„Dick” (Nicolaas Gerardus Maria) Orie, emeritierter Professor für Lungenkrankheiten
der Reichsuniversität Groningen, ist im 91. Lebensjahr am 5. Juli 2006 in Winsum/Niederlande
verstorben. Professor Orie ist einer der Väter der modernen Pneumologie. Er hat frühzeitig
die entzündlichen Aspekte der chronischen obstruktiven Atemwegserkrankungen zu seinem
Forschungsschwerpunkt gemacht und damit die moderne Forschung über die Grundlagen
von Asthma und COPD begründet.
Der Leitgedanke von Orie u. Mitarb. in Groningen war um 1960, dass - neben exogenen
Faktoren - patienteneigene Eigenschaften („host factors”), insbesondere die Bereitschaft
für die Entzündung von Atemwegen und Alveolen, messbar in der bronchialen Hyperreagibilität,
für die Entstehung von Asthma und COPD gleichermaßen bedeutsam seien ([Abb. 1], [2]).
Abb. 1 N. G. M. Orie (1914 - 2006) J. M. C. Asselbergs, 2002; © Reichsuniversität Groningen,
Universitätsmuseum
Abb. 2 Schematische Darstellung den angenommenen Korrelationen zwischen den vermuteten Ausdrucksformen
der asthmatischen Veranlagung (Orie u. Mitarb., 1960)
Das Konzept wurde erstmals auf dem Symposium „Bronchitis” 1960 vorgestellt [3]. Als Schlussfolgerung der Untersuchungen wurde vorgetragen: “The sum of basic disturbances:
hyperreactivity and allergy, sequelae such as infection and fibrosis and complicating
factors explain to a considerable extent the clinical picture of bronchitis and asthma
- and their analysis suggests that bronchitis and asthma are both different patterns
of the same conditions whose signs and symptoms are also influenced by age and sex.
- It does not explain the “why” of the basic disturbances but it gives us a lead to
the direction of further investigations. - Many apparently paradoxical facts: levels
of eosinophilia, influence of infection, lifecycles, 24-hour-rhythm (natural history
in relation to age and sex) as well as therapeutical observations can be understood
in terms of pituitary-adrenal activity. - Much work will however have to be done before
this is proved and before the quantitative and qualitative details of its mechanism
have been elucidated.”
Diese Auffassung stieß auf Widerstände insbesondere im angelsächsischen Raum, da dort
Asthma und COPD als grundsätzlich völlig unterschiedliche Entitäten gesehen wurden.
Der Begriff „Dutch Hypothesis” wurde auf dem Symposium „Bronchitis III” von Fletcher
geprägt - im Unterschied zur „British Hypothesis” [2]. Fletcher selbst war damals der Meinung, die Dutch Hypothesis sei näher an der Realität
als die British Hypothesis: “We conclude that the ‘Dutch’ hypothesis of the development
of airways obstruction is closer to the truth than the ‘British’ hypothesis but we
have found no evidence of hyperreactivity of the asthmatic type in those subjects
who are developing the condition [˜COPD]. We do not know why they are more susceptible
than others to the effect of smoking.”
Die Forschung war in den nachfolgenden Jahrzehnten geprägt von einer Präzisierung
der Unterschiede zwischen Asthma und COPD. Die Unterschiede wurden zeitweilig sehr
pointiert, mit Auswirkungen insbesondere auf die Therapie, die sich zuvor bei Asthma
und COPD weitgehend glich. Zeitweilig wurde in den Leitlinien z. B. der Einsatz von
Glukokortikosteroiden in der Dauertherapie der COPD weitgehend abgelehnt. Diese Auffassungen
beruhten auf Studien bei älteren Erwachsenen, ohne Reversibilität der Atemwegsobstruktion
unter Beta-Agonisten. Umgekehrt werden Therapiestudien bei Asthma im Erwachsenenalter
bei jüngeren Nichtrauchern durchgeführt, die eine deutliche Reversibilität ihrer Obstruktion
aufweisen. Diese Unterschiede der Einschlusskriterien mussten die Unterschiede von
Asthma und COPD im Erwachsenenalter betonen - die häufigen Mischbilder wurden ausgeklammert.
Erst in den letzten Jahren, nachdem Exazerbationen und damit wichtige Parameter des
klinischen Alltags der obstruktiven Atemwegserkrankungen als Kriterium genutzt werden,
sind Glukokortikosteroide auch bei COPD wieder auf dem Vormarsch, somit zumindest
partiell in Übereinstimmung mit Ories Hypothese.
Nach heutigen Vorstellungen sind definitive Belege für die „Dutch Hypothesis” nicht
erbracht worden [7], und beide Entitäten weisen so erhebliche Unterschiede bezüglich Krankheitsverlauf,
Symptomatik, Prognose und Therapierbarkeit auf, dass die Orie'schen Vorstellungen
wenig Chancen haben, verifiziert zu werden. Orie selbst hat 2000 nochmals Stellung
genommen [4]. Er betonte besonders, dass frühkindliche Infektionen die Basis für das spätere
Auftreten einer COPD darstellen würden. Seine Nachfolger sehen in genetischen Studien
die beste Möglichkeit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu identifizieren [6].
Die „Dutch Hypothesis” hat die wissenschaftliche Debatte über Asthma und COPD bis
heute auf jeden Fall so außerordentlich belebt und die wissenschaftliche Entwicklung
unseres Faches so nachhaltig beeinflusst, dass N.G.M. Orie ohne jede Einschränkung
zu den herausragenden Vertretern unseres Faches gehört. Daher soll sein Lebenslauf
und seine wissenschaftliche Bedeutung kurz dargestellt werden.
Orie wurde am 19.11.1914 in Ginneken en Bavel, heute Breda/Niederlande geboren. Das
Studium der Medizin absolvierte er bis 1939 in Utrecht [1]. Seine ärztliche Tätigkeit begann er im St. Joseph-Krankenhaus in Eindhoven, wo
sein Interesse an Lungenkrankheiten geweckt wurde. Den größten Teil seines Lebens
hat er in Westfriesland verbracht. 1945 erhielt er eine Internistische Assistenzarztstelle
in Groningen, wo er seither tätig war. 1946 wurde er an der Reichsuniversität Utrecht
promoviert mit einer pneumologischen Arbeit („Over het voorkomen en de beteekenis
van gisten in den Luchtwegen”). 1949 wurde auf seine Initiative in Groningen eine
eigenständige Poliklinik für Lungenkrankheiten eingerichtet. 1955 wurde er zum Ordinarius
für Pneumologie berufen. Dieses Amt übte er bis 1979 an der Reichsuniversität Groningen
aus.- Er war Ehrendoktor der Reichsuniversität Leiden und Ritter des 1815 gegründeten
Ordens des Niederländischen Löwens.
Prof. Orie wurde vor allem durch die „Bronchitis-Symposien” in Groningen bekannt,
die er 1960 begründete und die inzwischen von seinen Nachfolgern bis zum Bronchitis
VII-Symposium 2003 weitergeführt wurden.
Der Verstorbene hat seit Jahrzehnten in Winsum, nahe Groningen, in einem ehemaligen
Pastorat gelebt. Orie war nach dem Tod seiner ersten Frau 1984 ein zweites Mal verheiratet.
Er hinlässt Kinder und Kindeskinder. - Orie hat auch nach seiner Emeritierung die
wissenschaftliche Entwicklung verfolgt. Seine letzten wissenschaftlichen Publikationen
stammen aus den Jahren 2000 und 2002, wiederum zur „Dutch Hypothesis” [4]
[5].
Infolge seiner bedeutenden Beiträge zur COPD-Forschung erhielt Orie zahlreiche Ehrungen,
unter anderem auch die Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft für Lungen- und Atmungsforschung
in Bochum. Durch das jahrzehntelange gemeinsame Interesse an den vagalen Mechanismen
der Atemwege und der Lungen bestanden persönliche Bindungen mit Prof. Ulmer und mit
dem Unterzeichner - häufig hat Orie auch in den letzten Jahren mit einem brieflichen
Gruß die Bochumer „Dezembertagung” begleitet.
Prof. Orie war durch seine frühzeitig von der traditionellen - von der Tuberkulose
geprägten - Pneumologie abweichenden Konzepte und ebenso auch durch seine herausragende
Persönlichkeit einer der wichtigsten klinischen Pneumologen der zweiten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts. Er verdient das bleibende Angedenken der Pneumologen weltweit.