Aktueller Trend
Aktueller Trend
Internationale und nationale Studien zeigen eine Abnahme der alltäglichen Bewegung
und der körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Ein Review
von Bös weist eine Verminderung der motorischen Leistungsfähigkeit in den vergangenen
25 Jahren um mehr als 10% aus (Motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen. Erster Deutscher Kinder-
und Jugendsportbericht. Universität Karlsruhe 2003). Eine britische Studie zeigt einen Rückgang (1985-1992) der per Fuß oder Fahrrad
zurückgelegten Wege bei 0-14-Jährigen um 20% bzw. 26% (BMJ 1997; 314: 710). Nach einer schottischen Studie sind 3-5-Jährige lediglich 20-25 Min./Tag
mäßig bis intensiv körperlich aktiv. 76% der Zeit verbringen sie mit einer sitzenden
Tätigkeit (Lancet 2004; 363: 211-212). Die Verringerung der alltäglichen Bewegung trägt zu einer Reduktion der gesamten
körperlichen Aktivität und zu Übergewicht bei Kindern bei. Gortsmaker et al. und
ähnlich Crespo et al. beobachteten eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Übergewicht
und Fernsehkonsum (Arch Pediatr Adolesc Med 1996; 150: 356-362; Arch Pediatr Adolesc Med 2001; 155(3):
360-365). Hernandez et al. ermittelten bei 9-16-Jährigen eine Assoziation zwischen
Übergewicht, körperlicher Aktivität und Fernsehen (Int J Obes Relat Metab Disord 1999; 23(8): 845-854).
Übergewichtige Kinder sind deutlich weniger körperlich aktiv als Normalgewichtige
(Int J Obes Relat Metab Disord 2001; 25(6): 822-829). Sowohl quer- als auch längsschnittliche Beobachtungsstudien zeigen eine geringere
Prävalenz von Adipositas bei körperlich sehr aktiven Jugendlichen als bei weniger
Aktiven (Pedia 2005; 146(6): 732-737).
Situation in Deutschland
Situation in Deutschland
Nach der Studie "Health Behavior in School-aged Children" (HBSC) (22 EU-Länder
und USA) befinden sich 11-, 13- und 15-Jährige in Deutschland hinsichtlich der
regelmäßigen körperlichen Aktivität im unteren Drittel, nur 18% der Mädchen und
29% der Jungen sind an mindestens 5 Tagen der Woche körperlich aktiv (Gesundh-Wes 2005; 67(6): 422-431).
Dem Projekt "Fit sein macht Schule" liegt der in mehreren Bundesländern eingeführte
"Bewegungs-Check up" zugrunde. Die Auswertungen der Jahre 2001-2003 zeigen einen
deutlichen Rückgang der körperlichen Fitness bei 9-15-Jährigen hinsichtlich
anaerober Ausdauer, Koordination und Kraft. Von den 6-10-Jährigen ist ein Viertel
max. einmal wöchentlich sportlich aktiv, ein Drittel absolviert ein (fast) tägliches
Sportpensum. Insgesamt sind Jungen körperlich aktiver als Mädchen. Mit zunehmendem
Körpergewicht nimmt bei beiden Geschlechtern die körperliche Aktivität wie auch
die Mitgliedschaft in Sportvereinen ab. Von vermehrtem Schulsport (mind. 3
Std./Woche) profitieren bezüglich einer Verbesserung der motorischen Leistungsfähigkeit,
wie Auswertungen bei 11-15-Jährigen zeigen, insbesondere Mädchen ("Fit sein macht Schule" 2004. Bonn, AOK Bundesverband, Deutscher Sportbund (DSB),
Wissenschaftliches Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD)).
Folgen körperlicher (In)Aktivität
Folgen körperlicher (In)Aktivität
Die nationale Langzeitstudie "Growing Up Today" zeigt von 1997-1998 bei 11 900
10-15-jährigen Jungen und Mädchen, dass eine Zunahme körperlicher Aktivität zu
einem geringeren BMI und vermindertem Übergewicht führt. Jede Zunahme körperlicher
Aktivität um eine Stunde/Tag ist z. B. bei 9-14-jährigen Mädchen mit einer
BMI-Reduktion von 0,03 kg/m² assoziiert (Pediatrics 2003; 111(4): 836-843). Ähnlich zeigt ein 10-Jahres-Follow-up bei 18-30-Jährigen eine Abnahme des Körpergewichts
bei ansteigender körperlicher Aktivität (Int J Obes 2000; 24: 1475-1487).
Das bevölkerungsbezogene attributable Risiko körperlicher Inaktivität für die
Mortalität von koronaren Herzkrankheiten und für Diabetes mellitus beträgt jeweils
35% (Med Sci Sports Exerc 1994; 26: 851-856). Zur physiologischen Wirksamkeit von körperlicher Aktivität und Fitness
sowie zu präventiven Wirkungen auf Mortalität und (Gesamt-)Morbidität liegen zahlreiche
Studien vor, die u. a. Einfluss auf koronare Herzkrankheit, Hypertonie, Diabetes
mellitus Typ 2, Brust- und Darmkrebs bis hin zu Depression/Angst zeigen (Samitz G, Mensink G, eds. Körperliche Aktivität in Prävention und Therapie.
München: Hans Marseille, 2002: 11-31; ACSM - American College of Sports Medicine.
ACSM's guidelines for exercise testing and prescription. Baltimore: Lippincott
Williams & Wilkins, 2000; KKH, MHH. Weißbuch Prävention! HERZgesund? Hannover,
2004). Entsprechend den positiven Effekten auf das kardio-pulmonale metabolische System
fördert aerobes Ausdauer- sowie Koordinationstraining die kognitive Funktionsfähigkeit,
erhöht die Gedächtnisleistung im mittleren Lebensalter (Soc Sci Med 2003; 56: 785-792). Körperliche Aktivität führt neben einer Erhöhung des BNDF ("brain derived
neurotrophic factor")-Spiegels und anderer Wachstumsfaktoren zu einer Anregung
der Genexpression, die Prozesse der Plastizität begünstigt (Trends Neurosci 2002; 25: 295-301).
Nutzen körperlicher Aktivität
Nutzen körperlicher Aktivität
Erste Ergebnisse des deutschen CHILT-Projektes ("Children's Interventional Trial")
zeigen auch bei Kindern einen positiven Zusammenhang zwischen motorischen und
kognitiven Leistungen (Dtsch Z Sportmed 2003; 54(9): 242-246). Ein aktiver Lebensstil ist positiv mit motorischer Entwicklung korreliert,
Kinder mit Adipositas und Übergewicht haben eine schlechtere motorische Entwicklung
(Int J Obesity 2004; 28(1): 22-26). Bereits bei 4-7-Jährigen geht eine höhere physische Aktivität mit niedrigeren
kardiovaskulären Risikofaktoren wie BMI, Gesamtcholesterin, HDL/ Gesamtcholesterin-Ratio,
Triglyzeride und systolischer Blutdruck einher (Scand J Med Sci Sports 2003; 14: 143-149).
Eine Studie an kanadischen Schülern in der Pubertät zeigte, dass ein 3-mal pro
Woche über 2 Jahre durchgeführtes 10-minütiges Zirkeltraining bei Mädchen und
Jungen zu einem signifikant höheren Anstieg der Knochendichte im Oberschenkelhals
und bei Mädchen zusätzlich in den Lendenwirbelkörpern führte (Pediatrics 2003; 112(1): e447-452; Bone 2004; 34(4): 755-764).
Neben positiven Effekten auf die körperliche Funktionsfähigkeit und physiologische
Parameter wirkt sich sportliche Aktivität auch auf die psychische Gesundheit aus.
So zeigt eine Untersuchung deutscher 14-18-Jähriger deutliche Assoziationen
zwischen Ausdauersport und Selbstbild, seelischem Wohlbefinden und geringem Alkohol-
und Tabakkonsum (Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol 2002; 37(11): 544-550).
Nach einem systematischen Review ist körperliche Aktivität in allen eingeschlossenen
Studien höher bei Männern als bei Frauen und invers assoziiert mit dem Alter (Med Sci Sports Exerc 2002; 34(12): 1996-2001). Konsistente Determinanten sind sozioökonomischer Status, Berufstätigkeit ("occupational
status"), Bildung ("educational attainment"). Selbstwirksamkeit zur Bewegungsaktivität
sowie soziale Unterstützung sind konsistente Korrelate körperlicher Aktivität,
ebenso konsistent zeigt sich die nicht vorhandene Assoziation zum Wissen um Gesundheit
und körperliche Aktivität. Studien ab Ende der 1990er Jahre zeigen den Einfluss
umfeldbedingter Faktoren wie Zugang, gemeindebezogene Einflüsse, häufige Beobachtung
körperlicher Aktivität, Ausrüstung sowie anregende Umgebung.
Einfluss bis ins Erwachsenenalter
Einfluss bis ins Erwachsenenalter
Dem Kindesalter und der (Vor-)Pubertät kommt insbesondere bei der Entwicklung
von Verhaltensmustern über die Lebenszeit eine entscheidende Bedeutung zu. So
beträgt nach dem Alter von 6 Jahren die Wahrscheinlichkeit für Adipositas im Erwachsenenalter
50% für bereits adipöse und 10% für nicht-adipöse Kinder. Adipositas im Kindesalter
ist damit ein bedeutender Prädiktor für adulte Adipositas, wobei mit zunehmendem
Alter der Kinder der Einfluss bestehender Adipositas der Eltern abnimmt (N Engl J Med 1997; 337(13): 869-873). Ebenso wie Adipositas hat auch in jungen Jahren etablierte körperliche (In)Aktivität
eine hohe Wahrscheinlichkeit von Persistenz im Lebensverlauf (Am J Public Health 1994; 84(7): 1121-1126).
Prinzipiell sind drei Beziehungen zwischen körperlicher Aktivität in Kindheit
und Jugend und Gesundheit im Erwachsenenalter denkbar (in: Gisolfi C, Lamb D, eds. Perspectives in exercise science and sports medicine.
New York: McGraw-Hill, 1989: 605-613; Sports Med 2001; 31(8): 617-627): 1.) Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen beeinflusst ihre
Gesundheit, die ein wesentlicher Prädiktor für die Gesundheit im Erwachsenenalter
ist. 2.) Körperliche Aktivität in Kindheit und Jugend beeinflusst die körperliche
Aktivität im Erwachsenenalter, die sich wiederum mit hoher Evidenz positiv auf
die Gesundheit auswirkt. 3.) Körperliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen
wirkt sich direkt auf die adulte Gesundheit aus.
Ein Review von Twisk zeigt insgesamt nur geringe Evidenz für die Auswirkungen
körperlicher Aktivität in Kindheit und Jugend auf die Gesundheit im Erwachsenenalter
(Sports Med 2001; 31(8): 617-627). Sallis et al. verweisen in ihrem Review auf widersprüchliche Ergebnisse (Med Sci Sports Exerc 2000; 32(5): 963-975). Nach einer über 21 Jahre verfolgten Kohortenstudie, beginnend im Alter von
3 Jahren, ist ein hoher und insbesondere kontinuierlicher Level an körperlicher
Aktivität zwischen 9 und 18 Jahren ein Prädiktor für hohe körperliche Aktivität
im zweiten bzw. dritten Lebensjahrzehnt (Am J Prev Med 2005; 28(3): 267-273).
Internationale Empfehlungen
Internationale Empfehlungen
Auf Basis vorliegender Evidenz und unter Berücksichtigung der Praktikabilität
von Handlungsorientierungen liegen inzwischen auch einige Empfehlungen für Kinder
vor (s. [Infokasten 1]). Ein systematischer Review über 850 Artikel zu dem evidenzbasierten Einfluss
körperlicher Aktivität auf Verhalten und Gesundheit bei 6-18-Jährigen führt
ebenfalls zu der Empfehlung täglicher mindestens 60-minütiger moderater bis intensiver
körperlicher Aktivität und unter 2 Stunden/Tag sitzende Tätigkeit in der Freizeit.
Die körperliche Aktivität sollte die Freude an der Bewegung fördern, an den
Entwicklungsstand angepasst sein und helfen, grundlegende sowie spezialisierte
motorische Fähigkeiten zu erwerben (Pediatr 2005; 146(6): 732-737).
Infokasten 1
<TD VALIGN="TOP">
Empfehlungen der "American Heart Association“ zur Primärprävention arteriosklerotischer
kardiovaskulärer Erkrankungen im Kindesalter:
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
-
mind. 1 Std./Tag moderate bis intensive körperliche Aktivität
-
eine Begrenzung der sitzenden Tätigkeiten, insbesondere des Fernsehkonsums
auf max. 2 Std./Tag
(Circulation 2003; 107(11): 1562-1566)
</TD>
Kindertagesstätte und Schule
Kindertagesstätte und Schule
Bewegungsfördernde Maßnahmen sollten im Rahmen des Besuchs von Institutionen wie
Kindertagesstätte und Schule durchgeführt werden. Bereits die Bewältigung des
Hin- und Rückweges zur Einrichtung zu Fuß oder per Fahrrad ermöglicht zusätzliche
Bewegung (s. [Infokasten 2]). Viele bereits begonnene Initiativen und Programme sind übergreifend. Als
curricularer Bestandteil, außerunterrichtliches und organisatorisches Element
wird Bewegung u. a. im Konzept der bewegungsfreudigen Schule aufgegriffen (Bewegungsfreudige Schule, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2005). Eine Befreiung vom Schulsport sollte nur in indizierten medizinischen Ausnahmefällen
erfolgen.
Infokasten 2
<TD VALIGN="TOP">
Die Förderung der körperlichen Aktivität von Kindern bietet prinzipiell folgende
Ansatzpunkte:
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
-
gemeinsame Aktivitäten mit den Eltern
-
Sportangebote von Kommunen und Sportvereinen
-
als curricularer Bestandteil des Unterrichts
-
in der Förderung der Schule als Bewegungsraum
-
die Öffnung der Schule für sportbezogene Angebote in der Freizeit
</TD>
Freizeit
Freizeit
Weiterhin tragen Angebote der Kommunen (adäquate Spielplätze und Freizeiteinrichtungen,
gerade in sozial benachteiligten Stadtteilen) und der Sportvereine zur Steigerung
der körperlichen Aktivität in der Freizeit bei. Wichtig sind auch spezielle Sportangebote
für übergewichtige Kinder und Jugendliche, um gerade für diesen Personenkreis
eine Reduktion der Hemmschwelle zu bewirken. Die Auswahl gemeinsamer familiärer
Aktivitäten in der Freizeit sollte ebenfalls der Förderung körperlicher Aktivität
Rechnung tragen. Das Ausmaß der körperlichen Aktivität von Kindern und Jugendlichen
in ihrer Freizeit wird entscheidend von dem elterlichen Vorbild mitbestimmt,
Kinder von körperlich aktiveren Eltern betreiben deutlich mehr Sport (Dtsch Arztebl 2003; 100(47): 3110-3114). Ohne ein Umdenken der Erwachsenen ist eine Förderung der körperlichen Aktivität
von Kindern und Jugendlichen nicht zu erreichen.