Osteopathische Lehrbücher vermitteln regelmäßig den Eindruck, dass der therapeutische
Prozess eine Einbahnstraße sei: Osteopathen tun etwas - und sei es, dass sie ganz
leer werden, nur noch wahrnehmen und die Gesundheit ihrer Patienten reagiert darauf,
indem sie stärker wird, wieder die Oberhand über die Krankheit gewinnt, Heilung ermöglicht.
Auf der anderen Seite lehrt einen die tägliche Erfahrung ganz schnell etwas anderes:
jeder hat seine „Sauger”, Patienten, die die eigene Energie abziehen. Torsten Liem
schreibt in seinem neuen Buch „Morphodynamik in der Osteopathie” im Kapitel „Palpation
- die Kunst des Fühlens”: „Eine liebevolle, zuhörende Berührung vermittelt ein Gefühl
des Angenommenseins, der Liebe...” Das ist völlig richtig, aber manche Patienten danken
einem diese Zuwendung damit, dass man sich nachher energetisch nackt fühlt. Nach anderen
Behandlungen fühlt man sich stark und gut. Ist das die Freude über eine gute Reaktion
auf das eigene Bemühen, hat man vom Patienten etwas geschenkt bekommen oder hat man
sich ungefragt bedient? Wer gibt und wer nimmt? Inwieweit lassen wir es zu, wenn wir
„beraubt” werden? Können Patienten unseren therapeutischen oder sogar diagnostischen
Vorgang beeinflussen durch ihre eigene Einstellung dazu?
Jean Pierre Barral löst dieses Problem ganz einfach. Er sieht sich als reinen Mechaniker.
Zwischen Therapeut und Behandelten finde kein Austausch statt. Er fasse seine Patienten
an wie radioaktives Material, durch eine abschirmende Bleiglasscheibe, Energien flössen
nicht weiter als bis zu den Ellenbogen. Das andere Extrem bot Robert Fulford, der
über das eigene Herz behandelte - beide Hände als sich gegenseitig wahrnehmende Einheit
im Kontakt mit der Ganzheit des Patienten und, zur Vervollständigung eines Dreibewusstseins,
das eigene Herz als kraftvolle, diagnostische und therapeutische Einheit (nach Zachary
Comeaux im Stillpoint Journal, 1/2001). Damit aber noch nicht genug: Er verband sich
dann mit der höheren, übergeordneten Kraft zu einer großartigen Einheit. Aus einer
Zweier- wurde eine Dreierbeziehung. Auch Viola Fryman verbindet sich mit einer Quelle
ewiger Kraft und tankt so auf, während sie behandelt (s. DO Life, DO 3/2003).
Energien fließen also offensichtlich hin und her, vereinigen sich, verstärken, behindern
oder potenzieren sich und wir haben keine adäquaten Worte um darüber zu reden, sind
offensichtlich weitgehend sprachlos. Wir hier stehen noch immer am Anfang einer Entwicklung.
Keiner hat unseren Sprachschatz angeleitet. Die Ausrede, dass man dieses Phänomen
nicht messen kann, zählt nicht. Auch Kunst kann man nicht messen, aber man kann trotzdem
auf verschiedenen Ebenen über sie reden.
Sprechen wir also über das Thema der Energie zwischen Menschen! Ein erster Schritt
wäre es, einmal systematisch Aussagen von erfahrenen Therapeuten in der über 130-jährigen
Geschichte der Osteopathie zu sammeln. Helfen uns andere Wissenschaften weiter? Philosophen?
Die Traditionelle Chinesische Medizin? Vielleicht verhilft uns ein tieferes Verständnis
des Fließens von Energien zu einer höheren therapeutischen Effizienz und zu einer
tieferen Vorstellung von Ganzheitlichkeit.
Die Herausgeber
PS: Ende November 2006 ist Mitherausgeber Roger Seider zum Präsidenten der Deutschen
Akademie für Osteopathische Medizin, DAOM, gewählt worden. Das DO-Team gratuliert
herzlich!