Auf dem 88. Deutschen Röntgenkongress im Mai 2007 präsentiert die Thieme Verlagsgruppe
gemeinsam mit Kongresspräsident Professor Mödder ein eigens dafür konzipiertes Kunstprojekt:
Der Künstler Thomas Locher hat für die Tagung in Berlin zwei großformatige Text-Bild-Arbeiten
zum Thema "Kunst und Medizin" gestaltet. Im Interview erzählt der Konzeptkünstler
über seine Art zu Arbeiten und darüber, was ihn an dem Thema anspricht.
Thomas Locher, Berlin
"Kunst ist auf einen Vermittlungsprozess aus"
Sie haben einmal gesagt, "die Verborgenheit des Knochens habe etwas Unheimliches".
Röntgenbilder bringen dieses Innerste des Körpers zu Tage. Schreckt Sie das ab?
Die Wahrnehmung setzt hier sehr individuelle Grenzen: In vielen Dingen bleiben wir
lieber an der Oberfläche. Das Innere eines Körpers zeigt sich ja oft nur in erschreckenden
Situationen wie Unfällen oder bei Verletzungen. Gleichzeitig ist das Beeindruckende
am Röntgen: Man beschäftigt sich mit Dingen, die eigentlich unsichtbar sind und dennoch
im Verborgenen fortschreiten - wie zum Beispiel ein Tumor.
Was reizt Sie an dem Projekt für den 88. Radiologenkongress?
Tatsächlich fasziniert mich diese forcierte Form der Visualisierung - etwas um jeden
Preis sichtbar machen zu wollen. Die Diagnose in der Medizin hat sich sehr stark verbildlicht
- anscheinend weil dies eine der intensivsten Formen der Vermittlung ist. Dennoch
bleibt der Text dahinter unverzichtbar. Zudem begeistern mich Menschen, die genau
wissen, was sie tun. Dazu gehört für mich auch Röntgen: Er hat ganz bewusst der Entwicklung
dieser Technik freien Lauf gelassen, anstatt sie in erster Linie ökonomisch zu verwerten.
Könnte man sagen: Als Konzeptkünstler machen Sie Strukturen hinter Systemen sichtbar,
das gleiche tut ein Röntgenbild!?
In gewisser Weise schon - Strukturen interessieren mich: Wie hängen Dinge zusammen,
wie funktionieren Gesellschaften, woran liegt es, dass sie sind, wie sie sind? Für
die Medizin ist relativ klar umrissen: Diagnose, Bewahrung und Heilung. In der Kunst
spielen dagegen ästhetische Anschaulichkeit und Erfahrung - von Künstler und Betrachter
- eine große Rolle.
Worum geht es Ihnen bei dem Kunstprojekt für den Radiologenkongress?
Die Arbeiten werden auch hier aus textlichen und rein visuellen Komponenten bestehen.
Ich knüpfe darin nicht nur an die technische Seite der Röntgenbilder an, sondern vor
allem an die Person des Diagnostikers. Denn er ist derjenige, der erkennt, beurteilt,
interpretiert und daraus einen Schluss zieht.
Welche Reaktionen erwarten Sie?
Skandalisieren ist nicht meine Strategie. Meine Absicht ist, eine Wirkung zu erzielen.
Diese Wirkung kann ganz vielfältiger Art sein - Kunst ist eine mediale Sache, die
auf einen Vermittlungsprozess aus ist. Meine Arbeiten sollen aber nicht etwa Handlungsanweisungen
geben, sondern Offenheit erzeugen, Anstöße geben.
Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Arbeit, wie kommen Sie zu Themen?
Die Ideen entwickeln sich, kommen von überall her. Es gibt verschiedene Quellen, aus
denen ich mich speise: Theorie, Literatur, Alltagsästhetiken oder allgemeine politische
Fragen. Aber auch die Kunst und ihre Geschichte ist eine Inspirationsquelle.
Und wie gehen Sie technisch vor?
Ich entwerfe fast alles am Rechner. Dabei binde ich Textpassagen, Fotos oder Abbildungen
ein. Designprogramme unterstützen mich bei der Bearbeitung. Anschließend nutze ich
aber immer wieder verschiedene Formen der Ausführung. Die Drucke - etwa auf große
Glasflächen - übernehmen Firmen, mit denen ich seit langen Jahren eng zusammenarbeite.
Welche Rolle spielt für Sie Thieme in Bezug auf Ihre Arbeit und zur Kunst?
Der Kontakt zur Verlegerfamilie besteht seit mehr als 20 Jahren. Dieses bleibende
Interesse an Kunst, das sich seit Jahrzehnten über den Verlag quasi ergießt, ist schon
etwas Besonderes.
Knüpfen Sie an die Arbeit für Ihr letztes gemeinsames Projekt mit der Thieme Verlagsgruppe,
die NETTER ARTCOLLECTION, an?
Nein, die Arbeiten zum Röntgenkongress stehen völlig unabhängig davon. Bei der Netter
Art Collection war es für mich der Hegel'sche Satz: "Der Geist ist ein Knochen", an
dem sich meine Arbeit zum Netter-Atlas Bewegungsapparat orientierte.
Ist es ein Widerspruch für einen Künstler, der sich mit eher abstrakten Dingen befasst,
sich mit etwas so organischem wie dem menschlichen Körper zu beschäftigen?
Auch bei diesem Projekt werde ich ganz bei mir bleiben. Dennoch bieten die dadurch
auf mich zu kommenden Themen die Gelegenheit, scheinbar fremde Inhalte aufzugreifen
und Erkenntnis zu gewinnen. Wirklich fremd ist die Thematik allerdings insofern nicht,
als ich mich schon immer mit gesellschaftlichen Problemen auseinandergesetzt habe
- wozu ja auch Krankheit gehört.
Vielen Dank für dieses Gespräch