Die Fortschritte in der Molekularbiologie und Computertechnologie haben in den letzten
Jahren den Fokus der Erforschung seelischer Störungen von der differenzierten Beschreibung
der Psychopathologie, von Epidemiologie, Psychodynamik und Verlauf hin zum Verständnis
der somatischen Basis verlagert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei - neben der
Neurobiologie - auch im Verständnis der Interaktion neuronaler Prozesse mit peripheren
metabolischen Abläufen, die Auswirkungen auf das vaskuläre Risikoprofil der Betroffenen
und damit die Lebenserwartung haben.
Affektive Störungen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in der
Primärversorgung. Auf der Zellebene sprechen ältere neurochemische Befunde für eine
Störung in der serotonergen bzw. noradrenergen Neurotransmission (Monoamin-Hypothese).
Neuroendokrinologische Daten weisen außerdem auf eine Regulationsstörung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse
mit Hyperkortisolismus sowie auf Störungen des peripheren Lipidmetabolismus, der Insulinresistenz
sowie der Schilddrüsenfunktion hin. Tierexperimentelle Befunde sprechen für Veränderungen
der synaptischen sowie glialen Plastizität sowie der Neuroneogenese. Auch ein Mangel
an Neurotrophinen ist seit kurzem beschrieben.
Diese Befunde haben die vorbestehenden Modelle zur Pathogenese der Depressionen dahingehend
erweitert, dass depressive Störungen nicht primär nur ein Monoamin-Defizit darstellen,
sondern Ausdruck gestörter neuronaler Plastizität mit fortlaufend verändertem „Dialog
zwischen Synapsen und Genen” sind. Über den Mangel an Monoaminen, dem Fehlen neurotropher
Faktoren wie z.B. BDNF, Neuropeptidveränderungen, der Inhibition der Neuroneogenese
sowie der gestörten Bildung von Transkriptionsfaktoren auch durch z.B. Kortisol („chronischer
Stress”) verliert das Gehirn vorübergehend seine plastische Fähigkeit zur notwendigen
Anpassung an die Herausforderungen der Umwelt. Dies führt in der Summation mit Vulnerabilitätsgenen
(z.B. Serotonin-Transporter-Gen), frühkindlicher Traumatisierung, Umweltfaktoren,
gestörter Regulation der Stresssysteme und unzureichenden Bewältigungsstrategien auf
der Verhaltensebene zu dem bekannten klinischen Phänomen einer depressiven Störung.
Auf der Systemebene sind Gemütserkrankungen korreliert mit Störungen der Interaktion
von spezifischen Hirnarealen, deren Entdeckung auf histomorphologischen Befunden sowie
insbesondere auf den Ergebnissen funktionell-bildgebender Verfahren beruht. Darauf
aufbauend wurden in den letzten Jahren Netzwerkmodelle zur Affektmodulation und zur
depressiven Störung entwickelt. Danach kommt den rostralen Anteilen des anterioren
Gyrus Cinguli eine wichtige regulatorische Rolle bei der neuronalen Interaktion zwischen
den dorsalen (Aufmerksamkeit, Kognition, Bewertung) und ventralen (Vitalfunktionen,
Vegetativum, Affekte) Hirnanteilen zu. Eine depressive Störung ist assoziiert mit
einer Störung der koordinierten Interaktion von entwicklungsgeschichtlich jüngeren,
dorsalen und entwicklungsgeschichtlich älteren, ventralen kortikal-subkortikalen Regionen.
Im Rahmen dieses Schwerpunktsheftes soll den Lesern in diesem Kontext ein Überblick
über neuere Aspekte zur Pathophysiologie und medikamentösen Therapie der Depressionen
gegeben werden. Kritisch wird von Eberhard Fuchs und Gabriele Flügge (Göttingen) auf
der Zellebene die Depression als Störung der Neuroplastizität diskutiert, die bildgebenden
Befunde auf der Systemebene werden von Christian Vollmert und Dieter F. Braus (Hamburg)
referiert, und Daniel Kopf und Michael Deuschle (Mannheim) sensibilisieren für die
Bedeutung der peripheren Störung des Lipidmetabolismus und der Insulinresistenz. Abschließend
werden darauf aufbauend praktische Hinweise zur Optimierung der aktuellen medikamentösen
Therapiestrategien von Stephanie Krüger (Dresden) gegeben.
Zukünftige Untersuchungen werden zeigen, inwieweit sich diese Entwicklungen eignen,
biologische Subgruppen unter den affektiven Störungen besser zu identifizieren, das
Risikoprofil der Betroffenen zu reduzieren und die therapeutischen Optionen im Einzelfall
in Ergänzung zur Psychotherapie weiter zu verbessern.