Juckreiz gilt als der kleine Bruder vom Schmerz. Es ist ein feines, subjektives
Signal von Beeinträchtigung an oder in der Haut. Er verleitet zur Reaktion; Streicheln,
Reiben, Drücken und Kratzen, immer wieder Kratzen in allen Formen, mit und ohne
Verletzung. Juckreiz hat verschiedene Qualitäten. Er kann punktförmig gut lokalisierbar
auftreten und großflächig, episodisch oder dauerhaft und er wird oberflächlich
empfunden oder in der Tiefe der Haut. Oft wird er explizit als stechend oder brennend
beschrieben. Er kann beherrschbar sein oder so quälend, dass er zur reflexartigen
Reaktion führt, Kratzen eben. Juckreiz kann durch stärkere Empfindungen, Kratzen
bis zum Schmerz, gelöst, gelöscht und so gleichsam zugedeckt werden, also durch
stärkere zentripetale Impulse entlang ähnlicher afferenten Nervenfasern. Eben
der kleine Bruder vom Schmerz.
Juckreiz (Pruritus) wird ausgelöst durch Entzündungen der Haut jeder Art, durch
Infektionen, Parasitenbefall, durch Trockenheit der Hautoberfläche, durch Ablagerungen
in die Haut und viele Hautkrankheiten mehr. Mediatoren zur Aktivierung der freien
Nervenendigungen gibt es viele (siehe S. 468).
Minutiöse histochemische Untersuchungen zeigten schon vor Jahrzehnten, dass sich
bei chronischem Juckreiz in den stark juckenden, akanthotischen Papeln (Prurigo)
vermehrt freie Nervenendigungen darstellen lassen. Die gesteigerte Juckreizempfindung
wird damit in Beziehung gesetzt; wohl als Ausdruck einer Plastizität der freien
Nervenendigungen in der Peripherie.
Chronischer Juckreiz bedingt Kratzen, oft bis zu Verletzungen, welche charakteristisch
in Streifen angeordnet sind, Superinfektionen folgen und der immer wiederkehrende
Juckreiz führt zu einem sich selbst verstärkenden Circulus vitiosus. Der Juckreiz wird in der Folge zentral verstärkt und erlernt, er verselbständigt
sich und unterhält sich auch ohne peripheren Anlass dazu; Pruritus sine materia. Dies ist wohl Ausdruck einer zentral im Gehirn lokalisiebaren Plastizität, ganz
ähnlich wie beim chronischen Schmerz. Beide Formen subjektiven Empfindens, Juckreiz
und Schmerz, unterliegen dann reizfremden Einflüssen somatischer und emotionaler
Art. Die Analogie kann noch weiter verfolgt werden, da auch chronischer Juckreiz
durch autogene und unterstützende Maßnahmen „verlernt”, gleichsam wegtrainiert
werden kann, wie beim chronischen Schmerz.
Juckreiz ist ein wesentliches Movens der klinischen und experimentellen Psychodermatologie
und deren Verknüpfung mit der Immunologie sowie, seit jeher, der Pharmakotherapie.
Neuerdings rückt das Wechselspiel der afferenten und efferenten Nervenfasern mit
den komplexen Strukturen der Haut und dessen Regulierung durch Mediatoren in die
Reichweite experimenteller Ansätze. Der Begriff neurogene Entzündung versucht dies zu fassen (siehe S. 463).
Prof. Dr. Ernst G. Jung