Pro
„Ich glaube, dass es ganz wichtige Gesichtspunkte sind, die von jedem Sozialpsychiater
zu bedenken sind, dass er weiß, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen er arbeitet
und die Tatsachen zu erkennen lernt, die Sozialpsychiatrie in den letzten Jahren möglich
gemacht hat …, um einkalkulieren zu können, dass bei einer Veränderung der ökonomischen
Lage diese sozialpsychiatrischen Ansätze als ein modischer Firlefanz abgetan werden
können und es einen Rückzug der Psychiatrie auf alte Positionen und alte Organisationsmodelle
geben kann” (1971).
Der Reformbegriff wird zunehmend zur Verschleierung des Sozialabbaus missbraucht.
Es scheint deshalb sinnvoll, die Psychiatriereform auf ihre Substanz zu überprüfen.
Dabei definiere ich Reform als politischen Transformationsprozess der Anpassung gesellschaftlicher Verhältnisse
(hier der psychiatrischen Versorgung) im Interesse einer demokratischen Mehrheit zur
nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen unter besonderer Berücksichtigung
von Minderheiten und Schwachen (hier der Schwer- und chronisch psychisch Kranken).
Davon unterscheide ich die Modernisierung. Diese findet ebenfalls als Anpassung an sich verändernde Verhältnisse statt, hier
aber vorrangig „nach dem neuesten Stand der Wissenschaft”. Begriffe wie „Markt”, „Effektivität”,
„Konkurrenz” und „Individualisierung der Lebensgestaltung” lassen dabei die grundsätzlich
ideologische Ausrichtung an den Maßstäben einer neoliberal-kapitalistischen Gesellschaft
erkennen. Während „Staat” und „Solidarität” als verstaubt und überholt gelten, wird
„privat” und „Profit” zwar nicht unbedingt als gerecht, sicher aber als modern assoziiert.
Ausgehend von der Bestandsaufnahme „teilweise elender, menschenunwürdiger Verhältnisse”
(Zwischenbericht der Enquete 1973) sollte die Psychiatrie am Ende der notwendigen
Reform bedarfsgerecht, gemeindeorientiert und seelisch Kranke endlich mit körperlich
Kranken gleichgestellt sein. Die Expertenkommission hatte 1988 zu ihrer Umsetzung
konkretere Schritte empfohlen.
Die kritische Bilanz ist ernüchternd. Unzulängliche gesetzliche Präzisierungen und
fehlende Durchsetzungsinstrumente führen aufgrund mangelnder Verbindlichkeit zu unterschiedlichen
Standards und Versorgungsniveaus in den Regionen (z. B. Zwangseinweisungsraten, Rehabilitationsmöglichkeiten,
Hilfebedarfskriterien). Das Regionalisierungskonzept als Prinzip kollektiver Verantwortung
bleibt vom guten Willen der Beteiligten abhängig, schlimmstenfalls bildet es den Rahmen
für einen Kampf um „Kunden”, um das Überleben der Einrichtung „am Markt”. Fachliche
Standards werden im Gesetzgebungsverfahren soweit verzerrt, bis sie schließlich als
„Leistungsverhinderungsgesetze” (z. B. Soziotherapie, Ambulante Psychiatrische Pflege)
in Kraft treten.
Der Bettenabbau in den psychiatrischen Anstalten verschleiert die Tatsache, dass in
der Regel neben der Schaffung neuer Betten in psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
der Ausbau privater Heimplätze insgesamt zu einem Anstieg psychiatrischer Betten in
der Region und somit zu einer Verstärkung der stationären Versorgung führt (von wegen:
„ambulant vor stationär”!). Mit der Privatisierung von Landeskrankenhäusern ist die
Hoffnung auf weitere Bettenreduzierung endgültig tot: wer wird schon die Kuh schlachten,
die man gekauft hat, um sie zu melken?
Bei dieser Rechnung bleibt die ungeheuerliche Verdopplung forensischer Betten innerhalb
der letzten 10 Jahre noch unberücksichtigt.
„Personenzentrierung”, ursprünglich entstanden in Abgrenzung zur „Institutionszentrierung”,
pervertiert in der Praxis viel zu oft (z. B. in Lüneburg) zur Legitimierung entwürdigender
Hilfebedarfskontrollen und ihrer restriktiven Umsetzung in Fachleistungsstunden. Unmerklich
verschieben sich unter Rationierung und Kostendruck die Patienten der Psychiatrie
in andere Zuständigkeiten: hier in die Forensik, dort in die Obdachlosigkeit. Für
die weniger Störenden locken die gepflegten Betten von Psychosomatik und Psychotherapie.
Die postmoderne Individualisierung und Entstaatlichung spiegelt sich in der Psychiatrie
in Form von Entsolidarisierung, Deregulierung und Deinstitutionalisierung. Psychiatrie
entwickelt sich unter diesen Bedingungen vom „öffentlichen Gut” zur „warenförmigen
Dienstleistung” (2005).
Auch in der Klinik halten sich die Fortschritte, z. B. bei der Behandlung akuter Psychosen,
in Grenzen. An den Milieus der Aufnahmestationen sind die Erkenntnisse der biopsychosozialen
Forschung vorbeigegangen: zur Reizabschirmung und Entängstigung werden nach wie vor
gleich (un-)wirksame Medikamente missbraucht, um konzeptionelle Ideenlosigkeit, Personalabbau
und Qualifikationsdefizite zu kompensieren. Die Nebenwirkungen sind zwar nicht mehr
so auffällig, dafür aber nicht weniger schwerwiegend. Bei qualitätsgesichertem Personalabbau
zerrinnt uns die PsychPV zwischen den Fingern. Nach außen reden wir von Psychotherapie
und Beziehung und in Wirklichkeit reduziert sich der direkte Patientenkontakt bei
den Ärzten mittlerweile auf weniger als die Hälfte ihrer Arbeitszeit. Immerhin herrschen
in der Psychiatrie keine elenden, menschenunwürdigen Verhältnisse mehr. Auch forensische
Stationen sind heute hell und geschmackvoll eingerichtet, die Hightech-Überwachung
dezent verkleidet - und auch der personellen Kontinuität in der Therapie wird hier
Rechnung getragen …
Nach der Entlassung stauen sich die Patienten vor den psychotherapeutischen Praxen,
während psychiatrische Kassenarztsitze zunehmend verwaisen. Mit den weiter boomenden
(Alten-)Heimen, den privatisierten Krankenhäusern und dem Wegbrechen der psychiatrischen
„Tante-Emma-Praxen” ist die Psychiatrie in der neoliberalen Wirklichkeit angekommen.
Psychiatrisches Handeln wird in nie da gewesener Weise einer allumfassenden Ökonomisierung
unterworfen, Beziehungen in Minutenwerte und Teilleistungseinheiten zerhackt. Die
Abkehr von der staatlich garantierten Funktion sozialer Sicherung in Richtung auf
eine gewinnorientierte, betriebswirtschaftliche Ausrichtung des Sozialen trifft auch
in der Psychiatrie - wen wundert's - vorrangig chronisch Kranke.
Da die Welt uns nicht den Gefallen getan hat, sich trotz unseres entschieden moralischen
Anspruchs in eine gerechtere zu verwandeln, werden wir die bestehende Ungerechtigkeit
wohl als gegeben anerkennen. Psychiatrie wäre künftig als Teil des medizinischen Dienstleistungsbetriebes
zu begreifen, wo sie sich als Ware konkurrierend auf dem expandierenden Gesundheitsmarkt
behaupten muss.
Die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich seit 1971 gewaltig verändert. Ein Zurück,
wie es M. Richartz befürchtete, wird es nicht geben. Allerdings ist etwas anderes
herausgekommen, als von der DGSP und den Reformern ursprünglich geplant war. Bei unbestritten
positiven Veränderungen in Teilbereichen (Abteilungen, Tageskliniken, Betreutes Wohnen
etc.) sehen wir keine Reform, sondern eine konsequente Modernisierung der Psychiatrie.
Kontra
Auf das in einer Rundfunkdiskussion zum Thema Sozialpsychiatrie zwischen H. E. Richter,
E. Wulff, K. Dörner, N. Pörksen und Th. Winkler gesprochene Wort von Mark Richartz,
zu jener Zeit Assistenzarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover, jetzt Emeritus
in Maastricht, will ich zur Verdeutlichung des damaligen Sprachduktus junger und sich
als „links” verstehender angehender Psychiater ebenfalls mit einer Sentenz beginnen,
die im Sonderband 60 der Zeitschrift Das Argument- Kritik der bürgerlichen Medizin - unter dem Titel „Angepasste Psychiatrie als Psychiatrie der Anpassung” (1970) gedruckt
wurde: „Solange das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Verrückten unreflektiert
und seine Kritik ohne praktische Konsequenz für das Verhalten der Therapeuten bleibt,
werden psychiatrische Kliniken Agenturen zur Stabilisierung und Konkretisierung eben
dieser Verhältnisse bleiben”.
So haben Mark Richartz und Manfred Bauer (1972) damals theoretisiert, weil es im Elfenbeinturm
einer Universitätsklinik zu wenig Praktisches zu tun gab. Erst ein mehrmonatiger Aufenthalt
am Maudsley Hospital bei Douglas Bennett und John Wing gab entscheidende neue Impulse
in Sachen Psychiatrie. Nicht zuletzt dazu, sich so auszudrücken, dass auch andere
es verstehen konnten. Seitdem bin ich davon überzeugt, dass der Psychiatrie als medizinischem
Fach mit dem gesellschaftlichen Auftrag, psychische Krankheiten zu erkennen, wenn
möglich, sie zu heilen, zu bessern oder wenigstens das damit verbundene Leid zu mildern,
nicht mit großartigen, gesellschaftskritischen Konzepten gedient ist, sondern mit
kleinen Hilfen für die Patienten und ihre Angehörigen und kleinen professionellen
Schritten in die richtige Richtung, wobei man über die Richtung durchaus streiten
kann und sollte.
Soll man die Psychiatrie z. B. als konstitutiven Teil der allgemeinen Medizin begreifen
und sie dann konsequenterweise an Allgemeinkrankenhäusern als ein Fach unter anderen
betreiben? Das hätte 1973 geheißen sofort mit dem Abriss der Anstalten und dem Neubau
derartiger Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern zu beginnen; oder soll man erst
mit viel Geld die im Zwischenbericht (1973) der Psychiatrie-Enquete-Kommission angeprangerten
„menschenunwürdigen Verhältnisse” in den psychiatrischen Sonderkrankenhäusern beseitigen,
sie also modernisieren mit der Konsequenz, sie damit auch für die nächste und übernächste Generation zu
erhalten?
Bekanntlich ist diese Richtungsfrage bis heute nicht beantwortet, mit der Folge, dass
bislang nur eine einzige Psychiatrische Anstalt definitiv geschlossen wurde (PKH Merzig/Saarland),
während sich alle anderen Fachkrankenhäuser verkleinert und durchsaniert haben. In
diesem Punkt hat Stierl recht: was die psychiatrischen Fachkrankenhäuser angeht, ist
die Psychiatriereform auf halbem Wege stecken geblieben, wie vor einiger Zeit das
Deutsche Ärzteblatt titelte und sich dabei auch auf einige unserer Nachbarländer bezog.
Polemisch zugespitzt könnte man sagen, die „Modernisierer” blieben in den Anstalten
unter sich, die „Reformer” gingen in die Gemeinde. 170 Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
legen davon inzwischen Zeugnis ab, während es im Jahr 1971 gerade eben mal 21 waren,
alle ohne Versorgungsverpflichtung und die meisten neuropsychiatrisch ausgerichtet,
wie es damals Usus war. Heutzutage tragen sie zu mehr als 50 % zur stationären Versorgung
bei und leisten allein durch ihre Existenz mehr Antistigmaarbeit als alle in den letzten
25 Jahren zu diesem Thema durchgeführten wissenschaftlichen Tagungen. Von der eigentlichen
gemeindepsychiatrischen Arbeit im Verbund und vor Ort ganz abgesehen.
Dass die Psychiatrie - wenn auch nicht überall - inzwischen in der Gemeinde angekommen
ist, nenne ich Reform. Sie ist in den Regionen am besten gelungen und am weitesten
fortgeschritten, in denen die psychiatrischen Betten in einem Allgemeinkrankenhaus
mit regionaler Pflichtversorgung stehen und die außerstationären Einrichtungen und
Dienste so eng wie möglich miteinander und mit der Psychiatrischen Abteilung selbst
verflochten sind, am besten nicht nur institutionell, sondern auch personell. Da und
dort ist dieses Kunststück gelungen eher in kleinen und mittleren Städten. Auf dem
flachen Land und in großstädtischem Milieu ist die Lage naturgemäß schwieriger.
Es haben sich aber nicht nur Strukturen der psychiatrischen Versorgung verändert, sondern, was viel wichtiger ist, im Laufe
der letzten 25 oder 30 Jahren ist es auch - langsam, aber stetig - zu einem tief greifenden
Mentalitätswandel des gesamten therapeutischen Personals gekommen. Man könnte dem
die Überschrift geben: vom patriarchalischem Überwachungs- und Disziplinierungssystem
zu einer therapeutischen Partnerschaft. Hierzu hat vieles und haben viele beigetragen,
letztlich auch die pharmazeutische Industrie durch die Entdeckung und Weiterentwicklung
der Psychopharmaka. Hinzu kamen neue und im psychiatrischen Alltag praktikable Psychotherapieverfahren,
die es erlaubten kustodiale Positionen zu verlassen und therapeutische einzunehmen.
Wer wie meine Generation der heute knapp 70-Jährigen in den 60er-Jahren anfing, sich
für die Psychiatrie als Fach zu interessieren, fand eine trostlosen Landschaft vor,
in der nicht nur „teilweise”, sondern durchgängig „elende und menschenunwürdige Verhältnisse”
herrschten. Gewalt unter den Patienten war an der Tages- und Tischordnung, insbesondere
dann, wenn das Mittagessen in hässlichen Kübeln auf die Station gebracht wurde und
sich die körperlich Stärksten gegen die Schwächeren mit Brachialgewalt durchsetzten.
Gelegentlich trauten sich die kräftigsten Pfleger nur gemeinsam und mit einer vor
sich hergetragenen Matratze in den Speiseraum, um dort den Streit zu schlichten. Aber
auch disziplinarische und willkürliche Gewalt des Pflegepersonals gegen die Patienten
gehörte zum Stationsalltag, insbesondere dann, wenn die Ärzte sich nach der Visite
in ihre außerhalb der Station gelegene Zimmer zurückzogen, um erst am folgenden Tag
wieder zu erscheinen. Man lese nur das Buch von Frank Fischer (1969) oder die Studie
von Hemprich und Kisker „Die Herren der Klinik” (1968), die als verdeckte teilnehmende
Beobachtung in der Heidelberger Universitätsklinik durchgeführt wurde, und vergleiche
die damaligen mit den heutigen Verhältnissen. Nein, das ist keine „Modernisierung nach dem neuesten Stand der Wissenschaft”, wie uns Stierl weismachen will, sondern ein grundlegender Gesinnungswandel und eine
Haltungsänderung bei dem heute amtierenden Personal.
Den Kolleginnen und Kollegen mit der „Gnade der späten Geburt” ist nicht vorzuwerfen,
dass sie sich leicht vertun bei der Bewertung der jetzigen Verhältnisse, haben sie
doch glücklicherweise bei ihrem Eintritt in den Beruf nichts anderes kennen gelernt
als das, was die vorige Generation ihnen hinterlassen hat. Da ist keineswegs alles
gut, und Stierl hat zu Recht den Finger in manche Wunden gelegt. Aber Vieles ist so
schlecht nicht, wie er es darstellt. Gleichwohl lohnt es sich immer, dafür zu kämpfen,
dass die (psychiatrische) Welt noch besser wird. Erfahrungsgemäß fängt man damit am
besten hinter und vor der eigenen Haustür gleichzeitig an.
PS:
Aber natürlich hat Mark Richartz recht.