Aktuelle Urol 2005; 36(2): 96-98
DOI: 10.1055/s-2005-870032
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Harn- und Stuhlinkontinenz - Häufigkeit, Symptome und Lebensqualität bei älteren Menschen

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Publication Date:
18 May 2005 (online)

 
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Der Begriff Inkontinenz wird im täglichen Sprachgebrauch häufig allein für die fehlende Kontrolle der Harnblasenfunktion verwendet; an Stuhlinkontinenz wird seltener gedacht. Darüber hinaus, so Ansatz einer in Schweden durchgeführten Studie, werde Harninkontinenz häufig in erster Linie als medizinisches Problem von Frauen, und dabei vor allem von jüngeren Frauen gesehen. Wie hoch die Prävalenz von Harn- und Stuhlinkontinenz bei alten Menschen über 75 Jahren ist, und wie die Symptome mit anderen gesundheitlichen Beschwerden und Lebensqualität der Betroffenen zusammenhängen, hatten Stenzelius et al. mithilfe von Fragebogen untersucht (Neurourol. Urodynam. 2004; 23: 211- 222).

8500 Frauen und Männer im Alter über 75 Jahre waren angeschrieben worden. 4277 (50%) Personen hatten den Fragebogen beantwortet, die meisten von ihnen Frauen (62%). Stratifiziert nach Alter, war die Responderrate bei jüngeren Personen am höchsten (75-79 Jahre: 60%), während die niedrigste Rücklaufrate in der ältesten Gruppe zu verzeichnen war (Å  90 Jahre: 42%). Der Fragebogen umfasste Aspekte zu Schwierigkeiten bei der Harn- bzw. Stuhlkontrolle, zu weiteren gesundheitlichen Beschwerden und zum sozioökonomischen Hintergrund der Befragten.

In der Auswertung berichteten 39% aller Responder eine Harninkontinenz, wobei die Prävalenz bei Frauen höher lag als bei Männern (42 vs. 35%). Stuhlinkontinenzsymtome wurden von etwa 17% der Befragten angegeben, ohne signifikante Unterschiede zwischen beiden Geschlechtern. Eine kombinierte Inkontinzenz - Stuhl und Harn - berichteten 14,5%. Insgesamt stiegen die Prävalenzen mit zunehmendem Alter, wobei Inkontinenz-Betroffene auch häufiger gesundheitliche Beschwerden anderer Art angaben. Am meisten gesundheitlich beeinträchtigt waren Personen, die eine kombinierte Harn- und Stuhlinkontinenz berichteten.

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Als Risikofaktoren für eine Harninkontinenz wurden Gedächtnisschwächen und Sprechprobleme (Odds Ratio [OR] 1,7 bzw. 1,25), Probleme beim Gehen und Mobilitätseinschränkungen (OR 1,63 bzw. 1,23) und andere Beschwerden der Harnorgane (OR 1,37) identifiziert. Stuhlinkontinenz war eng mit Diarrhö (OR 6,77) und Magenschmerzen (OR 1,86) verknüpft. Eine kombinierte Inkontinenz betraf insbesondere Personen mit Diarrhö (OR 7,72), mit weiteren Beschwerden der Harnorgane (OR 2,29), Gedächtnisproblemen (OR 2,26) und Schwierigkeiten beim Sprechen (OR 2,13).

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Fazit

Inkontinenz, so die Autoren, stellt demzufolge ein häufiges Leiden bei älteren Menschen und scheint dabei auch in negativer Weise das gesamte Leben der Betroffenen zu beeinflussen. Daher sollte einerseits der Inkontinenz selbst, aber auch den begleitenden bzw. zugrunde liegenden Problemen z. B. bei Mobilität und Kommunikation mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Dr. Katrin Appel, Essen

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Erster Kommentar

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Die Gesellschaft ist gefragt

Ältere Menschen, die keinen Zugang zu einer optimalen ärztlichen Versorgung ihrer Gesundheitsprobleme haben, unterliegen nach der Studie von K. Stenzelius et al. einem höherem Risiko, eine Harn- und/oder Stuhlinkontinenz zu entwickeln.

Wie in vielen anderen Bereichen ist auch hier einmal mehr unsere Gesellschaft gefragt, geeigneten prophylaktischen Maßnahmen wie Geh- und Toilettentraining, Integration in die Gesellschaftsstruktur zur Förderung der Kommunikationsfähigkeit, einen höheren Stellenwert beizumessen als es bisher geschieht.

Fehlendes Geld im Gesundheitssystem kann kein Argument sein, wenn man bedenkt, dass die Kosten für Inkontinenzhilfen jährlich in die Milliarden gehen.

Dr. Brigitte Willer, Villingen-Schwenningen

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Zweiter Kommentar

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O. Schlarp

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Artikel spiegelt ein brandaktuelles Problem wider!

Der in Neurourology and Urodynamics vorgestellte Artikel ist in mehrerer Hinsicht von interessanter Aktualität. Gerade in der heutigen Zeit sind Überlegungen über die Finanzierbarkeit des öffentlichen Gesundheitswesens an der Tagesordnung, wobei ein Großteil der Kosten durch die Generation 75+ verursacht wird. Durch die Zunahme der mittleren Lebenserwartung haben wir in den letzten 15 Jahren gerade bei der Inkontinenz einen deutlichen Anstieg der Prävalenz vermerken müssen. Die Rate an zerebral verursachten Blasenentleerungsstörungen ist ebenfalls angestiegen. Harnwegsinfektionen, oft durch Diabetes mellitus begünstigt, und die daraus resultierende Urgency-Frequency-Symptomatik bis hin zur Dranginkontinenz werden an Häufigkeit zunehmen. Westeuropäische Ernährungsgewohnheiten, in Kombination mit verringerter Flüssigkeitsaufnahme in höherem Alter haben und werden zu einer vermehrten Rate an Obstipation und Defäkationsstörungen wie Stuhlinkontinenz führen.

Die Schwierigkeit, mit der diese Arbeit zu kämpfen hat, ist die Datenerfassung, welche gerade bei der Generation 85+ eine echte Herausforderung darstellt. Nebst der gleichzeitigen Erfassung der Begleitsymptome und der Frage nach der Lebensqualität stellt gerade diese Datenerhebung bei diesem schwierigen Patientenkollektiv eine der größten Stärken dieser Arbeit dar. In der Vergangenheit wurden Erhebungen über Inkontinenz meistens an weiblichen Kollektiven durchgeführt. Der Mann auch im Mittelpunkt der Arbeit, ist eine, vor allem aus urologischer Sicht, durchaus begrüßenswerte Erscheinung. Der in der Arbeit geschilderte Umstand, dass die Prävalenz der Inkontinenz mit zunehmendem Alter ansteigt, ist ein wichtiges Phänomen. Interessant ist auch, dass die Prävalenz der Harninkontinenz bei Männern nur unwesentlich geringer ist als die der Frauen, vor allem in der Altersgruppe bei den 85-89-Jährigen. Dies ist zumeist auf die BPH- induzierte Urgency-Symptomatik zurückzuführen. Wie erwartet, gibt es kaum Geschlechtsunterschiede bei der Prävalenz an fäkaler Inkontinenz über alle Altersgruppen. Das Überwiegen an "anderen Symptomen als Inkontinenz" in der männlichen Population, obgleich diese Frage nicht näher subspezifiziert wurde, entspricht ebenfalls den gängigen Erwartungen. Zu den größten Risikofaktoren sowohl für Harninkontinenz als auch kombinierte Harn- und Stuhlinkontinenz zählen eine Einschränkung der Mobilität, die oft ein rechtzeitiges Erreichen der Toilette unmöglich macht, als auch Sprach- und Gedächtnisprobleme im Sinne einer demenziellen oder Schlaganfallserkrankung. Geeignete therapeutische Ansätze zur Lösung des Problems der Inkontinenz durch Hirnleistungsschwäche sind bis zum heutigen Tag noch nicht in zufrieden stellendem Ausmaß gefunden worden. Die Tatsache, dass jeder 6. an einer mehr oder minder stark ausgeprägten Form der Diarrhö sowie jeder 4. an einer Form der Obstipation leidet, sollte uns Urologen dazu anregen, dieser Fragestellung in unserer urologischen Anamnese mehr Bedeutung zu zu messen. Ebenfalls sollte dies im Falle der Evaluierung der Lebensqualität durch die Auswertung verschiedener Fragebögen geschehen. Dies ist in dieser Arbeit entsprechend berücksichtigt worden. Nicht überraschend war dabei der negative Einfluss der Inkontinenz auf die Lebensqualität.

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Zusammenfassend spiegelt dieser Artikel ein brandaktuelles Problem wider, welches auch in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Erst die Erforschung der komplexen Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Inkontinenz und organischem Substanzverlust des Gehirns mit zunehmendem Alter wird uns in Zukunft das Verständnis für diese Erkrankung erleichtern. Die Schwierigkeit in der Therapie besteht in der Vernetzung der verschiedenen Spezialitäten, ärztlicher sowie pflegerischer Art, wie z.B. der Zusammenarbeit zwischen geriatrisch tätigen Internisten, Neurologen, Logopäden, Physiotherapeuten und nicht zuletzt den Angehörigen um mit dieser Erkrankung richtig umgehen lernen zu können.

Dr. Oliver Schlarp

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Dritter Kommentar

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Die Inkontinenz - das verschwiegene und unbehandelte Problem

Bereits in der Definition der Inkontinenz wird von vielen Autoren nicht nur der Urin- oder Stuhlverlust aufgeführt, sondern auch ebenso deren Folgeerscheinungen: die soziale, hygienische, medizinische und psychologische Beeinträchtigung.

Ebenso ist die Zunahme des Auftretens der Inkontinenz mit zunehmendem Alter bekannt, ebenso, dass insbesondere in hohem Alter sich die Betroffenen einer ärztlichen Diagnose und Therapie entziehen - die Dunkelziffer ist hoch.

Nun gelang es den Autoren mittels Befragung einer randomisierten altersbezogenen Bevölkerungsgruppe in Schweden gezielt Prävalenzen für Harn-, Stuhl- und Doppelinkontinenz für ältere Menschen als 75 Jahre zu erheben.

Überraschend erscheint hierbei weniger die tatsächliche Höhe der Prävalenzen an sich und ihre nachteiligen Folgen in allen Lebensbereichen. Entscheidend erscheint vielmehr die Wechselwirkung zwischen "zusätzlichen Erkrankungen" und Beschwerden, welche sich vice versa in ihrer Ausprägung beeinflussen. Somit ist es wichtig, die Inkontinenz in die Therapieplanung eines medizinischen Gesamtproblems einzubeziehen.

Auf die Beantwortung einer Frage müssen wir jedoch weiter warten, obwohl es derzeit zumindest für die Harninkontinenz viele verschiedene konservative und auch operativ minimalinvasive Therapieoptionen gibt: "Warum begeben sich die Betroffenen nicht in ärztliche Behandlung?"

Prof. Dr. Schahnaz Alloussi, Dr. Ch. Lang, Neunkirchen

 
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O. Schlarp

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