Dr. Jörg A.K. Ohnsorge
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Seit ihrem Erscheinen wird weltweit in allen Medien der Laien- und der Fachpresse
eine höchst fragwürdige klinische Studie immer wieder zitiert und redundant mit der
sensationellen Formel resümiert, dass die Arthroskopie des Kniegelenkes überflüssig
sei, da Placebo-Operationen denselben Effekt haben. Die Folgen sind gravierend: Die
Behandlungskosten werden vielerorts nicht mehr übernommen!
Die besprochene Arbeit trägt den Titel "A controlled trial of arthroscopic surgery
for osteoarthritis of the knee", erschienen in The New England Journal of Medicine
(N Engl J Med) 2002, Vol. 347, No. 2: 81-88. Die Autoren sind J. Bruce Moseley et
al.
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Eine klinische Studie mit Folgen
Eine klinische Studie mit Folgen
Gerade im Rahmen der ausufernden Diskussion um Kosten im Gesundheitswesen kommt bestimmten
Kreisen die populäre Botschaft offenbar gut zu Pass, um ärztliche Leistungen als solche
in Misskredit zu bringen. Doch auch als seriös recherchierend und fundiert argumentierend
bekannte Journalisten und nicht zuletzt fachkundige Mediziner sitzen der verführerisch
einfachen Schlussfolgerung dieser Studie auf. Das scheinbar über jeden Zweifel erhabene
und jeden Widerspruch erschlagende Argument zugunsten dieser Arbeit ist ihre allenthalben
zitierte Klassifikation als prospektive, randomisierte, doppelt geblindete und kontrollierte
Studie. Im Bemühen, gute und aussagekräftige Studien aus der verwirrenden Vielfalt
medizinischer Publikationen zu selektieren, ist ein Bewertungssystem auf Grundlage
von Kriterien der Evidenz-basierten Medizin (EBM) geschaffen worden. Wem will man
es also verdenken, der sich daran orientiert und eine in dieser Rangfolge höchstplatzierte
Studie als valide wissenschaftliche Leistung wertet und darin publizierte Schlussfolgerungen
übernimmt?
Dem Laien wohl kaum, doch den Fachleuten kann man dies durchaus verdenken. Deren gibt
es immerhin einige, welche sich unkritisch mit dieser Studie auseinandergesetzt haben.
Viele andere wiederum haben sich nach Erscheinen dieser Studie entrüstet gezeigt und
entsprechende Stellungnahmen publiziert. Jedoch werden diese mit durchaus stichhaltigen
Argumenten belegten Äußerungen in der breiten Öffentlichkeit kaum diskutiert.
Fragwürdiges Studiendesign
Fragwürdiges Studiendesign
Es ist offenbar wenig bekannt, dass diese Studie eines renommierten, verdienten und
respektierten orthopädischen Chirurgen und seines Teams von mehreren hochrangigen
internationalen orthopädischen Fachzeitschriften wegen gravierender methodischer Mängel
abgelehnt worden war, ehe das nicht eben typischerweise mit dem orthopädischen Fachgebiet
befasste New England Journal of Medicine das Manuskript veröffentlichte. Diverse Gutachter
hatten zuvor unter anderem erkannt, dass das Studiendesign die Aufsehen erregende
Schlussfolgerung, arthroskopisches Debridement sei obsolet, gar nicht zuließ.
Die Studie war konzipiert, um die Überlegenheit der Arthoskopie bei der Behandlung
der Gonarthrose zu beweisen. Auf dieser Grundlage wurden zunächst die Anforderungen
an das Kollektiv und die power der Studie berechnet. End-Punkte und Analyse-Werkzeuge
wurden für die Fragestellung speziell definiert und entsprechend erfolgte später die
Auswertung. Als sich wider Erwarten keine Unterschiede fanden, wurde die Studie jedoch
schlicht umgewidmet. Anhand der unter anderen Vorzeichen gewonnenen Daten wurde post
hoc versucht, ein Äquivalenz nachzuweisen. Das ist wissenschaftlich unzulässig.
Austausch der Hypothesen im Nachhinein nicht zulässig
Austausch der Hypothesen im Nachhinein nicht zulässig
Es ist selbstverständlich, dass im Sinne der Unvoreingenommenheit die Nachweisgrenzen
im Vorhinein und insbesondere nicht auf Basis der bereits erhobenen Daten zu berechnen
sind. Es ist auch klar, dass diese Grenzen bei einer Äquivalenzstudie nicht dieselben
sein können, wie bei einer Überlegenheitsstudie. Überdies benötigt eine Äquivalenzstudie
auch ein weitaus größeres Kollektiv, um über ausreichende power zu verfügen. Umgekehrt
ist bei gleicher Probandenanzahl die power bei einer Äquivalenzprüfung automatisch
geringer, als bei einem Überlegenheitsnachweis. Schließlich entkräftet sich die Studie
selbst durch den Austausch der Hypothese nach Abschluss der Datenerhebung. Somit wird
nämlich aus einer prospektiven, randomisierten, doppel-geblindeten und kontrollierten
klinischen Studie (EBM-Stufe 1) eine retrospektive Auswertung (EBM-Stufe 6), welche
überdies den wesentlichen statistischen Anforderungen nicht genügt.
Fragwürdige Selektion des Patientenkollektivs
Fragwürdige Selektion des Patientenkollektivs
Unabhängig davon ist auch die Zusammensetzung des Patientenkollektivs höchst zweifelhaft.
Einschluss- und Ausschluss-Kriterien wurden nicht oder unzureichend definiert. Es
wurden ausschließlich Veteranen der amerikanischen Armee, also überwiegend männliche
Soldaten, einbezogen. Von einem repräsentativen Bevölkerungsschnitt kann dabei kaum
die Rede sein, was auch die Autoren selbst einräumen.
Es fällt auf, dass 44% der ursprünglich für die Studie vorgesehenen Patienten nicht
mehr zur Verfügung standen, nachdem ihnen mitgeteilt worden war, dass sie möglicherweise
einer Placebo-Operation unterzogen würden, die voraussichtlich zu keiner Besserung
ihrer Beschwerden führen würde. Man darf also mutmaßen, dass Patienten mit erheblichen
Beschwerden nicht in der Studie repräsentiert waren. Weiterhin sollte bedacht werden,
dass bei dem selektierten Kollektiv die Frage des Rentenbegehrens, als auch die des
militärischen Gehorsams eine nicht untergeordnete Rolle spielen dürfte. Auch dies
spricht nicht eben für die Objektivität der Studie, bzw. die Zuverlässigkeit subjektiver
Angaben.
Verschiedene Indikationen, Verfahren und Klassifikation der Resultate
Verschiedene Indikationen, Verfahren und Klassifikation der Resultate
Schließlich wurden in der Studie verschiedene Formen der arthroskopischen Operation
bei unterschiedlichster klinischer Symptomatik miteinander verglichen, ohne diese
zu spezifizieren oder eine Korrelation zu definieren, so dass eine Vergleichbarkeit
oder gar Reproduzierbarkeit nicht gegeben ist. Es wurden kaum klinische Angaben gemacht.
So bleibt unklar, ob und wie viele Patienten welche Achsverhältnisse, welchen Grad
der Arthrose, Ergussneigung oder mechanische Störungen aufwiesen, oder nicht.
Wenn nicht eine Placebo-Operation durchgeführt wurde, dann wurde je nach individuellem
Urteil des Chirurgen unterschiedlich vorgegangen, ohne dass eine Systematik erkennbar
wäre. Es gingen also Lavage und Debridement ebenso in die Bewertung ein wie Resektion,
Synovektomie und Anbohrungen. Intraoperative Befunde wurden nicht klassifiziert. Ausmaß
und Tiefe des Debridement wurde ebenso wenig wie der Zustand von Knorpel, Schleimhaut
und Menisken geschildert und bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Die demzufolge
vermutlich unterschiedlichen individuellen postoperativen Ergebnisse wurden dann wieder
gemittelt, so dass die indikations- oder verfahrensspezifischen Unterschiede nicht
erkennbar wurden. Die inadäquate Klassifikation klinischer und pathologischer Befunde
und fehlende Korrelation mit den operativen Maßnahmen entkräften die Interpretationergebnisse.
Nicht das Verfahren, sondern die Anwendung bei Gonarthose fragwürdig?
Nicht das Verfahren, sondern die Anwendung bei Gonarthose fragwürdig?
Bei der Diskussion ihrer Ergebnisse sprechen die Autoren zwar einige der Kritikpunkte
an, ziehen daraus jedoch keine entsprechende Konsequenzen bei der Interpretation.
Tatsächlich fordern sie sogar, dass auf der Grundlage ihrer Studie finanzielle Mittel
besser anderweitig und nicht für die Arthroskopie bei Gonarthrose eingesetzt werden.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu bemerken, dass die Autoren selbst ihre Schlussfolgerung
für die Indikation der Arthroskopie bei Gonarthrose und nicht für das Verfahren als
solches ziehen, wie in den Medien häufig falsch wiedergegeben.
Der tatsächliche Wert der Arthroskopie bei Gonarthrose lässt sich auch nach Meta-Analyse
der Fachliteratur nur schwer fassen. Zu uneinheitlich sind die Kollektive, zu wenig
vergleichbar die Studien. Diese sind in den meisten Fällen weder kontrolliert noch
randomisiert und oft nur retrospektiv. Doch soll eine niedrige Bewertung nach EBM-Kriterien
dazu führen, dass diese Studien nicht länger beachtet werden? Zwar variierten die
jeweiligen Patientenzahlen und Methoden stark, doch wurde von verschiedenen Autoren
über deutliche Verbesserung der Symptome der Gonarthrose im frühen Stadium sowohl
durch Lavage als auch durch Debridement berichtet.
In einer Placebo-kontrollierten und randomisierten Multicenterstudie konnte Ravaud
(1999) einen eindrucksvollen Effekt der arthroskopischen Lavage auf den Knieschmerz
nachweisen. Zu gleichem Ergebnis kam Kalunian (2000) im Rahmen einer sehr ähnlich
angelegten Studie mit entsprechend hohem EBM-Niveau. Ein Erguss im Kniegelenk deutet
auf Abrieb-Partikel, freie Gelenkkörper oder mechanische Probleme hin, welche arthroskopisch
beseitigt werden können. Als häufige Ursache für eine schmerzvolle Synovialitis werden
Calciumphosphat-Kristalle und deren Entfernung mittels Lavage darum als indiziert
angesehen. Im Falle schwerer entzündlicher Hypertrophie gilt die Synovektomie als
sinnvoll. Hsieh (2004) konnte nachweisen, dass die Matrix-Metalloproteinasen MMP2
und MMP9 in Kulturen arthrotischer Läsionen deutlich erhöht sind, was eine enzymatische
Andauung als Ursache für das Fortschreiten der Erkrankung nahelegt und den positiven
Effekt der Lavage erklärt. Hingegen konnte Brenner (2004) eine Proportionalität zwischen
dem Titer von Enzündungsmarkern oder Enzymen und dem Grad der Arthrose nicht nachgewiesen
werden.
Debridement häufig sinnvoll
Debridement häufig sinnvoll
Wai (2002) berichtete, dass nach Arthroskopie im frühen, aber symptomatischen Stadium,
ein Kniegelenkersatz nach einem Jahr nur in 10% der Fälle, nach drei Jahren nur in
18% der Fälle notwendig war. Bei Bernard (2004) waren es 18% nach fünf Jahren und
in der Altersgruppe unter 60 Jahre sogar nur 11% nach diesem Zeitraum. Das so genannte
Debridement wird von den meisten Autoren bei primär mechanischen Problemen für sinnvoll
erachtet, wobei die genauen chirurgischen Maßnahmen, die jeweiligen Strukturen und
die speziellen Indikationen nicht ohne weiteres zu vereinheitlichen sind. Fond (2002)
berichtete in diesem Zusammenhang über deutliche Schmerzreduktion und verbesserte
Gelenkfunktion nach Entfernung von Osteophyten. Harwin (1999) hatte bereits auf die
Bedeutung pathologischer Veränderungen des Meniskus und den Wert arthroskopischer
Abtragung zur Beseitigung mechanischer Hindernisse hingewiesen. Die reine Knorpelglättung
wird kontrovers diskutiert. Es bleibt weiterhin unklar, ob die beobachteten positiven
Effekte allein durch die Lavage erklärt sind, oder aber tatsächlich durch einen Placebo-Effekt.
Einheitliche Arthrosestadieneinteilung nicht möglich
Einheitliche Arthrosestadieneinteilung nicht möglich
Das Studium der Literatur wirft weitere Fragen auf. In erster Linie erscheint eine
einheitliche Stadieneinteilung unmöglich. Fife (1991) konnte keine Relation feststellen
zwischen der radiologischen Gelenkspaltverschmälerung und dem arthroskopisch inspizierten
Zustand des Knorpels. Brismar (2002) wies gar eine unzureichende Intra- und Interobserver-Verlässlichkeit
bei der arthroskopischen Beurteilung und Stadieneinteilung der frühen Gonarthrose
nach.
In der MRT können pathologisch veränderter von gesundem Knorpel mit einer Spezifität
von 90% unterschieden und frühe gonarthrotische Zeichen nachgewiesen werden. Andererseits
wurde von Blackburn (1996) vor Unterschätzung des Ausmaßes von Knorpelveränderungen
in der MRT gewarnt und im Zweifel zur invasiven, aber sensitiveren arthroskopischen
Befunderhebung geraten. Neuere rechnergestützte Technologie ermöglicht mittlerweile
verbesserte Beurteilung und Quantifizierung von Knorpelschäden im MRT mit guten Ergebnissen
hinsichtlich der Korrelation mit intraoperativen Befunden.
Vorteile der Arthroskopie
Vorteile der Arthroskopie
Im Hinblick auf die Behandlungskosten bietet die Arthroskopie durchaus Vorteile. Sie
ist in der Regel weniger kostenintensiv, als die einjährige konservative Behandlung
einer Gonarthrose mittels Physiotherapie und Medikamenten. Im Falle einer erfolgreichen
Arthroskopie können gebesserte Beschwerden und gesteigerte Funktion mit entsprechend
geringen Behandlungskosten einer Multiplikation der Kosten und der Leiden des über
mehrere Jahre konservativ geführten Patienten gegenüberstehen. Solange die jeweiligen
Indikationen sauber voneinander getrennt werden, erübrigt sich zumindest bei der frühen
Gonarthrose der Vergleich mit den Kosten für einen Gelenkersatz, welcher mittel- oder
langfristig in jedem Fall notwendig werden kann.
Komplikationen durch Arthroskopie
Komplikationen durch Arthroskopie
Zu berücksichtigen sind mögliche Komplikationen der Arthroskopie. Hämarthros, Infektion,
septische Arthritis und Osteomyelitis beinträchtigen direkt die Überlebensdauer des
Gelenks. Fälle letaler Sepsis sind beschrieben. Thrombose, Nerven- und Gefäßverletzung,
Kompartment-Syndrom und Reflex-Algodystrophie sind ebenfalls möglich. Allerdings muss
heute nur mit einer mittleren Infektionsrate von ca. 0,1 % und einer allgemeinen Komplikationsrate
von 1,68 % gerechnet werden.
Schmerz allein ist keine Indikation
Schmerz allein ist keine Indikation
Bei der Indikationsstellung müssen individuelle Lebensumstände, Aktivitätsniveau,
Erwartungshaltung und Compliance des Patienten ebenso berücksichtigt werden, wie seine
Größe und sein Gewicht. Gravierende Achsfehlstellungen wie auch multikompartimentelle
Beteiligung stellen relative Kontraindikationen dar, da in den meisten Studien signifikant
schlechtere Ergebnisse verzeichnet sind. Höhergradige Bewegungseinschränkung und insbesondere
eine Flexionskontraktur gelten als Kontraindikationen. Im Einzelfall kann eine Extensionssperre
durch arthroskopische Abtragung eines anteromedialen Osteophyten der Tibia beseitigt
werden. Bei Patienten über 60 Jahre und nach einer Vor-Operation hat sich die Arthroskopie
zur Behandlung der Gonarthrose nicht bewährt. Wegen der ohnehin schlechten Prognose
für das Gelenk ist in diesen Fällen eine Arthroskopie zu rein diagnostischen Zwecken
obsolet. Eine solche kommt überhaupt nur dann infrage, wenn anders kein Aufschluss
über die Beschaffenheit des Gelenkes zu erhalten ist. Schmerz allein indiziert keine
Operation.
Arthroskopie probates Mittel bei der frühen Gonarthrose
Arthroskopie probates Mittel bei der frühen Gonarthrose
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass, anders als in der eingangs diskutierten
Studie, eine unspezifische, nicht zielgerichtete arthroskopische Operation bei unbekannter
Pathologie nicht erfolgen darf. Die Indikation ist umso kritischer zu stellen, wenn
radiologische Zeichen einer Pangonarthrose bestehen und setzt eine präzise, individuelle
Befunderhebung voraus. Bestimmte mechanische Hindernisse, freie Gelenkkörper, Meniskusdeformitäten,
lokalisierte osteochondrale Läsionen oder auch der massenhafte Nachweis von Calciumphosphat-Kristallen
rechtfertigen den Versuch der arthroskopischen Behandlung. Eine Exazerbation der Erkrankung
ist dadurch möglicherweise aufzuhalten und eine Beschwerdereduktion zumindest für
einen längeren Zeitraum realistischerweise zu erwarten. Dies vorausgesetzt, kann die
Arthroskopie auch im Sinne der Kosteneffizienz weiterhin als probates Mittel bei der
problemorientierten Behandlung der frühen Gonarthrose gelten.