Im Herbst 1945 wurden in Magdeburg mit 250 000 Einwohnern täglich bis zu 80 Neuinfektionen
mit Syphilis registriert [1 ]. In anderen Regionen Deutschlands war die Situation ähnlich. Der Gipfelpunkt der
nach dem 2. Weltkrieg beängstigend gestiegenen Zahl von Geschlechtskrankheiten wurde
im Herbst 1946 erreicht [2 ]. Ursache hierfür waren die katastrophalen Lebensverhältnisse nach dem 2. Weltkrieg,
Chaos, Flüchtlingselend und Verfall von Moral und Sitten. Den Folgen von Promiskuität
und Prostitution war ein desolates Gesundheitswesen mit insuffizienten präventiven
und sozialmedizinischen Maßnahmen nicht gewachsen. In der Sowjetischen Besatzungszone
(SBZ, Ostzone) machte sich zusätzlich schon 1945 der Mangel an antisyphilitisch wirksamen
Medikamenten bemerkbar [2 ]. Das betraf speziell das Neo-Salvarsan. Dieses Medikament wurde in den Farbwerken
Hoechst in Frankfurt/M. hergestellt und nicht mehr in die SBZ geliefert. Ob dies auf
einer Entscheidung des Herstellers beruhte oder auf dem insgesamt erschwerten Warenverkehr
zwischen den westlichen Besatzungszonen und der SBZ, lässt sich nicht mehr eindeutig
klären. Finanzielle Gründe für die Unterbrechung der Belieferung mit Neo-Salvarsan
scheinen bis zur Währungsreform 1948 eher zweitrangig gewesen zu sein. Da Neo-Salvarsan
aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen und anderen Quellen bald aufgebraucht war, führte
dieser Mangel schnell zur Herausbildung eines Schwarzmarktes und damit zur künstlichen
Verknappung dieses Medikamentes in den Apotheken der SBZ. Das hatte zur Folge, dass
Syphiliskranke in der SBZ kaum noch Neo-Salvarsan auf Kassenrezept erhielten [2 ].
Administrative Maßnahmen allein konnten in der SBZ das Problem der unzureichenden
Neo-Salvarsan-Versorgung nicht lösen [2 ]. Aus dieser dramatischen Situation ergab sich eher zufällig ein Ausweg. Im Sommer
1945 hatte sich der damals 63-jährige Chemiker Prof. Dr. phil. Ernst Schmitz ([Abb. 1 ]) im VEB Fahlberg-List in Magdeburg um eine Anstellung beworben. Schmitz war von
1921 bis 1945 Direktor des Instituts für Physiologische Chemie der Universität Breslau
gewesen. Durch die Angliederung der damals deutschen Ostgebiete an Polen nach dem
2. Weltkrieg hatte er seinen Lehrstuhl verloren und Breslau verlassen müssen. In seinem
Bewerbungsschreiben an die Firma Fahlberg-List hatte Prof. Schmitz erwähnt, dass er
von 1906 bis 1909 am Institut von Prof. Paul Ehrlich in Frankfurt/M. Arsenverbindungen
synthetisiert hatte, die von Paul Ehrlich und seinem Mitarbeiter Sahachiro Hata auf
ihre antisyphilitische Wirkung untersucht wurden. Im Ergebnis dieser Untersuchungen
entwickelte Ehrlich das Antisyphilitikum Neo-Salvarsan [3 ]
[4 ]
[5 ]
[6 ]. Der in der Landesregierung von Sachsen-Anhalt im Jahre 1945 für die Pharmaindustrie
zuständige Referent Unger erkannte die sich durch Schmitz’ Bewerbung bietende Chance,
die Neo-Salvarsan-Herstellung in der SBZ in Gang zu bringen. Nach einem Vorstellungsgespräch
von Prof. Schmitz bei Unger hatte sich dieser Eindruck noch gefestigt. Schmitz hörte
im Hinausgehen, wie Unger zu seiner Sekretärin sagte: „Es ist ein Glücksfall für die
Ostzone …” [5 ]. Am 15. 10. 1945 trat Ernst Schmitz seinen Dienst im VEB Fahlberg-List Magdeburg,
Chemische und Pharmazeutische Fabriken, als Wissenschaftler und Betriebsleiter der
eigens für die Salvarsan-Herstellung gegründeten Abteilung an [7 ]
[8 ]. Der Dermatologe Prof. Karl Linser, in der SBZ Präsident der Deutschen Zentralverwaltung
für das Gesundheitswesen, was der Funktion des Gesundheitsministers entsprach, stellte
verbittert fest: „Es ist ein Wahnsinn, dass wir hier mühsam einen Produktionsbetrieb
aufbauen, während im Westen genug Salvarsan für ganz Deutschland vorhanden ist.” [2 ].
Abb. 1 Prof. Dr. phil. Ernst Schmitz im Alter von 74 Jahren (Aufn.: Prof. Dr. E. Schmitz
jr.)
Der Forschungsauftrag an Prof. Schmitz lautete, Neo-Salvarsan zu synthetisieren und
damit die Voraussetzung für eine industriemäßige Herstellung dieses Präparates zu
schaffen, deren Kapazität den Bedarf der Ostzone decken sollte [1 ]
[7 ]
[8 ]. Hierfür standen ihm 25 Mitarbeiter zur Seite [5 ]. Die objektiven materiellen Voraussetzungen für ein Gelingen des Projektes waren
denkbar schlecht [1 ]
[7 ]. Chemikalien und Apparaturen waren kaum vorhanden und öffentliche Bibliotheken nicht
arbeitsfähig [1 ]. Schmitz verfügte durch seine frühere Tätigkeit bei Paul Ehrlich nicht nur über
die Kenntnis der Strukturformel des Neo-Salvarsans, sondern auch über technologische
Details des Herstellungsverfahrens [1 ]
[5 ]. Ehrlich hatte in den Jahren von 1906 bis 1909, also kurz nach der Entdeckung der
Spirochaeta pallida durch Fritz Schaudinn und Erich Hoffmann im Jahre 1905 festgestellt,
dass die 5-wertige Arsenverbindung Atoxyl (später Arsanilsäure) und viele ihrer Derivate
eine spirochätozide Wirkung besaßen [1 ]. Diese war gegenüber der direkten Wirkung auf Spirochäten effektiver, wenn die 5-wertige
As-Verbindung im Körper des Probanden zu 3-wertigem Arsen umgewandelt wurde. Daher
ging Ehrlich dazu über, von vornherein Derivate des 3-wertigen Arsens einzusetzen.
Das waren zunächst die Arsenoxyde, z. B. C6 H5 AsO, später die sog. Arseno-Verbindungen, in denen zwei Arsenatome durch Doppelbindung
verbunden sind. Unter deren vielen Abkömmlingen erwies sich 4’4-Dioxy-3’3 Diaminoarsenobenzol
als besonders wirksam gegen Spirochaeta pallida. Ehrlich nannte die Verbindung Salvarsan
[1 ]. Seine Strukturformel lautet ([Abb. 2 ]) [9 ]:
Abb. 2 Strukturformel von Salvarsan.
Die Anwendung des Salvarsans am Patienten war durch die in ihm enthaltene Salzsäure
stark eingeschränkt, die schwere lokale Entzündungen hervorrief und den Arzt zwang,
die Lösung in einem umständlichen Verfahren vor der Injektion zu neutralisieren [1 ]. Ehrlich führte zur besseren Verträglichkeit des Salvarsans in eine der beiden Aminogruppen
den Rest Formaldehydsulfoxydsäure ein, die die Bildung eines neutral reagierenden
Natriumsalzes ermöglicht, das gut wasserlöslich ist [1 ]
[9 ]. Die so entstandene Verbindung nannte Ehrlich Neo-Salvarsan, seine Strukturformel
lautet ([Abb. 3 ]) [9 ]:
Abb. 3 Strukturformel von Neo-Salvarsan.
Schmitz hat etwa die Hälfte der 606 As-Verbindung, die Ehrlich auf ihre antisyphilitische
Wirkung untersuchte, hergestellt. U. a. stammte auch das schon recht wirksame Arsenophenylglyzin
von ihm, das dann aber noch von der Verbindung 606 übertroffen wurde [5 ]. Obwohl der Patentschutz für das Neo-Salvarsan von Paul Ehrlich 1945 bereits erloschen
war, wählte Ernst Schmitz sicherheitshalber ein Syntheseverfahren in 5 Schritten,
das von Ehrlichs Patentbeschreibung abwich. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass ein
Patent nicht das chemische Fertigprodukt schützt, sondern dessen Syntheseverfahren.
Schließlich hätte Schmitz auch davon ausgehen können, dass im Chaos der deutschen
Trümmerlandschaft 1945 wohl niemand auf Patentvorschriften zu genau achten würde [5 ].
Neo-Salvarsan galt 1945 als das schwierigste chemische Industrie-Präparat [1 ]. Seine Bildung vollzieht sich in einer Reihe von Einzelvorgängen. Die letzten Schritte
der Herstellung müssen unter Luftabschluß vollzogen werden, da Neo-Salvarsan im aromatischen
Ring Amino- und Hydroxylgruppen, die sich auch in fotografischen Entwicklern finden,
enthält. In seinem mit Pflaster und Klebestreifen abgedichteten Laborraum erzeugte
Schmitz 1945 daher eine Stickstoff-Atmosphäre durch Einleitung von 12 Flaschen reinen
Stickstoffs. Er und seine Mitarbeiter trugen Gasmasken. Abschließend wurde Arsaminol
filtriert, getrocknet, portioniert und ampulliert. Eine weitere Besonderheit des Verfahrens
von Prof. Schmitz war das Ausgangsmaterial für die Synthese von Arsaminol. Er setzte
in Ermangelung der für die Neo-Salvarsan-Herstellung üblichen Ausgangsstoffe den als
Rodinal bekannten fotografischen Entwickler p-Aminophenol (NH2 C6 H4 OH) ein, der zufällig in großer Menge vorhanden war und nicht anderweitig beansprucht
wurde [1 ]
[5 ]. Aus Rodinal wurde von Schmitz das Natriumsalz der 3’3-Diamino-4’4-dioxyarsenobenzolmethylensulfoxylsäure
hergestellt. Das Produkt erhielt den Namen Arsaminol, später Neo-Arsoluin, da der
Name Neo-Salvarsan gesetzlich geschützt war. Bereits am 15. 7. 1946 waren die ersten
5 kg des Präparates fertig gestellt. Nach pharmakologischer Prüfung durch Prof. Holtz,
Direktor des Pharmakologischen Instituts der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,
konnte Arsaminol (Neo-Arsoluin) in der Behandlung von Syphiliskranken in der SBZ eingesetzt
werden. Jährlich konnten 5 Millionen Ampullen im VEB Fahlberg-List hergestellt werden.
Gartmann, der schon frühzeitig an der Universitäts-Hautklinik Leipzig Erfahrungen
mit Neo-Arsoluin bei Syphilispatienten sammelte, nennt rückblickend die Entwicklung
von Neo-Arsoluin durch Schmitz und seine rasche Herstellung bei Fahlberg-List in Magdeburg
„eine wirkliche Heldentat, die zur raschen Eindämmung der zahllosen Syphilisinfektionen
in der SBZ führte. Auch Linser hat darauf immer wieder hingewiesen.” [6 ]. In zwei Publikationen berichtete Gartmann 1950 und 1951 über sehr gute Therapieergebnisse
mit Neo-Arsoluin bei zunächst 83 Syphilispatienten der Stadien I bis III sowie Lues
connata und später an 223 Syphilispatienten der Stadien I bis III mit Neurolues in
Verbindung mit Wismut-Kuren. Die Verträglichkeit war gut, lediglich flüchtige Jarisch-Herxheimer-Reaktionen
traten wie etwa bei Neo-Salvarsan-Therapie in seltenen Fällen auf, so dass Neo-Arsoluin
dem Neo-Salvarsan als ebenbürtig anzusehen war [10 ]
[11 ]. Linser schreibt 1948 in einem ausführlichen Artikel über die Entwicklung der Dermato-Venerologie
in der Ostzone: „Ferner gelang es einem unserer Chemiker, das, was Kenner kaum für
möglich gehalten u. anfangs belächelt hatten. Er konnte ein hochwertiges Salvarsanpräparat
herstellen, das tierexperimenteller und klinischer Erprobung standhielt” [2 ]. Bereits 1948 hatte sich auch durch den Einsatz des Neo-Arsoluins die Situation
auf dem Gebiet der Syphilis deutlich entspannt. Die Zahl der Syphilisinfektionen hatte
sich durch spezifische Therapie und medizinische Kontrollmaßnahmen halbiert. Die Zahl
der Betten für Geschlechtskranke in der SBZ sank um 75 % von 28 700 (1946) auf 7300
(1948). Eine Zeitlang wurden monatlich 140 kg Neo-Arsoluin verbraucht [2 ].
Ernst Schmitz wurde bereits 1949 für die Synthese des Neo-Arsoluins und dessen Überführung
in die industrielle Herstellung mit dem Nationalpreis II. Klasse der DDR geehrt. Für
die damit verbundene Zahlung von 50 000 Mark konnte er sich in Magdeburg ein Haus
bauen lassen und seiner siebenköpfigen Familie wieder ein Zuhause schaffen. Von seinen
fünf Kindern wurde ein Sohn später Professor für Dermatologie in Tübingen, ein anderer
Professor für Chemie an der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Adlershof,
ein dritter wurde Maler. Von den beiden Töchtern ist eine Kinderärztin, die andere
MTA geworden. Prof. Ernst Schmitz war ein exzellenter Pianist und besaß das absolute
Gehör. Er liebte die bildende Kunst und fand viel Entspannung als Hobbygärtner. Bis
ins hohe Alter verfügte er über ein phänomenales Gedächtnis, so dass er kein Adressbuch
benötigte [5 ]. Am 30. 6. 1954 schied er aus Altersgründen aus dem VEB Fahlberg-List aus [7 ]. Am 8. 2. 1960 ist Prof. Dr. Ernst Schmitz im Alter von 78 Jahren in Magdeburg verstorben
[3 ]
[5 ].
Mit unserem Beitrag möchten wir das Andenken dieses verdienstvollen Mannes und seine
außergewöhnlichen Leistungen in einer schweren Zeit vor dem Vergessen bewahren.
Danksagung
Die Autoren danken den Herren Prof. Dr. H. Gartmann (Köln), Prof. Dr. E. Schmitz jr.
(Berlin), Dr. A. Jumar (Magdeburg) und Ing. H. Rasenberger (Magdeburg) für ihre freundliche
Unterstützung durch wesentliche Anregungen und Hinweise beim Zustandekommen der vorliegenden
Publikation.