Extrapyramidal-motorische Störungen (EPMS) und daraus eventuell resultierende tardive
Dyskinesien sind gefürchtete Nebenwirkungen von Antipsychotika, die vor allem bei
der Anwendung von Typika auftreten können. Können diese mit neuen Antipsychotika vermieden
werden? Dr. Katrin Wolf sprach mit Prof. Georg Juckel über diese Problematik.
Georg Juckel
Inwiefern spielen EPMS seit der Verfügbarkeit von atypischen Arzneistoffen überhaupt
noch eine Rolle?
Juckel: EPMS spielen auch bei atypischen Neuroleptika noch eine Rolle: Frühe Störungen im
Sinne der Akathisie oder eines Parkinsonoids sind nicht gänzlich durch die atypischen
Neuroleptika verschwunden. Aber hinsichtlich der Spätdyskinesien kann man eindeutig
sagen, dass diese deutlich seltener geworden sind als unter typischen Neuroleptika.
Nach der Metaanalyse von Correll et al. (Am J Psychiatry 2004) treten Spätdyskinesien
unter atypischen Neuroleptika etwa bei einem Prozent der Patienten pro Jahr auf, unter
typischen dagegen bei fünf Prozent. Das kann man auch von den klinischen Erfahrungen
her gut nachvollziehen. Ich würde sogar sagen, dass das Risiko unter Atypika unter
einem Prozent liegt.
Besteht daher aus Ihrer Sicht noch Bedarf für ein neues Antipsychotikum?
Juckel: Grundsätzlich ja, wobei wir uns natürlich sehr über ein neues Antipsychotikum freuen
würden, das nicht nur an den dopaminergen oder serotonergen Rezeptoren ansetzt, sondern
möglicherweise stärker glutamaterg wirkt oder sogar ein völlig neues Wirkprinzip aufweist
- ein Antipsychotikum, das in allen Phasen der Erkrankung wirkt und nicht nur die
Kernsymptomatik der Schizophrenie, sondern auch die kognitiven Dysfunktionen, Depressivität,
Antrieb, Motivation, Negativsymptomatik, Lebensqualität und die psychosozialen Fähigkeiten
verbessert. Damit die Patienten trotz ihrer schweren Erkrankung ein normales Leben
führen können. Aber auch hinsichtlich der Darreichungsformen, der Handhabbarkeit,
der Kombinierbarkeit und der Nebenwirkungen wäre es wichtig, eine Substanz zu haben,
die ein günstiges Profil aufweist.
Mit Paliperidon ER befindet sich ein neues orales atypisches Antipsychotikum im europäischen
Zulassungsverfahren, das die OROS®-Technologie (Osmotic-controlled Release Delivery
System) für eine osmotisch kontrollierte Freisetzung nutzt und Plasmaspiegelschwankungen
reduziert. Ergebnisse der Zulassungsstudien zeigen, dass die Häufigkeit von EPMS vergleichsweise
gering ist. Würde dies für Sie - neben der Wirksamkeit - ein entscheidendes Argument
für die Verordnung darstellen?
Juckel: Der entscheidende Punkt ist ja der gleichmäßigere Plasmaspiegel. Zumindest aus theoretischer
Sicht, aber auch auf der klinisch-intuitiven Ebene ist es gut nachvollziehbar, dass
die Vermeidung von Wirkstoffspiegelspitzen und damit starke Schwankungen der Rezeptorbesetzung,
insbesondere der D2-Rezeptoren, mit weniger Nebenwirkungen verbunden sein kann, insbesondere
mit weniger EPMS. Das deckt sich mit unseren Erfahrungen bei M. Parkinson, bei dem
wir ON/OFF-Phasen durch gleichmäßigere Plasmaspiegel vermutlich vermeiden können.
Wir können davon ausgehen, dass eine Retardformulierung bzw. die OROS®-Technologie
aufgrund der konstanteren Wirkstoffspiegel sicherlich günstig sein dürfte. Die ersten
Studiendaten sehen sehr positiv aus, was die Symptomatik und auch das psychosoziale
Funktionsniveau betrifft. Und auch hinsichtlich des Auftretens von EPMS scheint sich
dies in der praktischen Wirklichkeit zu bestätigen.
Bei schizophrener Störung ist ja ein ganz entscheidender Aspekt die Langzeittherapie.
Unsere Patienten sollen möglichst lange rezidivfrei zu Hause ein möglichst normales
Leben führen können und dabei psychosozial in ihrer Umgebung, in ihrem Beruf, in ihrem
Freundeskreis integriert sein. Und deshalb setzen wir natürlich auf Präparate, die,
durch einen gleichmäßigen Plasmaspiegel bedingt, eine ausreichend lange Wirkung erzielen
können und vermutlich dadurch die Compliance unser Patienten verbessern helfen können.
Könnte Ihrer Ansicht nach Paliperidon ER - auf Grundlage der bereits auf Kongressen
veröffentlichen klinischen Daten - eine Therapieoption darstellen, die diese Anforderungen
erfüllt?
Juckel: Theoretisch ja, die Aussicht ist da und deswegen sind wir auch sehr gespannt auf
die Markteinführung. Wir gehen davon aus, dass unser Urteil über dieses Medikament
wegen seines günstigen Nebenwirkungsprofils, seiner guten Handhabbarkeit auch wegen
seines geringen Interaktionspotenzials mit anderen Psychopharmaka günstig ausfallen
wird.
Sehr geehrter Herr Prof. Juckel, vielen Dank für das Gespräch.
Mit freundlicher Unterstützung der Janssen-Cilag GmbH.