts prinzipiell zur Verfügung. Entscheidend für die Wahl des therapeutischen Prozedere sind einerseits die Symptomdauer und andererseits die Erreichbarkeit eines qualifizierten Interventionszentrums, insbesondere die Dauer bis zur tatsächlichen Durchführung der Intervention.

Letzteres ist besonders wichtig, da die Wirksamkeit einer Thrombolyse extrem vom Faktor Zeit abhängt ([2], [Abb. 2]). Ähnliches, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, gilt für die Koronarintervention [4]. Bei zeitgleichem Einsatz ist die Koronarintervention prinzipiell das überlegene Verfahren. Sie führt zu einer höheren Eröffnungsrate des Infarktgefäßes, birgt nicht das Risiko der intrakraniellen Blutung und geht mit einer niedrigeren Re-Infarktquote einher.

Ihr Nachteil ist allerdings, dass sie an die Durchführung durch ein erfahrenes Team gebunden ist, das an 365 Tagen im Jahr über 24 Stunden sofort zur Verfügung stehen muss. Zudem vergeht in jedem Fall Zeit bis bei dem Patienten die Koronarintervention, also die Eröffnung des Gefäßes, tatsächlich erfolgt. Keinen Sinn macht es allerdings, die reine Fahrtzeit zum Interventionszentrum mit diesem Zeitverlust gleichzusetzen. In der Regel ist dieser wesentlich größer und limitiert die Effizienz der Interventionsstrategie. Der mittlere Zeitverlust bei relativ günstiger Verfügbarkeit eines Katheterplatzes liegt in einer Größenordnung von 80-90 Minuten. Nur etwa 50 % der Patienten werden damit in einem Zeitrahmen behandelt, wie ihn die aktuell gültigen Leitlinien ([Tab. 1] und [2]) vorgeben.

Nachteil der Thrombolyse sind - neben den bereits erwähnten Risiken - bestehende Kontraindikationen (Tab. 3). Eine größere Untersuchung, welche die frühzeitige prähospitale Anwendung der Thrombolyse mit der Verbringung zur sofortigen Koronarintervention (PCI) vergleicht, ergab bezüglich des Endpunktes 'Schlaganfall, Tod und Re-Infarkt' keine Unterschiede zwischen beiden Vorgehensweisen (3). Wurden die Patienten innerhalb der ersten beiden Stunden nach Symptombeginn behandelt, war die Lyse der Intervention bezüglich der Sterblichkeit tendenziell überlegen [9]. In einer anderen Untersuchung war die Lyse mit Streptokinase innerhalb der ersten drei Stunden nach Symptombeginn der Verlegung zur perkutanen Koronarintervention hinsichtlich der Sterblichkeit gleichwertig [11].

Laut den Ergebnissen einer Metaanalyse [8] dürfen zwischen potenziellem Beginn der Lyse und Balloninflation bei der Intervention maximal 60 Minuten vergehen, bei größeren Zeitintervallen ist die Lyse der PCI im Bezug auf die Sterblichkeit überlegen. Bezüglich des dreifachen Endpunktes 'Tod, Re-Infarkt und Schlaganfall' war in dieser Metaanalyse ein Zeitverlust von 90 Minuten zu tolerieren. Denkbar ist, dass das so genannte „Facilitated-PCI”-Konzept die günstigste Therapieoption ist. Dieses Konzept, das eine initiale Thrombolyse prähospital oder im peripheren Krankenhaus mit einer baldmöglichst anschließenden Koronarintervention verbindet, wird derzeit in mehreren Studien geprüft.

Aus diesem sehr komplexen Sachverhalt lässt sich für den Notarzt für seine Therapieentscheidung bei ST-Hebungsinfarkt Folgendes ableiten, wobei sich die Probleme am besten in einem Netzwerk in Zusammenarbeit zwischen Rettungsdienst, Interventionszentren und peripheren Kliniken lösen lassen:

  • die Symptomdauer ist für die Therapiewahl von überragender Bedeutung

  • der Notarzt muss über die Infrastruktur möglicher Zielkrankenhäuser (Verfügbarkeit der Intervention) informiert sein

  • die Zeit zwischen potenziellem Lysebeginn und Intervention sollte nach Möglichkeit 60 Minuten und keinesfalls 90 Minuten übersteigen (dabei ist zu berücksichtigen, dass bei einer Symptomdauer von zum Beispiel einer Stunde ein Zeitverlust von 60 Minuten oder 90 Minuten eine völlig andere Bedeutung haben wird, als bei einer Symptomdauer von vielleicht neun oder zehn Stunden!)

  • darüber hinaus muss der Notarzt auch im Auge behalten, dass er die Funktionsfähigkeit des lokalen Rettungssystems nicht durch lange Transportwege beeinträchtigt.

Die jüngsten Leitlinien der American Heart Association [1] versuchen, diese komplexe Problematik in Ergänzung der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie differenziert abzubilden [Abb. 3].

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Nicht-ST-Streckenhebungsinfarkt

Patienten mit akutem Koronarsyndrom ohne ST-Streckenhebung müssen in einer Nachbeobachtungsphase von mehreren Stunden differenzialdiagnostisch abgeklärt werden. Insbesondere für Patienten mit erkennbar erhöhtem Risiko (hämodynamische oder Rhythmusinstabilität, Diabetes mellitus, deutliche ST-Streckensenkungen im EKG oder bereits nachgewiesene erhöhte Troponinwerte) sollten - sofern es die lokale Logistik zulässt - primär bereits in ein Interventionszentrum verbracht werden, weil auch bei diesen Patienten eine frühe Intervention von Nutzen ist.

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Abb. 1

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Abb. 2 Zeitverluste innerhalb der ersten Stunden sind von wesentlich größerer Bedeutung als lange nach Symptombeginn

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Abb. 3

Tab. 1 Stufenempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zur Therapie des ST-Streckenhebungsinfarkts

Rang

Maßnahme

Evidenz

Empfehlungsstärke/Evidenz

1

primäre PCI innerhalb von zwei Stunden (contact-to-balloon)

mehrere randomisierte Studien

I-A

2

prästationäre Lyse mit anschließender Verbringung ins Krankenhaus mit PCI

eine randomisierte Studie

I-B

3

prästationäre Lyse und Verbringung ins Krankenhaus ohne PCI

mehrere randomisierte Studien

I-A

4

stationäre Lyse

viele randomisierte Studien

I-A

nach [6]

Tab. 2 Zeitlimits für die empfohlenen Vorgehensweisen zur Reperfusion

Erstkontakt bis prästationäre Fibronlyse („contact-to-needle”)

< 30 Minuten

Einleitung der Fibrinolyse stationär („door-to-needle”)

< 30 Minuten

maximal tolerabler Zeitverlust PCI versus Lyse

90 Minuten

Erstkontakt bis PCI („contact-to-balloon”)

< 120 Minuten

Einleitung der primären PCI („door-to-balloon”)

mit Ankündigung

< 30 Minuten

ohne Ankündigung

< 60 Minuten

nach den Leitlinien der DGK [6]

Tab. 3 Kontraindikationen zur Thrombolyse

Kontraindikationen

relative Kontraindikationen

  • Schlaganfall

  • Trauma, Operation, Kopfverletzung innerhalb der letzten drei Wochen

  • Magen-Darm-Blutung innerhalb des letzten Monats

  • bekannte Blutungsdiathese

  • dissezierendes Aortenaneurysma

  • transitorische ischämische Attacke in den letzten sechs Monaten

  • Dicumarol-Therapie

  • Schwangerschaft

  • nichtkomprimierbare Gefäßpunktionen

  • therapierefraktäre Hypertonie < 180 mmHg

nach den Leitlinien der DGK [6]

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Literatur

  • 1 Antman EM, Anbe DT, Armstrong PW. et al. . ACC/AHA guidelines for the management of patients with ST-elevation myocardial infarction - executive summary. A report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines (Writing Committee to revise the 1999 guidelines for the management of patients with acute myocardial infarction).  J Am Coll Cardiol. 2004;  44 671-719
  • 2 Boersma E, Maas ACP, Deckers JW. et al. . Early thrombolytic treatment in acute myocardial infarction: reappraisal of the golden hour.  Lancet. 1996;  348 771-775
  • 3 Bonnefoy E, Lapostolle F, Leizorovicz A. et al. . Primary angioplasty versus prehospital fibrinolysis in acute myocardial infarction: a randomised study. Comparison of Angioplasty and Prehospital Thrombolysis in Acute Myocardial Infarction (CAPTIM) study group.  Lancet. 2002;  360 825-829
  • 4 De Luca G, Suryapranata H, Ottervanger JP, Antman EM. Time delay to treatment and mortality in primary angioplasty for acute myocardial infarction: every minute of delay counts.  Circulation. 2004;  109 1223-1225
  • 5 European Society of Cardiology/American College of Cardiology Committee. . Myocardial infarction redefined - a consensus document of The Joint European Society of Cardiology/American College of Cardiology Committee for the redefinition of myocardial infarction.  Eur Heart. 2000;  21 1502-1513
  • 6 Hamm C, Arntz HR, Bode C. et al. . Leitlinien: Akutes Koronarsyndrom (ACS) Teil 2: ACS mit ST-Hebung.  Z Kardiol (www.dgk.org/leitlinien/index.aspx). 2004;  93 324-341
  • 7 Hamm CW, Goldmann BU, Heeschen C. et al. . Emergency room triage of patients with acute chest pain by means of rapid testing for cardiac troponin T or troponin I.  N Engl J Med. 1997;  337 1648-1653
  • 8 Nallamothu B, Bates ER. Percutaneous coronary intervention versus fibrinolytic therapy in acute myocardial infarction: is timing (almost) everything?.  Am J Cardiol. 2003;  92 824-826
  • 9 Steg PG, Bonnefoy E, Chaubaud S. et al. . Impact of time to treatment on mortality after prehospital fibrinolysis or primary angioplasty.  Circulation. 2003;  108 2851-2856
  • 10 Van de Werf F, Ardissino D, Betriu A. et al. . Management of acute myocardial infarction in patients presenting with ST-segment elevation.  The Task Force on the Management of Acute Myocardial Infarction of the European Society of Cardiology.  Eur Heart J. 2003;  24 28-66
  • 11 Widimsky P, Budesinsky T, Vorac D. et al. . Long distance transport for primary angioplasty vs immediate thrombolysis in acute myocardial infarction. Final results of the randomized national multicentre trial - PRAGUE-2.  Eur Heart J. 2003;  24 94-104
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Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. Hans-Richard Arntz

Medizinische Klinik II

Charité, Campus Benjamin Franklin

Hindenburgdamm 30

12200 Berlin

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Literatur

  • 1 Antman EM, Anbe DT, Armstrong PW. et al. . ACC/AHA guidelines for the management of patients with ST-elevation myocardial infarction - executive summary. A report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Practice Guidelines (Writing Committee to revise the 1999 guidelines for the management of patients with acute myocardial infarction).  J Am Coll Cardiol. 2004;  44 671-719
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Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. Hans-Richard Arntz

Medizinische Klinik II

Charité, Campus Benjamin Franklin

Hindenburgdamm 30

12200 Berlin

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Abb. 1

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Abb. 2 Zeitverluste innerhalb der ersten Stunden sind von wesentlich größerer Bedeutung als lange nach Symptombeginn

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Abb. 3