Tätowierungen sind Farbeinsprengungen in die Haut, wobei solche in die Epidermis und
Einfärbungen der Hornschicht mit dem epidermalen Umsatz (turnover) in Tagen bis Wochen
auswachsen, und als vorübergehende Tätowierungen neuerdings als eine Form des „body
painting” verstanden werden. Werden unlösliche Farbpartikel in die Dermis (Corium)
eingeritzt oder gestochen, so bleiben diese im Corium liegen und die Tätowierung ist
permanent, sie bleibt lebenslang bestehen und sichtbar. Eine Entfernung ist meist
wesentlich aufwändiger und kostspieliger als das Anbringen von Tätowierungen. Oft
ist eine solche weder vollständig noch narbenfrei zu erreichen, auch wenn die moderne
und differenzierte Lasertechnik erfreulicherweise gewaltige Fortschritte gemacht hat.
Zur permanenten Tätowierung dienen natürliche Pigmente mineralischen und pflanzlichen
Ursprungs sowie unlösliche und innerte Farbstoffe chemischer Art [1]. An unerwünschten Nebenwirkungen, außer dass die ganze Tätowierung wegen ihres Sujet
oft nur kurze Zeit aktuell ist und erwünscht bleibt, kommen Kontaktallergien auf Farbbestandteile,
Fremdkörper-Granulome, Narbenkeloide und Infektionen vor, die zumeist ein therapeutisches
Eingreifen bedingen.
Einige Bemerkungen zur Geschichte
Tätowierungen kommen offenbar in allen Kulturen vor und sind in den frühesten Funden
konservierter Haut aufzufinden. Dies gilt auch für die Bewohner Europas in der Steinzeit.
So weist die 1991 im Ötztal gefundenen Gletscherleiche „Ötzi” 50 Tätowierungen in
15 Gruppen auf: parallele Linien über der unteren Wirbelsäule, Streifen um den rechten
Fußknöchel und eine Kreuzform in der rechten Kniekehle. Aber auch in den „jung gebliebenen”
Kulturen in Polynesien und Afrika finden sich viele und reichhaltige Tätowierungen,
oft in Kombination mit Narben und eingestochenen Gegenständen (Piercing). Das Wort
selbst ist aus dem polynesischen „tatau” entstanden und meint „Zeichen”, oder ta-tatau
für „kunstgerecht hämmern”. Tätowierungen gehören, so meint eine Kulturhypothese,
in alle frühen, größtenteils überwundene Zivilisationsstufen. Sie sind womöglich mit
oder gar vor der Schrift aufgetreten und vielfältig angewandt worden. Der Papua tätowiert
sich selber, sein Boot, seine Instrumente und Gerätschaften, kurz alles was ihm gehört.
Besitz wird gekennzeichnet und festgehalten. Daraus konnten sich kunstvolle Gestaltungen
(Ornament) entwickeln und persönlicher Schmuck. Dies führt weiter zur individuellen
Darstellung der eigenen Person, zu Selbstbewusstsein also. Gleichzeitig entwickelten
sich besondere Tätowierungen zur Kennzeichnung von Familie, Sippe und Stamm, von politischer
und religiöser Zuordnung und der hierarchischen Einordnung in dieselben (Rangabzeichen).
Einschluss, Funktion und Verantwortung in einer Gemeinschaft wurden bleibend in der
Haut festgehalten. Dies diente nicht nur der Abgrenzung, sondern auch zum Ausschluss
aus anderen Gemeinschaften. „Einschluss per Ausschluss” lautet das Stichwort, es war
so bei den Urchristen und gilt auch heute noch. Bei den Kreuzfahrern allerdings war
die Jerusalem-Tätowierung Auszeichnung und Ehrenmal einer Elite.
Im 18. Jahrhundert brachten die Seefahrer die Tätowierungsmode nach Europa, wo sie
nicht nur den Adel und die Bürgerschaft ergriff, sondern ganz besonders die Unterschichten,
die Soldaten (manche Regimenter hatten eigene Tätowierer), die Matrosen, die Strafgefangenen,
aber auch das Jahrmarktsvolk und Schauspielgruppen. Eine regelrechte Tätowierlust
und ein Boom der Tätowierkunst hielten sich bis zum ersten Weltkrieg 1914. Obschon
die christliche Kirche und deren Missionen das Tätowieren als heidnisches Relikt aus
dem „Kindheitsstadium der Menschheit” verteufelten, blieb es als Faszinosum, Schmuck
und Charakteristikum der Randgruppen auch weiterhin erhalten und wurde in einer Art
Subkultur fortentwickelt. Walther Schönfeld hat dies gesammelt, zusammengestellt und
1960 publiziert [2] , und Stephan Oettermann hat diese Entwicklung im Laufe der Zeit dargestellt [3].
Bezeichnend ist die besondere Bedeutung von Tätowierungen im Roman „Moby Dick” von
Hermann Melville, der 1851 erschienen ist. Dort wird der Schiffszimmermann Queequeg
mit ausgedehnten und geheimnisvollen Tätowierungen geschildert, die sein Leben und
seine Stammesherkunft in verschlüsselter Form vermitteln würden. Des Weiteren wird
der ominöse weiße Pottwal als mit Narben und Wunden überzogen geschildert; gleichsam
durch die Spuren erfolgloser Walfänger tätowiert und zusätzlich mit Stricken und Harpunenresten
zum Jagdobjekt installiert. Das ist nicht Ausdruck künstlerischer Phantasie, sondern
wird als Wiederaufnehmen von frühgeschichtlichen, primitiven Ritualmarkierungen [4] gedeutet.
Einiges hat sich bis heute, wenn auch in geringerem Umfang, gehalten, wie die Markierung
einer Schiffscrew (Äquatortaufe), die Mitgliedschaft in der Fremdenlegion oder diejenige
einer besonderen Spezialeinheit. Dies bestätigt sich auch in einer bemerkenswerten
Sammlung von Tätowierungen russischer Strafgefangenen, die 2005 in Deutsch herauskam
[4] und zeigt, dass Verbrecher in Russland nach wie vor Gesellschaft und Familie auf
immer verlassen und in eine besondere Identität des Kriminellen eintreten. Sie haben
eine geheime Sprache und eine spezifische Fixierung derselben auf der Haut des Gefangenen
als Tätowierung. Die Existenz und die Biographie des Verbrechers werden damit für
ihn und andere lesbar. Die Bildersprache ist komplex; Nazisymbolik, KBG-Insignien,
religiöse, frauenfeindliche und antisemitische Inhalte kommen gehäuft vor. Der Rang
des Häftlings wird eingetragen und oft sogar eine Botschaft an Mitgefangene. Ausgrenzung
durch Eingrenzung! Persistenz also der Tätowierhandhabe in einer extremen Randgruppe.
Das 20. Jahrhundert
Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Tätowierungen
und die Tätowierkunst verdrängt, ja abgelehnt und mit Gleichgültigkeit belegt wurden.
Tätowieren war out, wieder einmal!
Und dann zeichnet sich eine drastische Wende ab, die von der Architektur (Le Corbusier)
und der dekorativen Kunst ausging. Die Oberfläche und deren Gestaltung, Dekoration
und Ornament wurden bedeutsam und standen fast vor der Struktur, ja sie wurden integraler
Teil von Bauwerken aller Art. Die Kunsttheorie trieb Blüten und wurde von der „Haut
der Gebäude” auf den Menschen und dessen Haut übertragen und wieder betont [4]. Doch der künstlerische Enthusiasmus der Architekten und Gestalter wurde von den
Tätowierern weiter getragen. Weiter in den Dienst der Individualdarstellung, der psychologischen
Bekenntnisse (outing) und letztlich bis in eine dramatische Kommerzialisierung. Dieser
bemerkenswerten, dreistufigen Entwicklung gilt nun unser Augenmerk.
Der Enthusiasmus führt seit einigen Jahrzehnten zu einem explosionsartigen Boom, der
aus USA und Asien nach Europa kam. Und damit kam auch der neue, universale Name Tattoo.
In Amerika sollen schon mehr als 50 Millionen Menschen ein Tattoo tragen, oder mehrere.
Es wird geschätzt, dass schon 10 % der Deutschen Tattoo-Träger sind und unter den
Jugendlichen mögen es schon 25 % sein. Und Tattoos nehmen weiter zu, an Zahl und an
Vielfalt.
Zunächst sind es in einer fast scheuen ersten Phase zumeist kleine Marken, schöne Zeichnungen oder Ornamente, oft farbig, auf Schulterblättern,
Oberarmen, Lendenwirbelsäule oder Knöchel. Es sind stolz getragene Beweise, etwas
Eigenes, Besonderes zu sein und, einsichtig zumeist, dies zu bekennen. Ausdruck von
Mut und gelegentlich auch Bekenntnis zu einem Partner spielen mit.
Mit fließendem Übergang schließt sich eine zweite Phase an, nun mit massiven Tattoos. Es finden sich neue Formen der Körperverzierung, sie
wachsen aus dem Kragen, aus dem Dekolleté heraus, erfüllen Arme und Beine, zieren
den Nabel und quellen an der Lende aus der tief sitzenden Hose. Der Sujets sind viele
und Phantasie kommt zum Ausdruck. Oft werden Kunstelemente aus vergangenen Kulturen
und Traditionen (tribal tattoo) aufgenommen. Andere orientieren sich an Science fiction
- Motiven aus Literatur, Film oder Comics. Tiere (Abb. [1]), Fabelwesen, religiöse Symbole und erotische Anspielungen finden sich ebenso wie
vielgestaltige Kalligraphien mit Glücks- und Heilsbotschaften ferner Religionen, allgemeiner
Spiritualität oder Protest (Abb. [2]).
Abb. 1 Kleinformatiges Skorpionmuster.
Abb. 2 Che Guevara als Symbol von Revolution und Befreiung.
Im Gegensatz zum „permanent make-up” (Augenbrauen, Lippenkonturen), welches etwas
Gegebenes verschönert, soll mit dem Tattoo durch eine eigene ästhetische Maßnahme
etwas Neues, Persönliches dargestellt werden, welches vom Körper selbst niemals hervorgebracht
würde. Es soll eine eigene Qualität zur Darstellung kommen, manchmal handgreiflich
aggressiv und zuweilen als verschlüsselte Bildergeschichte. Der Selbstwert wird auf
urtümliche Weise dargestellt. Man fühlt sich frei, wild, ungestüm und erotisch, was
bekannt gemacht und öffentlich gezeigt werden will. Exponenten sind Prominente aus
Kultur, Sport und Entertainment, denen nachgeeifert wird. Bisweilen kommt es zu bizarren
Exzessen, wenn eine Schauspielerin sich den Namen ihres Partners zwischen die Beine
tätowieren lässt. Ein Partnerwechsel geht dann nur noch mithilfe eines Laser-erfahrenen
Dermatologen über die Bühne.
Als dritte Phase muss die neueste Entwicklung verstanden werden. Die Tattoos bedecken annähernd den
ganzen Körper. Dieser wird zur Skulptur, zum eigens installierten Werk der Selbstgestaltung
(Abb. [3]). Der Träger hat also zwei Leiber, den einen vorgegebenen natürlichen, und den willkürlichen,
den durch Bildersprache und Körperbeschriftung vom Tätowierer geschaffenen [6]. Und der willkürliche bewegt sich durch den unterlegten, natürlichen Leib und beginnt
gleichsam ein eigenständiges Dasein.
Abb. 3 Großflächiges farbiges Phantasietattoo am Oberkörper einer jungen Dame.
Eine solche Ganzkörper-Installation eines Trägers muss mit dem Tätowierer zusammen
geplant werden als ein integrales Kunstprodukt. Struktur und Ornament werden vereinigt,
um die ursprüngliche künstlerische Phantasie zu verwirklichen. Dies ist ein großes
Anliegen und bedingt einen Rahmenplan, der Schmerz, Zeit und Kosten respektiert. Der
Tätowierer gehört dazu, der Creator, und der Tätowierte als Träger. Wer ist Besitzer
und hält Anrechte?
Ziel solcher Ganzkörper-Tattoos ist nicht allein die künstlerische Installation als
Schmuck und Ausdruck der Phantasie, oder als Ausdruck der gestalteten Selbstfindung.
Ziel ist auch die Schaffung eines vitalen Kunstwerkes, verglichen mit einer Skulptur,
das Eigenbedeutung bekommt und einen kommerziellen, veräußerbaren Wert findet. Neben
der Selbstwerbung werden solche „Werke” auch für Fremdwerbung interessant.
Solches ist im Schauspiel Tattoo von R. Desvignes und I. Baudesima [7] in extrem gezeichneter Form dargestellt und am 1. 6. 2002 im Düsseldorfer Schauspielhaus
uraufgeführt worden. Eine knappe Zusammenfassung möge dies illustrieren:
Im Zentrum steht ein Liebespaar Fred und Lea, er ein erfolgloser Schriftsteller und
sie eine Schauspielerin. Tiger taucht auf, Leas alter Freund, ein absolut trendgerechter
Künstler mit steiler Karriere. Er ist selbst das reinste Kunstwerk, sein Körper ist
über und über mit Tätowierungen geschmückt. Betrunken verspricht Lea, im Falle seines
Todes, den kostbaren mumifizierten Body von Tiger an sich zu nehmen und zu pflegen.
Kurz darauf kommt Tiger bei einer Kunstauktion ums Leben und seine plastifizierte
Tattoo-Leiche kommt zu Lea. Deren böse Halbschwester Naomi, Galeristin von Tiger und
seine Gelegenheitsgeliebte, taucht auf, nimmt die Tattoo-Leiche an sich und versucht,
diese in USA zu verscherbeln. Der hohe Preis macht Lea unsicher und man plant, den
Gewinn zu teilen. Da taucht Tiger, mit Assistent Alex, lebend wieder auf. Der Unfall
war ein auf Video gebannter Fake, die falsche Leiche mit Kamera und Aufnahmegerät
bestückt, und sämtliche Aufnahmen ums Leben mit dem Toten sind dokumentiert. Sie sollen
auf der nächsten Art Fair in New York zusammen mit dem Vitrinentoten als Installation
Tigers Ruhm ins Unermessliche steigern.
Da erschlägt Alex den Tiger. Die Geschichte erweist sich als Fiktion von Fred und
soll als Metapher für das „Ende der Moderne” stehen. Zurück bleibt das Liebespaar
Fred und Lea und wieder kommt ein alter Freund zu Besuch.
Damit ist die Tattoo-Euphorie in ihrer dritten Phase bei einem extremen Punkt angelangt
und man kann gespannt sein, wohin die weitere Entwicklung gehen könnte.
Gleichsam als Steigerung einer Tätowierung, was die Tiefe der Verletzung anbelangt,
kann die Brandmarkung [2]
[3] betrachtet werden, wobei Zugehörigkeit als lebenslanger Besitz eingebrannt wurde
(Rinderherden, Sklaven, SS-Runen etc.) oder die unwiderrufliche Ausstoßung aus der
gesetzlich geregelten Gesellschaft als „vogelfrei” mit der eingebrannten „Fleur de
Lys”. Daraus entwickelte sich neuerdings das „Branding”, wobei mit heißem Eisen Körperschmuck
in die Haut eingebrannt wird, wohl auch als Mutprobe. Die zurückbleibenden Narben
haben bei manchen Menschen, ähnlich eben wie Tattoo und Piercing, den Stellenwert
von Körperschmuck.