Einleitung
Einleitung
Familientherapeuten unterschiedlicher Schulen berichten immer wieder, dass familiäre
Systeme im Laufe ihrer Entwicklung bestimmte Muster im Umgang miteinander auf unterschiedlichen
Ebenen ausbilden [1]
[2]
[3]
[4]. Diese Muster und deren damit verbundene Dynamik wiederholen sich über die Generationen.
Dabei wird davon ausgegangen, dass die beobachtbare Symptomatik eine Funktion für
die Aufrechterhaltung dieser dahinter liegenden Muster besitzt. Einzelne Mitglieder
des Systems werden dabei als so benannte Symptomträger ausgewählt. In der therapeutischen
Arbeit hat diese Sichtweise eine große Bedeutung. In einer qualitativ angelegten Studie
von Cirillo konnte bestätigt werden [5], dass die Familie eine wesentliche Rolle bei der Genese und Aufrechterhaltung von
Drogenabhängigkeit spielt. Der besondere Familientyp in seinem Funktionszusammenhang,
mit seiner spezifischen Familiengeschichte sowie seiner Beziehungsstruktur und Werteorientierung,
der bei Drogenabhängigkeit zu finden ist, spielt dabei eine große Rolle. Dies bedeutet,
dass die Behandlung nach Möglichkeit die Entwicklungsprozesse der Familie integrieren
sollte. In der vorliegenden Studie, die im Rahmen des Dissertationsprojektes der Autorin
durchgeführt wurde, wurde untersucht, ob es in Familien mit Alkoholabhängigen bestimmte
zu definierende Muster gibt, die sich über die Generationen wiederholen und als dysfunktional
bezeichnet werden können. Damit verbunden interessierte die Frage, welche Funktionalitäten
die Alkoholabhängigkeit für das sie umgebende familiäre System und die Betroffenen
auf verschiedenen Betrachtungsebenen einnimmt. Ziel der vorliegenden Untersuchung
ist es, für einen zu definierenden, vorerst eng gefassten Gegenstandsbereich eine
Theorie der Funktionalitäten zu erstellen und diese einem Differenzierungsprozess
von Behandlungsstrategien zur Verfügung zu stellen.
Beides, sowohl die Betrachtung mehrgenerationaler familiärer Muster bei Alkoholikern
als auch die Frage nach der Funktionalität der Symptomatik, war bisher nicht ausreichend
im Blickfeld systemischer Forschungsfragestellungen [6].
Funktionalitäten im familiären System - eine Begriffsklärung
Funktionalitäten im familiären System - eine Begriffsklärung
In der systemischen Therapie und Forschung herrscht weitgehender Konsens, dass Symptome
im familiär systemischen Kontext sowohl eine individuelle als auch eine familiäre
bzw. beziehungsgestaltende Funktion haben. Ein Symptom kann demnach dazu dienen, ein
besonderes Beziehungsmuster zu erhalten oder zu vermeiden oder das besondere Vermächtnis
früherer Generationen zu schützen [3]
[7]. Mara Selvini-Palazzoli [8]
[9] vertritt die Position, dass die Familie ein sich selbst organisierendes kybernetisches
System ist, in dem alle Elemente miteinander vernetzt sind und das angebotene Symptom
Systemfunktionen, wie z. B. Stabilisierung, Homöostase, erfüllt. Das Symptom bzw.
symptomatische Verhalten generell kann in der Folge auch von anderen Familienmitgliedern
übernommen werden, um weiterhin das familiäre System aufrecht zu erhalten. Stierlin
[4] wiederum geht in seiner Theorie davon aus, dass sich bestimmte Delegationen wie
zum Beispiel der Auftrag, ein Symptom zu übernehmen, auch auf andere Familienmitglieder
übertragen lassen.
Die Forschungsmethodik
Die Forschungsmethodik
Der methodische Zugang wurde über eine Pilotstudie im Bereich der qualitativen Biografie-
bzw. Familienbiografieforschung [10] gewählt. Fallanalysen bilden die Grundlage des Datenmaterials, weshalb die Studie
zudem in den Bereich der Einzelfallforschung [11] fällt. Dazu Flick [11]:
„Das Prinzip der Rekonstruktion von Fällen kennzeichnet einen großen Teil der biografischen
Forschung, die mit einer Reihe von Fallanalysen in vergleichender, typisierender oder
kontrastierender Weise arbeitet. Biografische Forschung ist gleichzeitig exemplarisch
für ein retrospektives Forschungsdesign, in dem rückblickend vom Zeitpunkt der Durchführung
der Forschung bestimmte Ereignisse und Prozesse in ihrer Bedeutung für individuelle
oder kollektive Lebensläufe analysiert werden (S. 255).”
Die Grounded Theory [12]
[13] stellt die qualitative Auswertungsmethode dieser Untersuchung dar. Der Forschungsprozess
ist ein offener, in dem es nicht darum geht, theoretische Vorannahmen zu beschreiben,
die es zu überprüfen gibt. Ziel dieser Methode ist die systematische Entwicklung einer
- wie der Name schon besagt - Theorie bezüglich des zu untersuchenden Gegenstandsbereiches.
Tatsächlich können nicht alle Aspekte eines Themas auf einmal abgedeckt werden. Daher
hilft die Präzision der Fragestellung dabei, den Gegenstandsbereich auf eine bearbeitbare
Größe einzugrenzen. Dabei beschreiben die einzelnen Schritte von der Fragestellung
über die Erhebung der Daten, deren Auswertung sowie die theoretische Einordnung einen
kreisförmigen Prozess. Bei dem Begriff der Theorie, deren Bildung Ziel des Analyseprozesses
in der Grounded Theory darstellt, unterscheiden Glaser und Strauss [12] - im Hinblick auf die Verallgemeinerungsfähigkeit - zwischen formalen und gegenstandsbezogenen
Theorien. Im Analyseprozess entwickelt sich eine formale Theorie aus mehreren gegenstandsbezogenen
Theorien. Diese beziehen sich - wie der Name schon sagt - eng auf ein bestimmtes Gegenstands-
oder Analysefeld.
Der Forschungsprozess
Der Forschungsprozess
Der Forschungsprozess geschah simultan zum therapeutischen Prozess und entwickelte
sich diskursartig aus dem therapeutischen Geschehen. Das bedeutet, dass die Daten
im Rahmen einer Prozess- bzw. Aktionsforschung [15] erhoben wurden, in der die „Beforschungsobjekte”, d. h. die Klienten, als wissende
und den Forschungsprozess beeinflussende Subjekte agierten und wahrgenommen wurden.
Die bestehenden Dynamiken im familiären Geschehen sind dabei so vielfältig und komplex,
dass ein primärer Zugang über quantitative Methoden eine zu große Einschränkung in
einem explorativen Erkenntnisprozess darstellen würde. So wurden die Daten mit Hilfe
des Genogrammes erhoben und die Inhalte in einem ersten Schritt in ein vorgegebenes
Kategorienschema (Familienstruktur, Übergänge im familiären Lebenszyklus, generationenübergreifende
repetitive Muster, Lebensereignisse und deren Funktionalität, Familiengleichgewicht
bzw. -ungleichgewicht) [10] eingefügt.
Im Laufe des weiteren Auswertungsprozesses kristallisierte sich als übergeordnete
Kernkategorie die Betrachtung der systemischen Funktionalität der Suchtsymptomatik
auf drei Ebenen heraus:
-
Funktionalität der Symptomatik im direkten systemischen Umfeld, die horizontale Ebene
-
Funktionalität der Symptomatik im mehrgenerationalem Kontext, die vertikale Ebene
-
Individuelle Ebene des Patienten, wie dessen Symptomatik in die familiäre Situation
eingebettet ist.
Anschließend wurde auf dem Weg zur Beschreibung einer gegenstandsbezogenen Theorie
der Versuch einer Typisierung der Fälle bezüglich der gefundenen Funktionalitäten
unternommen.
Das Genogramm - ein Instrument der Familienforschung
Das Genogramm - ein Instrument der Familienforschung
McGoldrick und Gerson [12] haben ein Verfahren entwickelt, das in wesentlichen Teilen auf der Theorie Bowens
[2]
[3] basiert und sich dazu eignet, einzelne Familiensysteme in der Mehrgenerationenperspektive
grafisch darzustellen. Es resultiert in einem Familiendiagramm, das auf anschauliche
Weise die systemische Verbindung zwischen Ereignissen und Beziehungen in Lebensgeschichten
sowie Muster von Gesundheit und Krankheit verdeutlichen kann. Das Genogramm ist mittlerweile
als therapeutisches Instrument in alle familientherapeutischen Ansätze integriert.
Geht man von einer mehrgenerationalen Betrachtung von Familienmustern und deren Einfluss
auf die jeweilige Biografie des Einzelnen aus, so ist neben einer vertikalen auch
eine horizontale Ebene zu berücksichtigen [7]
[14], wobei sich beide Ebenen in ihren Einflüssen hinsichtlich des aktuellen Beziehungsgeschehens
ergänzen. Einflüsse aus der vertikalen Ebene bestehen in Verhaltens- und Beziehungsmustern,
problematischen wie hilfreichen, die sich über die Generationen entwickeln und primär
durch den Prozess der Triangulation auf die nächste Generation übertragen haben [3]. Aktuelle Belastungen und Entwicklungen, die den familiären Lebenszyklus in der
Gegenwart bestimmen, bilden die horizontale Ebene der Betrachtung familiärer Muster.
Beide Ebenen sind eng miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig stark.
So kann eine Belastungssituation in der horizontalen Ebene durch einen Konflikt aus
der vertikalen Ebene potenziert werden.
Die Stichprobe - das theoretische Sampling
Die Stichprobe - das theoretische Sampling
Die Patienten, die die Stichprobe der vorliegenden Studie gebildet haben, befanden
sich zum Zeitpunkt der Datenerhebung in der stationären Behandlung zum qualifizierten
Alkoholentzug am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Dieser beinhaltet neben einem
körperlichen Entzug die Teilnahme an therapeutischen Gruppen und Einzelgesprächen
mit dem Ziel der Motivation, sich in ersten Schritten mit der eigenen Suchterkrankung
auseinander zu setzen und weitere therapeutische Behandlungsschritte zu planen. Die
Einzelbezugsarbeit ist neben der Gruppenarbeit fester Bestandteil des therapeutischen
Konzeptes. Alle Patienten wurden im Rahmen dieses Konzeptes von der gleichen Therapeutin
(systemisch orientierte Familientherapeutin, Verfasserin der vorliegenden Studie)
auch in der Einzelarbeit betreut. Im Zeitraum von Herbst 2000 bis Frühsommer 2001
wurde von all jenen - von der Verfasserin der Studie im Einzelbezugssystem betreuten
- Patienten ein Genogramm erstellt, für die sich aus der therapeutischen Arbeit die
Hypothese ergeben hatte, dass der Erfolg dieser Arbeit eng mit der Bearbeitung einer
besonderen familiären Dynamik im mehrgenerationalen Kontext zusammenhängen könnte.
Alle Patienten planten im Anschluss an den Aufenthalt eine weitere Therapie oder den
Besuch von Selbsthilfegruppen. Dies war ein wesentliches zusätzliches Selektionskriterium,
da die Bearbeitung der Genogramme eine therapeutische Intervention darstellt, die
einen Prozess in Gang setzt, dessen Auswirkungen die eigene Befindlichkeit wie auch
- in einem systemischen Sinne - die Gestaltung verschiedener Beziehungen nachhaltig
beeinflussen kann. Der Zeitraum der Erhebung wurde davon beeinflusst, dass eine gleichmäßige
Geschlechterverteilung vorliegen sollte. Alle Fallgeschichten wurden mit dem sich
bildenden Kategoriensystem bezüglich familiärer Muster ausgewertet. Vor der Datenauswertung
mit dem Verfahren der Grounded Theory hat auch die Auswahl der Stichprobe als Prozess
zu erfolgen. Glaser und Strauss [12] benennen dies als „theoretical sampling.” Ein Sampling für die endgültige Festsetzung
der Stichprobe wird so lange fortgesetzt, bis eine theoretische Sättigung für jede
Kategorie erreicht ist. Nach Wiedemann [16] bedeutet dies, dass die oben erwähnte Kernkategorie als eine Richtschnur für die
theoretische Sättigung galt. Dazu Wiedemann [16]:
„Nach jeder Runde werden die erhobenen Daten - in der Regel beziehen sie sich anfangs
auf einzelne Fälle - ausgewertet und theoretische Konzepte entwickelt. Diese Theoriestücke
werden ihrerseits dazu genutzt zu entscheiden, welche Fälle und welche Ereignisse
in der nächsten Runde zu untersuchen sind. Das bedeutet, zu Beginn mit einem ‚Chaos’
fertig werden zu müssen, denn weder hat der Untersucher anfangs eine Theorie, noch
weiß er, welche Fälle und wie viele er in Bezug auf welche Aktivitäten zu untersuchen
hat.” (S. 442)
Das Sampling muss für den gewählten Gegenstandsbereich hinreichend unterschiedliche
Muster abbilden und damit eine maximale Variation ergeben. In der praktischen Auswertungsarbeit
war das entscheidende Kriterium für eine Sättigung, dass es bei den Fallbeschreibungen
immer wieder zu Verwechslungen bei der Untersucherin kam, die in der kollegialen Reflektion
bestätigt werden konnten. Die Untersucherin war während des gesamten Forschungsprozesses
angebunden an eine Forschungsgruppe zu qualitativer Psychotherapieforschung und einer
Intervisionsgruppe mit familientherapeutisch langjährig erfahrenen Kolleginnen. Der
Samplingprozess resultierte darin, dass letztendlich von zehn erhobenen Fallgeschichten
sechs in die endgültige Auswertung der Daten einflossen. In drei der in der Endauswertung
nicht mehr dargestellten Fallgeschichten wiederholten sich Phänomene, die bereits
in anderen der sechs Biografien in ähnlicher Form zu finden waren. Eine der Fallgeschichten
wurde aus der weiteren Bearbeitung ausgeschlossen, weil sich der Einfluss einer zusätzlich
diagnostizierten Psychoseerkrankung als zu massiv erwies.
Der Gegenstandsbereich der Untersuchung und damit später auch der Theorie ist auf
jeden Fall der „Erhebungsraum.” So können die Aussagen - in einem bescheidenen Rahmen
- für solche Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit gelten, die im therapeutischen
Geschehen an einem Punkt stehen, an dem mögliche familiäre Aufträge und Delegationen
eine so massive Wirkung auf die Aufrechterhaltung der Symptomatik zu haben scheinen,
dass diese ohne eine Bearbeitung mehrgenerationaler Dynamiken nicht aufzulösen ist.
Dabei bewegt sich die Alkoholabhängigkeit in einem Schweregrad, der einer stationären
Behandlung bedarf. Andere schwerwiegende psychiatrische Erkrankungen sind ausgeschlossen.
Zusammenfassend besteht die Stichprobe aus sechs Personen, jeweils zur Hälfte Männer
und Frauen. Alle Patienten sind zwischen 30 und 45 Jahre alt. Bis auf zwei Patienten
haben alle eigene Kinder, keiner der Patienten lebt jedoch noch in einer funktionierenden
Beziehung. Bei allen ist Alkohol das im Vordergrund stehende Suchtmittel. Zwei haben
zudem Erfahrungen mit dem Konsum von illegalen Drogen, hauptsächlich Cannabis. Einer
der Patienten hat keine Ausbildung, alle anderen haben mindestens eine Berufsausbildung
absolviert.
Ergebnisse
Ergebnisse
Jede der im Rahmen des Gegenstandsbereiches evaluierte Biografie stellt eine individuelle
Familiengeschichte dar. Dies bedeutet, dass jede Geschichte einmalig und in vielen
Facetten nicht wiederholbar ist. Dennoch zeigen sich ähnliche Muster auf, die jedoch
in ihren Ausprägungen differieren. In jeder Familie ist eine deutliche sich bereits
über Generationen entwickelte familiäre Problematik anzutreffen, viele Muster wiederholen
sich. Mindestens ein Elternteil hat bereits in der eigenen Biografie mit den Eltern
eine Erfahrung des Mangels erlebt, die sich in Beziehungsunsicherheiten verschiedener
Ausprägung manifestiert hat. In einigen Fällen stellen die Sucht und der gesamtfamiliäre
Umgang damit bereits ein normatives Muster dar. Das heißt, dass das Suchtverhalten
als Bewältigungsstrategie „gelernt” und der missbräuchliche Umgang damit nicht in
Frage gestellt oder thematisiert wird, eine „normale” Verhaltensweise darstellt. Dies
wird in einer Fallgeschichte besonders deutlich (die gegen Ende des Beitrags weiterführend
vorgestellt wird), in der folgende Belastung besteht: Die Mangelerfahrungen der Mutter
der Patientin kommen anteilig durch einen Tablettenmissbrauch der eigenen Mutter zustande,
der Vater hat im Krieg den eigenen Vater und auch einen Bruder verloren. So gibt es
hier Mangelerfahrungen beider Eltern und Suchtmittelmissbrauch in den Vorgenerationen.
Hier sind dann sowohl die Patientin als auch ihre beiden Brüder und damit alle Mitglieder
dieser Generationsebene massiv abhängig von unterschiedlichen Substanzen. Einer der
Brüder ist bereits an den Folgen seiner Suchterkrankung verstorben. So kann in allen
sechs Familien davon ausgegangen werden, dass die - in unterschiedlichen Variationen
und Ausprägungen vorhandene - Gestaltung familiärer Muster und deren Entwicklung über
die Generationen eine Symptomentwicklung hin zu einer Alkoholabhängigkeit beeinflusst
haben.
Diese familiären Muster stellen sich in der Hauptsache wie folgt dar:
-
Triangulationen zwischen Patient und seinen Eltern, Wiederholung solcher Beziehungsmuster
mit ähnlichen Aufträgen, bisweilen über drei Generationen, bevorzugt über Personen
des gleichen Geschlechtes
-
Hierarchieverschiebungen zwischen Eltern- und Kindergeneration
-
Delegation von unerledigten Aufgaben oder Aufträgen
-
Übermäßig großes Gefälle in der Beziehungsdynamik zwischen Partnern und die Wiederholung
dieses Musters in nachfolgenden Generationen
-
Ein Gefälle in der elterlichen Beziehungsdynamik (Macht und Verantwortung), die sich
im Erziehungsverhalten auswirkt
-
Ablösung vom Elternhaus gelingt nur als Pseudoablösung, was sich auch über Generationen
wiederholen kann
-
Ähnliche Arbeitsplatzsituationen „verbinden” die Generationen.
Es ergibt sich die Hypothese, dass die eigene Erkrankung dann massiver auftritt bzw.
gegen Veränderung resistenter ist, wenn in beiden elterlichen Subsystemen (Familie
des Vaters, Familie der Mutter) eine Suchterkrankung bzw. ein Suchtmittelmissbrauch
anzutreffen ist, mehrere Familienmitglieder aus den Vorgenerationen betroffen sind
oder aber Angehörige der Großelterngeneration Suchtmittel missbraucht haben und auch
vermehrt Suchterkrankungen in der eigenen Geschwisterreihe auftreten. Wenn der Umgang
mit der Erkrankung geheimnisvoll oder bagatellisierend gehandhabt wird oder der Ausstieg
eine große Veränderung gesamtfamiliärer Regeln mit sich bringen würde und das System
auf den unterschiedlichen, in eine Suchterkrankung involvierten Ebenen aus dem Gleichgewicht
geraten könnte, bedeutet dies ebenfalls eine große innerfamiliäre Hürde.
Ein wichtiges Ergebnis, das eine Tendenz in eine positive Richtung aufweist, ist die
Tatsache, dass auf der horizontalen Ebene teilweise die ersten Veränderungen familiärer
Muster auftraten. So sind fast alle Patienten in gewissem Sinne „Innovatoren”. Sie
sind die ersten in einer oftmals langen Reihe Betroffener in ihren Familien, die eine
spezifische Suchtbehandlung aufsuchen und dies im familiären Kontext auch so benennen.
Funktionalitäten einer Suchterkrankung
Funktionalitäten einer Suchterkrankung
Eine zentrale Erkenntnis, die sich bei der Betrachtung der Ergebnisse mit einer Schwerpunktsetzung
auf die Funktionalität bei allen Betroffenen ergibt, betrifft erst in einem zweiten
Schritt das Symptom der Alkoholabhängigkeit. So zeigt sich, dass die Patienten alle
in einer frühen Entwicklungsphase eine bestimmte Rolle, eine Funktion, im familiären
System zugewiesen bekamen und auch übernommen haben. Aus dieser Position heraus „wachsen”
sie gewissermaßen in die Suchtproblematik hinein, stellen sich - im systemischen Sinne
- unbewusst als Symptomträger zur Verfügung und entwickeln eine in ihrer Familie bekannte
und insofern passende Symptomatik. Hier gibt es dann verschiedene Gestaltungsvarianten:
Begonnen mit der einzigen Tochter, die „die vielen Kinder, die nicht geboren werden”
ersetzen soll, über die Geschichte eines Patienten, der schon früh „erdrückt” wird
mit einem imaginären Auftrag, die väterliche Firma und verschiedene Aufträge der männlichen
Vorgenerationen zu übernehmen.
Funktionalität der Symptomatik in der horizontalen und vertikalen Ebene
Funktionalität der Symptomatik in der horizontalen und vertikalen Ebene
Die Funktionalität der Sucht als Beziehungsregulator kann als ein Oberbegriff auf
beiden Ebenen genannt werden. Dies ergibt sich aus der Position des Symptomträgers
und gestaltet sich in unterschiedlichen Facetten. So werden einerseits die Beziehungen
zum Partner und den Kindern, andererseits aber auch zu den Elterngenerationen reguliert.
Oftmals sind es bereits bestehende Triangulationen, die aufrechterhalten werden. Damit
dient das Symptom dazu, Veränderungen und damit Neuorganisation zu verhindern. Emotionale
Defizite zwischen den Familienmitgliedern werden „aufgefüllt” oder ertragbar gemacht.
Die „Übernahme” einer bekannten familiären Symptomatik, der Alkoholabhängigkeit, gilt
dann einerseits als Möglichkeit, endlich „dazuzugehören”, gleich zu sein, und andererseits
dazu, sich abzugrenzen und zu distanzieren, das „Gefangensein” in und die Ausführung
von familiären Aufträgen, die sich über die Generationen wiederholen, erträglich zu
machen.
Die individuelle Ebene der Patienten
Die individuelle Ebene der Patienten
Alle Patienten scheinen gebunden an Ansprüche, die nicht ihre eigenen sind, die sie
dennoch versuchen, einerseits zu ihren eigenen zu machen und ihnen andererseits zu
entfliehen. Die Sucht dient als ein Mittel, eine Illusion von Abgrenzung gegen diese
Ansprüche zu erreichen. Eine Illusion stellt dies besonders deshalb dar, weil gerade
durch die Entstehung und die Aufrechterhaltung der Suchtstörung das umliegende System
weiter existieren und „funktionieren” kann.
Funktionen des Symptoms der Alkoholabhängigkeit im mehrgenerationalen Kontext - Schritte
zu einer gegenstandsbezogenen Theorie
Funktionen des Symptoms der Alkoholabhängigkeit im mehrgenerationalen Kontext - Schritte
zu einer gegenstandsbezogenen Theorie
Das Symptom der Suchtmittelabhängigkeit kann im familiär systemischen Kontext sowohl
eine individuelle als auch eine familiäre bzw. beziehungsgestaltende Funktion einnehmen.
Ein Symptom kann ebenfalls - im systemischen Sinne - generell von anderen Familienmitgliedern
übernommen, quasi weitergereicht werden. Dies gilt sowohl für die horizontale als
auch die vertikale Ebene. Die Überlegung, dass die Familie ein sich selbst organisierendes
kybernetisches System sei, in dem alle Elemente vernetzt sind und das angebotene Symptom
Systemfunktionen erfüllt, trifft damit ebenso für diese Familien zu wie die Annahme,
dass sich Delegationen, wie zum Beispiel der Auftrag ein Symptom zu übernehmen, auch
auf andere Familienmitglieder übertragen lassen [4]
[8]
[9]. Die Annahme Bowens, dass sich bestimmte Muster in Familien über die Generationen
wiederholen, konnte (für einen definierten Gegenstandsbereich) in dieser Studie gestützt
werden [3]. Der Suchtmittelkonsum kann auf vielen Ebenen als Ausbruchsversuch gelten. Dieser
gelingt nur scheinbar, tatsächlich werden vorhandene Aufträge der Rollenübernahme
„bedient”. Die Übernahme einer Eigenverantwortung gegenüber der Vereinnahmung durch
die Familie kann nicht gelingen. Und auch diese Dynamik ist in den meisten Fällen
ein sich über die Generationen in unterschiedlicher Ausprägung wiederholendes Geschehen.
Dies trifft in einer auf den ersten Blick nicht erkennbaren Weise auch für solche
Familien zu, die eine desolate Familienstruktur mit scheinbar extrem durchlässigen
Grenzen aufweisen. Auch die Tatsache, dass sich die Familien dem Symptomträger gegenüber
nicht abgrenzen können oder wollen, trifft für viele der untersuchten Biografien zu.
Unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten eines familiären Miteinanders fließen aus
der eigenen Erfahrung heraus in die nächste Generation. Das bedeutet, dass die Konstellation
eigener Beziehungsgestaltung oder der Aufbau eigener familiärer Strukturen bei Suchtpatienten
- in dem definierten Gegenstandsbereich - durchflutet ist mit Wiederholungen der Muster
vorheriger Generationen. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Hypothese, dass in
den Familien, in denen Alkoholkonsum als Problemlösemuster bekannt ist, bestimmte
familiäre Aufträge oder Rollenmuster über die Generationen schon früh mit einer Affinität
zur Ausbildung einer Abhängigkeit einhergehen. Dies in vielen Fällen gerade deshalb,
weil die Sucht als Symptom schon bekannt ist. Dabei kann davon ausgegangen werden,
dass die Entwicklung einer eigenen Identität angestrebt, aber vom System nicht zugelassen
wird. Mit der Wahl einer bekannten Symptomatik bietet der Betroffene dem System und
seinen Mitgliedern geradezu die Möglichkeit, bekannte, rigide Strukturen beizubehalten.
Dies betrifft einerseits den Umgang der Systemmitglieder mit einem ihnen bekannten
Symptom und andererseits das Festhalten an alten Rollenmustern und familiären Verquickungen.
Dabei potenziert sich die Symptomatik in ihrer Schwere über die Generationen. Auf
dem Weg zu einer Theoriebildung wurden die sechs Fallgeschichten typisierend mit einer
Überschrift versehen. Die Varianz der Überschriften macht die Bandbreite des Gegenstandsbereiches
dieser Überlegungen deutlich: Fall 1: Rigidität vs. Rebellion, Fall 2: Unabhängigkeit
vs. Unterwerfung, Fall 3: Märtyrertum vs. Instrumentalisierung, Fall 4: Verwahrlosung
und Desinteresse vs. Vereinnahmung und Nichtablösung, Fall 5: Ein Opfer der Umstände,
Fall 6: Die überzählige Tochter, die aus der Reihe fällt. Zur Veranschaulichung der
spezifischen familialen Symptomatiken und Muster wird im Folgenden eine Fallgeschichte
exemplarisch im Detail vorgestellt (Abb. [1]).
Abb. 1 Genogramm
Fall 3: Märtyrertum versus Instrumentalisierung
Fall 3: Märtyrertum versus Instrumentalisierung
Die 43-jährige Patientin kommt im Dezember 2000 zum insgesamt fünften qualifizierten
Alkoholentzug. Ihre Familie ist sehr durch verschiedene Abhängigkeiten belastet. Sie
ist von Beruf Erzieherin, seit Jahren arbeitslos und lebt mit ihren beiden Söhnen
in einer betreuten Wohneinrichtung. Sie hat erstmals mit 13 Jahren Alkohol mehrmals
wöchentlich konsumiert mit 17 Jahren bis zu einer Flasche Gin täglich getrunken. Zudem
raucht sie seit dem 15. Lebensjahr Cannabis. Nach der Geburt des ersten Sohnes blieb
sie fast neun Jahre abstinent und besuchte Selbsthilfegruppen. Sie gab an, vor Aufnahme
bis zu einer Flasche Korn am Tag getrunken zu haben. Hier zeigt sich sehr deutlich,
wie eine familiäre Verquickung aussehen kann, in der die Symptomatik eine mehrgenerationale
Funktionalität besitzt. Tatsächlich sind Therapieversuche über die Generationen wiederholt
gescheitert. Der Ausstieg aus familiären Aufträgen und vertrauten Rollenmustern erscheint
den Mitgliedern des Systems zu bedrohlich. Die Familie kennt bereits Regeln, die den
„Rückfall” in alte Verhaltensmuster forcieren. Es zeigen sich verschiedene Formen
der familiären Verquickung. Die Patientin wiederholt die Rolle der Märtyrerin. Diese
ist so definiert, dass sie einerseits „instrumentalisiert” wird für verschiedene Funktionalitäten,
andererseits dabei ein Allmachtsgefühl, die „Märtyrerposition”, entwickelt, die sie
selbst in ihrer Rolle hält. So geht sie davon aus, sie könne den Konsum der Mutter
beeinflussen. Dies begründet sie damit, dass ihr eigener Suchtkonsum die Mutter in
deren kontrollierender Rolle ihr gegenüber hält und sie sich nicht mit ihrer eigenen
Suchtgeschichte auseinander setzen müsse. Eine solche familiäre Position macht es
besonders schwer, aus der Sucht auszusteigen.
Fazit: Die Aufträge für die Frauen, Mütter und Töchter werden in den Vorgenerationen
implizit festgeschrieben und früh an diese weitergegeben. Instrumentalisierung und
zugleich das Ausagieren in einer Märtyrerfunktion sind festgelegte, transmittierende
Muster, aus deren Gesamtsumme sich immer eine Rechtfertigung für eigenen Konsum und
dessen Bagatellisierung ergibt.
Implikationen für Therapie und Forschung
Implikationen für Therapie und Forschung
In der vorliegenden Untersuchung wurde ein Phänomen untersucht, das sich auch in vielen
theoretischen Abhandlungen von Therapiemodellen findet und von Praktikern in ihrer
Arbeit diskutiert wird, aber bisher nicht explizit Gegenstand wissenschaftlicher Analysen
war. Für die therapeutische Arbeit gilt es auf Grundlage der Ergebnisse zum einen,
die Entschlüsselung familiärer Muster zusammen mit den Patienten voranzutreiben und
mit ihnen gemeinsam deren Funktionalitäten zu erkennen, um diese dann gezielt therapeutisch
auflösen zu können. Die Überlegung dessen, ob oder wie das umgebende familiäre System
davon profitieren könnte, wenn der Betroffene nicht mehr als Symptomträger zur Verfügung
steht, ist dabei ein entscheidender therapeutischer Schritt, dem sich auch die Forschung
zukünftig annehmen sollte. Das bedeutet auch, dass die Patienten, aber auch das System,
in den jeweiligen Ressourcen gestärkt werden müssen, um eigenverantwortlich für sich
und ihre Position in Partnerschaft und Familie eintreten zu können. Damit wird die
Notwendigkeit von Behandlungsmodellen von Suchtkranken untermauert, die die Reflektion
familiärer Dynamiken als wichtige Intervention betrachten. Die systemische Therapie
hält entsprechende Interventionen vor, die auch in andere Ansätze integriert werden
können [6]
[17]. Das Genogramm kann hier als therapeutische Intervention und Diagnostikum gleichermaßen
wertvolle Hilfe leisten. Auf der Seite der Forschung sei noch einmal abschließend
betont, dass die vorliegende Studie als ein erster Schritt in eine Richtung zu verstehen
ist, deren Ziel das Formulieren einer wissenschaftlich untermauerten Theorie bedeutet.
Dazu sollten in nächsten Schritten auf jeden Fall der Gegenstandsbereich vergrößert
und die daraus entstandenen Hypothesen im Rahmen von Therapieprozessforschung überprüft
werden.