Das „Monoamin-Defizit” galt lange als eine der entscheidenden neurobiologischen Ursachen
von Depressionen und bestimmte über viele Jahre die Forschung auf diesem Gebiet. Nach
dieser Hypothese sind depressive Erkrankungen primär auf ein zerebrales Defizit der
monoaminergen Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und/oder Dopamin zurückzuführen.
Diese Vorstellung führte u.a. zur Entwicklung der Gruppe der spezifischen Monoamin-Wiederaufnahmehemmer,
welche die klassischen Antidepressiva wie Monoaminoxidase-Inhibitoren oder trizyklische
Antidepressiva weitgehend ablösten.
Trotz intensivster Bemühungen konnte die Pathophysiologie depressiver Erkrankungen
bisher jedoch nicht vollständig aufgeklärt werden. Auch ist nicht schlüssig geklärt,
wie die gängigen und erfolgreich eingesetzten Antidepressiva ihre positive Wirkung
entfalten und damit zur Linderung depressiver Symptomatik führen. Antworten auf diese
offenen Fragen erhofft man sich von neuen, in den letzten Jahren entwickelten Theorien
über die neurobiologischen Ursachen depressiver Erkrankungen. Neben einer Dysfunktion
auf neuromodulatorischer Ebene, u.a. durch Monoamine aber auch durch Neuropeptide
vermittelt, weisen aktuelle Ergebnisse verschiedenster präklinischer und klinischer
Studien darauf hin, dass Störungen der neuroplastischen Prozesse mit verantwortlich
sein könnten für depressive Erkrankungen [12] (siehe auch Beitrag von Vollmert und Braus in diesem Heft).
Neue Zellen für das (erfahrene) Gehirn?
Neue Zellen für das (erfahrene) Gehirn?
Über viele Jahrzehnte galt in der Neurobiologie die Auffassung, dass es im Zentralnervensystem
(ZNS) erwachsener Säugetiere einschließlich des Menschen keine Neubildung von Nervenzellen
(Neurogenese) gibt. Diese Auffassung basierte primär auf den Arbeiten von Santiago
Ramón y Cajal, der als Pionier der Neuroanatomie als erster die Struktur von Neuronen
detailliert beschrieb und die neuronalen Netzwerke im adulten ZNS folgendermaßen charakterisierte:
„In adult centres the nervous paths are something fixed, ended, immutable. Everything
may die, nothing may be regenerated” [3]. Damit schienen sich Gehirn und Rückenmark deutlich vom peripheren Nervensystem
und anderen Organen zu unterscheiden, welche regenerative Fähigkeiten besitzen und
in denen spontan neue Zellen gebildet werden können. Die Vorstellungen Cajals hatten
lange Zeit einen starken Einfluss auf die Interpretation neurowissenschaftlicher Studien
und bewirkten u.a., dass eine Reihe neurodegenerativer Krankheiten als therapieresistent
betrachtet wurde.
Aufgrund einer Untersuchung an Ratten stellte dann aber Altman 1962 die Frage, ob
im Gehirn adulter Säugetiere nicht doch neue Nervenzellen gebildet werden [2]. Dieser Arbeit wurde jedoch über viele Jahre keine besondere Bedeutung beigemessen,
möglicherweise weil die verwendete Methode der Autoradiographie mit radioaktiv markiertem
Thymidin auf zellulärer Ebene sehr aufwändig und störanfällig ist. Mit der Entwicklung
von Antikörpern gegen das Thymidinanalogon 5-Bromo-2'-deoxyuridin (BrdU) hat sich
dies geändert. BrdU wird während der Synthesephase sich teilender Zellen in die DNA
eingebaut und kann in Gewebeschnitten immunzytochemisch nachgewiesen werden; dadurch
können sich teilende Zellen auf relativ einfache Weise sichtbar gemacht werden [15]. Hiermit war eine Entwicklung angestoßen, die unser Wissen über strukturelle Plastizität
des ausdifferenzierten Zentralnervensystems grundlegend verändert hat. Inzwischen
ist Neurogenese bei Vertretern der verschiedensten Säugetiergruppen einschließlich
des Menschen nachgewiesen worden. Im adulten, ausdifferenzierten ZNS entstehen neue
Nervenzellen in der subventrikulären Zone des anterioren Seitenventrikels und in der
subgranulären Zone des Gyrus dentatus, einem Teil der Hippocampus-Formation. Der neuronale
Charakter dieser neugeborenen Zellen konnte sowohl auf ultrastruktureller Ebene, durch
retrograde Markierung ihrer Neuriten, als auch immunozytochemisch mit Neuronen-spezifischen
Antikörpern nachgewiesen werden. Unser Wissen zur Regulation der Entwicklung dieser
Zellen ist in letzter Zeit stetig gewachsen, doch wissen wir bisher nur wenig darüber,
welche funktionelle Relevanz den neu gebildeten Neuronen schließlich zukommt [18].
Der Nachweis von Neurogenese im adulten Gehirn hatte aber konzeptionelle Konsequenzen
für die neurobiologische Psychiatrie, und heute werden Störungen der Neuroplastizität
als mögliche Ursachen für eine Reihe neuropsychiatrischer Erkrankungen diskutiert.
Seitdem man weiß, dass auch im erwachsenen, ausdifferenzierten Gehirn lebenslang neue
Nervenzellen gebildet werden, haben diese Konzepte neuen Auftrieb erhalten [6]. Wir können heute davon ausgehen, dass die Hirnentwicklung gewissermaßen lebenslang
nicht aufhört, und dass neurale Vorläuferzellen bzw. die ständige Neubildung von Nervenzellen,
zumindest in bestimmten Regionen, für normale Hirnfunktionen unerlässlich sind.
Durch welche Faktoren wird die Neurogenese reguliert? Untersuchungen, besonders an
Mäusen und Ratten, zeigten, dass eine ganze Palette von Faktoren die Neurogeneserate
bzw. die Lebensdauer von Neuronen in der Hippocampus-Formation kontrolliert. Hierzu
zählen der genetische Hintergrund und die Umwelt, in der die Tiere leben. Auch das
Geschlecht und schließlich das Alter beeinflussen die Neurogenese. Ist die Umwelt
strukturiert und anregend, lernen die Tiere ständig. Passen sie sich ständig an neue
Herausforderungen an, so erhöht sich die Zahl und die Lebensdauer der Nervenzellen.
Was sind die molekularen Mechanismen dieser sehr unterschiedlich wirkenden regulatorischen
Faktoren? Als Mediatoren kommen u.a. Hormone, Neurotransmitter und Wachstumsfaktoren
in Frage. Offenbar haben verschiedene Hormone eine wichtige Funktion bei der Regulation
der Neurogenese im adulten Gyrus dentatus, doch ist bisher primär die Rolle der adrenalen
Kortikosteroide Kortikosteron bzw. des Kortisols genauer untersucht worden [8]. Dabei zeigte sich, dass Glukokortikoide inhibitorisch auf die Neurogenese wirken.
Die Zunahme der Zahl neuer Nervenzellen (Proliferationsrate) steigt nach Adrenalektomie
und sinkt unter Stress, wenn die Konzentration an Glukokortikoiden im Plasma hoch
ist.
Sind Tiere emotionalen Belastungen (Stress) ausgesetzt, so kommt es u.a. durch die
erhöhten Kortikosteron- bzw. Kortisolkonzentrationen im Blut zu einem deutlichen Abfall
der Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus, einem Hirngebiet, welches eine wichtige
Rolle bei Lern- und Gedächtnisvorgängen spielt [8]. Der Befund der Stress-induzierten Abnahme der Neurogeneserate wurde als ein weiterer
Baustein im Verständnis der Entstehung depressiver Erkrankungen angesehen. Nach diesem
Konzept laufen am Anfang einer depressiven Erkrankung im Gehirn Prozesse ab, die eine
Form emotionalen Lernens darstellen und die, wie andere Lernprozesse auch, auf neuronaler
Plastizität basieren. Bei entsprechender individueller Disposition bzw. unter chronischer
Belastung kann es dann zu persistierenden Veränderungen kommen, denen das System nicht
eigenständig entgegenwirken kann, sondern eine therapeutische Unterstützung z.B. in
Form einer antidepressiven Behandlung oder Verhaltenstherapie benötigt.
In einer Reihe von tierexperimentellen Untersuchungen konnten wir nachweisen, dass
verschiedene Antidepressiva bei psychosozial belasteten Tieren die Abnahme der Neurogeneserate
im Gyrus dentatus kompensieren, d.h. die eingeschränkte Plastizität in diesem Teil
des Gehirns wieder aufheben können. Dagegen hatten die Substanzen bei unbelasteten
Tieren keinen Einfluss auf die Neurogenese [4]
[23]. Aus diesen und anderen präklinischen Studien entwickelte sich in den vergangenen
Jahren die „Neurogenese-Theorie der Depression”. Nach dieser derzeit kontrovers diskutierten
Vorstellung soll die Depression („major depression”) u.a. auf einer gestörte Neurogenese-Rate
im Gyrus dentatus des Hippocampus beruhen [9]
[10].
Depressive Erkrankungen und strukturelle Veränderungen im Gehirn
Depressive Erkrankungen und strukturelle Veränderungen im Gehirn
Seit 1993 wurden in einer Vielzahl von Untersuchungen die Hippocampi depressiver Patienten
mit magnetresonanztomographischen (MRI) Methoden volumetrisch untersucht. Aus den
Befunden ergibt sich, dass offenbar eine negative Korrelation zwischen dem Volumen
des Hippocampus und der Dauer einer nicht behandelten Depression besteht. Eine erfolgreiche
Behandlung führt dagegen zu einer Normalisierung des Hippocampus-Volumens [19]. Ähnliche Ergebnisse haben wir in unseren tierexperimentellen Studien erhalten.
Verglichen mit einer Kontrollgruppe hatten psychosozial belastete Tiere ein signifikant
verringertes Hippocampus-Volumen. Wurden die gestressten Tiere jedoch mit Antidepressiva
behandelt, waren ihre Hippocampus-Volumina nicht von denen der Kontrolltiere zu unterscheiden
[4]
[23].
Was könnten die Ursachen für die Abnahme des Hippocampus-Volumens sein? Die Volumenabnahme
zusammen mit einer Verringerung kognitiver Leistungen wird von einigen Autoren auf
den Verlust von Pyramidenneuronen im Cornu amonis zurückgeführt [17]. Diese Erklärung ist jedoch in jüngster Zeit durch die Anwendung stereologischer
Methoden bei der Bestimmung der Neuronenzahlen zunehmend in Frage gestellt worden.
Eigene tierexperimentelle Untersuchungen zeigen, dass es in Folge psychosozialer Belastung
zu keiner signifikanten Abnahme der Anzahl der Pyramidenneurone kommt. Daher können
weder die Reduktion des Hippocampus-Volumens noch die Normalisierung durch Antidepressiva
mit einer Änderung der Zahl von Pyramidenneuronen erklärt werden [7]. Wegen seiner im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Hippocampus geringen Größe scheiden
der Gyrus dentatus und die dort beobachteten Effekte auf die Neurogeneserate als Erklärung
für die Änderungen im Hippocampus-Volumen aus.
Eine andere Überlegung betrifft die Rolle der Kortikosteroide als mögliche Auslöser
neuroplastischer Veränderungen. Bei vielen depressiven Patienten findet man erhöhte
Plasmaspiegel dieser Hormone. Nach unserem heutigen Wissensstand sind Kortisol beziehungsweise
Kortikosteron mit verantwortlich für sowohl erfolgreiche als auch nicht erfolgreiche
Anpassungsprozesse des Gehirns in Reaktion auf Stress. Damit spielen diese Hormone
eine scheinbar paradoxe Rolle, da sie einerseits für den Stoffwechsel der Zellen des
Organismus unerlässlich sind, andererseits bei chronisch erhöhten Konzentrationen
negative Auswirkung auf die Zellen im Gehirn haben können. Von allen Regionen des
Gehirns hat die Hippocampus-Formation die höchste Dichte von Rezeptoren für Kortisol/Kortikosteron
[5].
Schon vor etwas mehr als 50 Jahren gab es Befunde, wonach ein chronischer Überschuss
von Kortisol die Morphologie von Neuronen modifiziert. Diese Ergebnisse gerieten für
einige Jahre in Vergessenheit, erlangten dann aber vor etwa 20 Jahren u.a. durch die
Arbeiten von Bruce McEwen neue Aktualität. In dem initialen Experiment erhielten Ratten
über mehrere Wochen Kortikosteron, und bei den anschließenden histologischen Untersuchungen
wurde eine deutliche Abnahme der apikalen Dendriten von Pyramidenneuronen in der Hippocampus-Region
CA3 beobachtet [13]. In Zusammenarbeit mit Bruce McEwen konnten wir zeigen, dass „psychischer Stress”
ebenfalls ein „Schrumpfen” der apikalen Dendriten der Pyramiden-Neurone in der Region
CA3 bewirkt [11]. Darüber hinaus ist - zumindest im Tierexperiment - die Stress-induzierte Verkleinerung
der Dendritenbäume reversibel und kann zudem von Antidepressiva verhindert werden
[13]. Mit diesen Prozessen verbunden ist ein ständiger Umbau von Synapsen (synaptische
Plastizität) und damit auch eine ständige Änderung in der inter-neuronalen Kommunikation.
Ein anderer Hinweis auf die Rolle von Kortikosteroiden bei der Regulation des Hippocampus-Volumens
kommt aus MRI-Untersuchungen von Cushing-Patienten. Diese haben kleinere Hippocampi
als gesunde Probanden. Wird bei Cushing-Patienten eine transsphenoidale Mikroadenomektomie
durchgeführt, sinken die Kortisolkonzentrationen im Plasma auf Normalwerte, und es
kommt zu einer Normalisierung des Hippocampus-Volumens [21].
Während bildgebende Verfahren wie MRI, MRS (magnetic resonance spectroscopy) oder
PET (positron emission tomography) wichtige Hinweise auf die morphologische Zuordnung
und Lokalisation der zerebralen Dysfunktionen erlauben, wurden die zellulären Konsequenzen
depressiver Erkrankungen in den letzten Jahren durch post mortem Analysen von Hirngewebe
untersucht. Studien auf mikroskopischer Ebene zeigten, dass sowohl „major depression”
als auch bipolare Erkrankungen neben den vermuteten biochemischen Veränderungen auch
von Änderungen in der Morphologie und Verteilung von Zellen im Gehirn begleitet werden.
So wurden sowohl für Neurone als auch für Gliazellen Veränderungen in der Dichte und
Größe in einer Reihe fronto-limbischer Hirnregionen wie präfrontalen, orbitofrontalen
und anterioren zingulären Kortex, Amygdala und Hippocampus berichtet. Interessanterweise
findet man im Hippocampus eine Erhöhung der Zelldichte, während diese im frontalen
Kortex abnimmt [16]. Diese quantitativen neuroanatomischen Arbeiten bestätigen und substantiieren die
Befunde aus den Studien mit bildgebenden Verfahren, in denen volumetrische und metabolische
Veränderungen in diesen Hirnregionen beschrieben wurden [Abb. 1].
Die Ursachen der histopathologischen Veränderungen, die post mortem in Gehirn-Material
gefunden wurden, sind momentan noch nicht bekannt. So ist unklar, in wieweit genetische
Risikofaktoren bzw. Entwicklungsstörungen die Progression der Erkrankung bedingen,
und/oder ob die Einnahme antidepressiver Medikamente abnormale Veränderungen in Neuronen
und Gliazellen hervorruft. Auch ist die Frage offen, ob erfolgreiche und lang anhaltende
Therapien die histopathologischen Veränderungen, welche auf eine eingeschränkte Neuroplastizität
schließen lassen, wieder rückgängig machen können.
Glia und ihre mögliche Rolle bei neuroplastischen Veränderungen
Glia und ihre mögliche Rolle bei neuroplastischen Veränderungen
Insgesamt stellt sich neuronale Plastizität im Gehirn in verschiedenen Formen dar,
nämlich als Neurogenese, als ständiger Umbau von Synapsen und damit verbundene Änderungen
in der inter-neuronalen Kommunikation, bis zu Änderungen in der Expression von Genen,
die für neuronale Strukturproteine codieren bzw. an der Steuerung der neuronaler Aktivität
beteiligt sind. Darüber hinaus verändern sich im ZNS aber nicht nur die Strukturen
der Neurone ständig, sondern auch die über viele Jahre wenig beachteten Gliazellen.
Die Gesamtheit der Gliazellen, die etwa 100-mal zahlreicher als Neurone sind, stellt
keine einheitliche Gruppe dar, sondern wird von verschiedenen Populationen von Astrozyten,
Oligodendrozyten und Mikroglia gebildet. Neben ihren klassischen Funktionen z.B. bei
der neuronalen Migration (Radialglia), Myelinbildung (Oligodendrozyten) und Entzündungsprozessen
(Astrozyten und Mikroglia) wird - speziell für die Astrozyten - neben der trophischen
und metabolischen Unterstützung von Neuronen eine Rolle bei der Synaptogenese und
Neurotransmission diskutiert [20]. Astrozyten exprimieren viele der Rezeptoren, Transporter und Ionenkanäle, die schon
in Neuronen gefunden wurden. Zudem sind sie im Gehirn für die Inaktivierung des extrazellulären
Glutamats verantwortlich und regeln darüber nicht nur die Aktivität der NMDA-Rezeptoren,
sondern auch Glutamat-vermittelte zytotoxische Effekte [Abb. 2].
Durch die vielfältigen Funktionen könnte eine lokale Veränderung in der Population
der Astrozyten (Anzahl, Dichte, Größe, Form) messbare Folgen für das Funktionieren
neuronaler Netzwerke haben. Zu den vielfältigen Funktionen der Astrozyten ist nun
eine weitere, sehr überraschende hinzugekommen. Im Gyrus dentatus gibt es astrozytäre
Vorläuferzellen, aus denen neue Nervenzellen entstehen können. Gleichzeitig schaffen
Astrozyten das Milieu, in dem Vorläuferzellen sich entwickeln und weiter differenzieren
können [22]. Damit scheint die neurale, d.h. neuronale plus gliale Plastizität einerseits für
die Funktionen des gesunden Gehirns unerlässlich, andererseits aber auch Ursache für
psychopathologische Prozesse zu sein.
Funktionelle Implikationen der pathologischen Veränderung neuraler Netzwerke
Funktionelle Implikationen der pathologischen Veränderung neuraler Netzwerke
Die beschriebenen zellulären Veränderungen lassen auf Dysfunktionen neuraler Netzwerke
schließen, die für die emotionalen, kognitiven und somatischen Symptome von Patienten
verantwortlich sind. Über die zellulären Veränderungen können auch die Defizite in
den Transmittersystemen, speziell dem momoaminergen System, erklärt werden. Eine momentan
intensiv untersuchte Frage ist, in wieweit die Dysfunktion der neuralen Netzwerke
genetisch bedingt ist. Offensichtlich sind die Ursachen multifaktoriell, wobei konsequenterweise
Gene, die zu Störungen in zentralnervösen Neurotransmittersystemen führen, von primärem
Interesse sind. Da viele der heute eingesetzten Antidepressiva auf den Serotonin-
bzw. Noradrenalin-Metabolismus wirken, könnte man annehmen, dass besonders Mutationen
in diesen Genen zur Disposition für depressive Erkrankungen beitragen. Tatsächlich
gibt es Hinweise, dass Allelvariationen in regulatorischen DNA-Sequenzen für den Serotonin-Transporter
die Wahrscheinlichkeit für depressive Erkrankung erhöhen [14]. Weil dieser Befund gleichzeitig einer Gen-Umweltinteraktion unterliegt und damit
aber offenbar nicht generalisierbar ist, wird angenommen, dass solche „Vulnerabilitätsgene”
kompensiert werden können. Mit anderen Worten, das Gehirn verfügt auch auf genetischer
Ebene über „plastische” Eigenschaften.
In den letzten Jahren wurden molekularbiologische Methoden wie z.B. die Microarray-Techniken
entwickelt, mit deren Hilfe in großem Maßstab die Expression von Genen u.a. in eng
umschriebenen Hirnarealen untersucht werden kann. Ursprünglich bei tierexperimentellen
Untersuchungen eingesetzt und in neuerer Zeit zunehmend für die Untersuchung von post-mortem
Proben verwendet, können mit diesen Methoden Gene identifiziert werden, die besonders
stark oder besonders schwach exprimiert sind. Im Zuge dieser Untersuchungen hat sich
herausgestellt, dass sich in depressionsähnlichen Zuständen nicht allein die Expression
von Genen des Serotonin- bzw. des Noradrenalinhaushalts ändert. Man hat auch deutliche
Veränderungen in der Expression von Genen für neuronale Wachstums- und Transkriptionsfaktoren
gefunden, welche wiederum die Expression anderer Gene beeinflussen. Überraschenderweise
waren unter den „depressionsregulierten” Genen auch solche, die an der Differenzierung
von Neuronen bzw. am Auswachsen von neuronalen Fortsätzen beteiligt sind [1].
Diese Befunde unterstützen die Hypothese, dass die Pathophysiologie depressiver Erkrankungen
nicht nur über Störungen des zentralnervösen Transmitterstoffwechsels, sondern auch
über eine veränderte Neuroplastizität zu verstehen ist. Aufgrund der Ergebnisse präklinischer
und klinischer Studien kann derzeit jedoch nicht abschließend entschieden werden,
ob eine Störung der neuralen Plastizität Ursache, Ergebnis oder ein Korrelat depressiver
Erkrankungen ist.
Abb. 1 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse bildgebender und histopathologischer
Untersuchungen für den Hippocampus, die Amygdala und den präfrontalen Kortex
Abb. 2