Der Begriff Inkontinenz wird im täglichen Sprachgebrauch häufig allein für die fehlende
Kontrolle der Harnblasenfunktion verwendet; an Stuhlinkontinenz wird seltener gedacht.
Darüber hinaus, so Ansatz einer in Schweden durchgeführten Studie, werde Harninkontinenz
häufig in erster Linie als medizinisches Problem von Frauen, und dabei vor allem von
jüngeren Frauen gesehen. Wie hoch die Prävalenz von Harn- und Stuhlinkontinenz bei
alten Menschen über 75 Jahren ist, und wie die Symptome mit anderen gesundheitlichen
Beschwerden und Lebensqualität der Betroffenen zusammenhängen, hatten Stenzelius et
al. mithilfe von Fragebogen untersucht (Neurourol. Urodynam. 2004; 23: 211- 222).
8500 Frauen und Männer im Alter über 75 Jahre waren angeschrieben worden. 4277 (50%)
Personen hatten den Fragebogen beantwortet, die meisten von ihnen Frauen (62%). Stratifiziert
nach Alter, war die Responderrate bei jüngeren Personen am höchsten (75-79 Jahre:
60%), während die niedrigste Rücklaufrate in der ältesten Gruppe zu verzeichnen war
(Å 90 Jahre: 42%). Der Fragebogen umfasste Aspekte zu Schwierigkeiten bei der Harn-
bzw. Stuhlkontrolle, zu weiteren gesundheitlichen Beschwerden und zum sozioökonomischen
Hintergrund der Befragten.
In der Auswertung berichteten 39% aller Responder eine Harninkontinenz, wobei die
Prävalenz bei Frauen höher lag als bei Männern (42 vs. 35%). Stuhlinkontinenzsymtome
wurden von etwa 17% der Befragten angegeben, ohne signifikante Unterschiede zwischen
beiden Geschlechtern. Eine kombinierte Inkontinzenz - Stuhl und Harn - berichteten
14,5%. Insgesamt stiegen die Prävalenzen mit zunehmendem Alter, wobei Inkontinenz-Betroffene
auch häufiger gesundheitliche Beschwerden anderer Art angaben. Am meisten gesundheitlich
beeinträchtigt waren Personen, die eine kombinierte Harn- und Stuhlinkontinenz berichteten.
Als Risikofaktoren für eine Harninkontinenz wurden Gedächtnisschwächen und Sprechprobleme
(Odds Ratio [OR] 1,7 bzw. 1,25), Probleme beim Gehen und Mobilitätseinschränkungen
(OR 1,63 bzw. 1,23) und andere Beschwerden der Harnorgane (OR 1,37) identifiziert.
Stuhlinkontinenz war eng mit Diarrhö (OR 6,77) und Magenschmerzen (OR 1,86) verknüpft.
Eine kombinierte Inkontinenz betraf insbesondere Personen mit Diarrhö (OR 7,72), mit
weiteren Beschwerden der Harnorgane (OR 2,29), Gedächtnisproblemen (OR 2,26) und Schwierigkeiten
beim Sprechen (OR 2,13).
Fazit
Fazit
Inkontinenz, so die Autoren, stellt demzufolge ein häufiges Leiden bei älteren Menschen
und scheint dabei auch in negativer Weise das gesamte Leben der Betroffenen zu beeinflussen.
Daher sollte einerseits der Inkontinenz selbst, aber auch den begleitenden bzw. zugrunde
liegenden Problemen z. B. bei Mobilität und Kommunikation mehr Aufmerksamkeit gewidmet
werden.
Erster Kommentar
Erster Kommentar
Die Gesellschaft ist gefragt
Ältere Menschen, die keinen Zugang zu einer optimalen ärztlichen Versorgung ihrer
Gesundheitsprobleme haben, unterliegen nach der Studie von K. Stenzelius et al. einem
höherem Risiko, eine Harn- und/oder Stuhlinkontinenz zu entwickeln.
Wie in vielen anderen Bereichen ist auch hier einmal mehr unsere Gesellschaft gefragt,
geeigneten prophylaktischen Maßnahmen wie Geh- und Toilettentraining, Integration
in die Gesellschaftsstruktur zur Förderung der Kommunikationsfähigkeit, einen höheren
Stellenwert beizumessen als es bisher geschieht.
Fehlendes Geld im Gesundheitssystem kann kein Argument sein, wenn man bedenkt, dass
die Kosten für Inkontinenzhilfen jährlich in die Milliarden gehen.
Dr. Brigitte Willer, Villingen-Schwenningen
Zweiter Kommentar
Zweiter Kommentar
O. Schlarp
Artikel spiegelt ein brandaktuelles Problem wider!
Der in Neurourology and Urodynamics vorgestellte Artikel ist in mehrerer Hinsicht
von interessanter Aktualität. Gerade in der heutigen Zeit sind Überlegungen über die
Finanzierbarkeit des öffentlichen Gesundheitswesens an der Tagesordnung, wobei ein
Großteil der Kosten durch die Generation 75+ verursacht wird. Durch die Zunahme der
mittleren Lebenserwartung haben wir in den letzten 15 Jahren gerade bei der Inkontinenz
einen deutlichen Anstieg der Prävalenz vermerken müssen. Die Rate an zerebral verursachten
Blasenentleerungsstörungen ist ebenfalls angestiegen. Harnwegsinfektionen, oft durch
Diabetes mellitus begünstigt, und die daraus resultierende Urgency-Frequency-Symptomatik
bis hin zur Dranginkontinenz werden an Häufigkeit zunehmen. Westeuropäische Ernährungsgewohnheiten,
in Kombination mit verringerter Flüssigkeitsaufnahme in höherem Alter haben und werden
zu einer vermehrten Rate an Obstipation und Defäkationsstörungen wie Stuhlinkontinenz
führen.
Die Schwierigkeit, mit der diese Arbeit zu kämpfen hat, ist die Datenerfassung, welche
gerade bei der Generation 85+ eine echte Herausforderung darstellt. Nebst der gleichzeitigen
Erfassung der Begleitsymptome und der Frage nach der Lebensqualität stellt gerade
diese Datenerhebung bei diesem schwierigen Patientenkollektiv eine der größten Stärken
dieser Arbeit dar. In der Vergangenheit wurden Erhebungen über Inkontinenz meistens
an weiblichen Kollektiven durchgeführt. Der Mann auch im Mittelpunkt der Arbeit, ist
eine, vor allem aus urologischer Sicht, durchaus begrüßenswerte Erscheinung. Der in
der Arbeit geschilderte Umstand, dass die Prävalenz der Inkontinenz mit zunehmendem
Alter ansteigt, ist ein wichtiges Phänomen. Interessant ist auch, dass die Prävalenz
der Harninkontinenz bei Männern nur unwesentlich geringer ist als die der Frauen,
vor allem in der Altersgruppe bei den 85-89-Jährigen. Dies ist zumeist auf die BPH-
induzierte Urgency-Symptomatik zurückzuführen. Wie erwartet, gibt es kaum Geschlechtsunterschiede
bei der Prävalenz an fäkaler Inkontinenz über alle Altersgruppen. Das Überwiegen an
"anderen Symptomen als Inkontinenz" in der männlichen Population, obgleich diese Frage
nicht näher subspezifiziert wurde, entspricht ebenfalls den gängigen Erwartungen.
Zu den größten Risikofaktoren sowohl für Harninkontinenz als auch kombinierte Harn- und
Stuhlinkontinenz zählen eine Einschränkung der Mobilität, die oft ein rechtzeitiges
Erreichen der Toilette unmöglich macht, als auch Sprach- und Gedächtnisprobleme im
Sinne einer demenziellen oder Schlaganfallserkrankung. Geeignete therapeutische Ansätze
zur Lösung des Problems der Inkontinenz durch Hirnleistungsschwäche sind bis zum heutigen
Tag noch nicht in zufrieden stellendem Ausmaß gefunden worden. Die Tatsache, dass
jeder 6. an einer mehr oder minder stark ausgeprägten Form der Diarrhö sowie jeder
4. an einer Form der Obstipation leidet, sollte uns Urologen dazu anregen, dieser
Fragestellung in unserer urologischen Anamnese mehr Bedeutung zu zu messen. Ebenfalls
sollte dies im Falle der Evaluierung der Lebensqualität durch die Auswertung verschiedener
Fragebögen geschehen. Dies ist in dieser Arbeit entsprechend berücksichtigt worden.
Nicht überraschend war dabei der negative Einfluss der Inkontinenz auf die Lebensqualität.
Zusammenfassend spiegelt dieser Artikel ein brandaktuelles Problem wider, welches
auch in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Erst die Erforschung der komplexen Zusammenhänge
zwischen dem Auftreten von Inkontinenz und organischem Substanzverlust des Gehirns
mit zunehmendem Alter wird uns in Zukunft das Verständnis für diese Erkrankung erleichtern.
Die Schwierigkeit in der Therapie besteht in der Vernetzung der verschiedenen Spezialitäten,
ärztlicher sowie pflegerischer Art, wie z.B. der Zusammenarbeit zwischen geriatrisch
tätigen Internisten, Neurologen, Logopäden, Physiotherapeuten und nicht zuletzt den
Angehörigen um mit dieser Erkrankung richtig umgehen lernen zu können.
Dritter Kommentar
Dritter Kommentar
Die Inkontinenz - das verschwiegene und unbehandelte Problem
Bereits in der Definition der Inkontinenz wird von vielen Autoren nicht nur der Urin-
oder Stuhlverlust aufgeführt, sondern auch ebenso deren Folgeerscheinungen: die soziale,
hygienische, medizinische und psychologische Beeinträchtigung.
Ebenso ist die Zunahme des Auftretens der Inkontinenz mit zunehmendem Alter bekannt,
ebenso, dass insbesondere in hohem Alter sich die Betroffenen einer ärztlichen Diagnose
und Therapie entziehen - die Dunkelziffer ist hoch.
Nun gelang es den Autoren mittels Befragung einer randomisierten altersbezogenen Bevölkerungsgruppe
in Schweden gezielt Prävalenzen für Harn-, Stuhl- und Doppelinkontinenz für ältere
Menschen als 75 Jahre zu erheben.
Überraschend erscheint hierbei weniger die tatsächliche Höhe der Prävalenzen an sich
und ihre nachteiligen Folgen in allen Lebensbereichen. Entscheidend erscheint vielmehr
die Wechselwirkung zwischen "zusätzlichen Erkrankungen" und Beschwerden, welche sich
vice versa in ihrer Ausprägung beeinflussen. Somit ist es wichtig, die Inkontinenz
in die Therapieplanung eines medizinischen Gesamtproblems einzubeziehen.
Auf die Beantwortung einer Frage müssen wir jedoch weiter warten, obwohl es derzeit
zumindest für die Harninkontinenz viele verschiedene konservative und auch operativ
minimalinvasive Therapieoptionen gibt: "Warum begeben sich die Betroffenen nicht in
ärztliche Behandlung?"
Prof. Dr. Schahnaz Alloussi, Dr. Ch. Lang, Neunkirchen