Eine qualifizierte reisemedizinische Tätigkeit setzt ein breites, dem interdisziplinären
Charakter der Reisemedizin entsprechendes Wissen voraus, das in curricular aufgebauten
Kursen, Seminaren und anderen speziellen Veranstaltungen erlernt werden kann. Eine
authentische reisemedizinische Betreuung baut aber darüber hinaus auf praktischen
Erfahrungen auf, die durch eigene Reisetätigkeit, teilweise auch durch längere Arbeitseinsätze
im Ausland gesammelt werden können. Engagement und Qualität einer reisemedizinischen
Betreuung nehmen entscheidend zu, wenn auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen werden
kann.
Vor diesem Hintergrund haben wir das Konzept für eine reisemedizinische Exkursion
entwickelt, in der Wissensvermittlung, Reiseerfahrung und reisemedizinische Erfahrung
integriert vermittelt werden. Zielgruppe sind insbesondere die Kollegen, die schwerpunktmäßig
reisemedizinisch tätig sind oder werden wollen und die sich berufsbegleitend umfassend
reisemedizinisch fortbilden möchten. Die bisherigen Exkursionen zeigten, dass durch
das vielseitige Spektrum der reisemedizinischen Inhalte auch erfahrene Reisemediziner
großen Nutzen aus den Exkursionen ziehen konnten.
Für Exkursionen geeignete Länder
Für Exkursionen geeignete Länder
Ziele der Exkursionen sollen Länder mit besonderer klimatischer oder gesundheitlicher
Belastung in unterschiedlichen geografischen Lagen sein, die touristisch und reisemedizinisch
möglichst vielseitig sind. Wir haben als konzeptionell geeignete Zielländer Indien
und Ecuador ausgewählt. Indien zählt zu den klassischen, häufig kulturell und zunehmend
auch geschäftlich begründeten Reisezielen mit hohem gesundheitlichen Gefährdungspotenzial.
Ecuador ist aufgrund seiner geomedizinischen Lage besonders gut geeignet, da hier
auf engem Raum eine Vielzahl reisemedizinischer Problemfelder berührt und didaktisch
aufbereitet werden können.
Das Konzept reisemedizinischer Exkursionen
Das Konzept reisemedizinischer Exkursionen
Im Folgenden soll das Konzept am Beispiel einer Exkursion nach Ecuador verdeutlicht
werden. Tragende Elemente sind
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das Kennenlernen der für Reisende relevanten medizinischen Versorgungsebenen
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das eigene Erleben aus medizinischer Sicht risikobehafteter touristisch typischer
Aktivitäten
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die theoretische Aufarbeitung und Wissensvermittlung bezogen auf die aktuellen Exkursionserfahrungen.
Grundlage für die Wissensvermittlung sind die Inhalte des Curriculums der Bundesärztekammer
zur "Reisemedizinischen Gesundheitsberatung" und darüber hinaus die Inhalte mehrerer
Module des Curriculums zum "Fachzertifikat Reisemedizin (DFR)".
Inhalt sind alle Themen, die für unsere touristisch oder beruflich reisenden Patienten
medizinisch relevant werden könnten. Dies bezieht sich zum einen auf die langfristig
geplanten und ausgearbeiteten Programmpunkte, die sich an den bereits erwähnten Inhalten
der Curricula orientieren. Aufgegriffen werden zum anderen aber auch aktuelle Begebenheiten
unterwegs, die natürlich den besonderen Reiz einer solchen Unternehmung ausmachen
und deren didaktische Aufbereitung ein besonderes Geschick und Fingerspitzengefühl
der Reiseleitung erfordern (s. Kasten).
Vorwiegend bei der einheimischen Bevölkerung vorkommende Erkrankungen und gesundheitliche
Gefahren sind nicht unser Hauptinteresse. Dies bleibt beispielsweise tropenmedizinischen
Exkursionen vorbehalten. Um die breite Palette der beratungsrelevanten Reisestile
unserer Reisenden abzubilden, werden gezielt unterschiedliche Unterkunftsebenen (Luxus-
bis Rucksackniveau) und unterschiedlichste Verkehrsmittel (Businessclass bis Einbaum)
(Abb. [1] und [2]) und qualitativ sehr differierende medizinische Versorgungsniveaus (Privathospital
in Quito bis staatliches Krankenhaus der niedrigsten Versorgungsstufe) in die Reiseplanung
eingebaut. Unterwegs entwickelt sich stets eine außerordentlich intensive Arbeitsdichte,
die während der 14 Tage praktisch keinen Raum für Freizeitaktivitäten zulässt (Abb.
[3]).
Abb. 1 Schluchtüberquerung per Verkehrsmittel "Gondel"
Abb. 2 Langboot als Verkehrsmittel auf dem Rio Arajuno
Abb. 3 Arbeitsdichte: Fachbesprechung selbst in der Abflughalle
Für Reisende relevante medizinische Versorgungsstruktur kennenlernen
Für Reisende relevante medizinische Versorgungsstruktur kennenlernen
Um einen Eindruck der qualitativ extrem unterschiedlichen touristischen Versorgungsmöglichkeiten
zu vermitteln, werden Arztpraxen, staatliche und private Krankenhäuser der Hauptstadt,
am Urwaldrand und auf den Galapagosinseln besucht. Die Notfallbetreuung wird am Beispiel
mehrerer Flugrettungsambulanzen sowie einer Dekompressionskammer auf den Galapagosinseln
erkundet (Abb. [4]). Ergänzt wird dieser Exkursionsteil durch Gespräche mit Hotelärzten und das Kennenlernen
von landesspezifischen Gesundheitsangeboten, die von Wellnessprogrammen in Hotels,
ortsgebundenen Heilmitteln in den für Ecuador typischen Thermalquellen über Heilpflanzen
im tropischen Regenwald bis hin zur "Schamanenmedizin" reichen.
Abb. 4 Dekompressionskammer für verunfallte Taucher, Galapagos
Die Gruppe hat die Aufgabe, die für Reisende infrage kommenden Einrichtungen zu evaluieren.
Verwendet wird hierzu der Temos[1]-Kurzevaluationsbogen. Um dieses Instrumentarium aussagekräftig nutzen zu können,
findet in den ersten Exkursionstagen eine Einführungsschulung in den Gebrauch des
Evaluationsbogens statt.
Medizinisch relevante Reiseerfahrungen sammeln
Medizinisch relevante Reiseerfahrungen sammeln
Die einzigartige Lage Ecuadors bietet die Möglichkeit, medizinisch bedeutsame klimatische
und geophysikalische Besonderheiten hautnah zu studieren: Folgen von plattentektonischen
Aktivitäten, momentan tätige Vulkane (Abb. [5]) mit den gesundheitlichen Folgen in Form akuter und chronischer Atemwegs- und Augenerkrankungen
(Thema: Reisen und Naturkatastrophen), Erleben des Regenwaldes mit gefährlich ansteigenden
Wasserständen und Gefahren durch Stromschnellen oder plötzlich unwegsam werdende Wanderpfade,
teilweise extreme und den Organismus belastende Klimawechsel je nach geografischem
Standort.
Abb. 5 Tätiger Vulkan Tungurahua bei Banos
Hierzu gehört das Ausprobieren von Kommunikationssystemen unterwegs, die für unsere
reisemedizinische Betreuung mittlerweile erhebliche Bedeutung erlangt haben (Internetcafes
in abgelegensten Dörfern, Telefonverbindung selbst in 4500 Metern Höhe am Cotopaxi).
Erwähnt sei auch die nur in unmittelbarer Äquatornähe mögliche und in ihrer Einfachheit
verblüffende Demonstration der für die globale Klimaentstehung bedeutenden Corioliskraft
(Strudelrichtung).
Beispiele für didaktisch nutzbare aktuelle Ereignisse
Beispiele für didaktisch nutzbare aktuelle Ereignisse
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Während des Besuches in einem Auswilderungszoo im Oriente (Regenwald im Amazonaseinzugsgebiet)
wurde eine Teilnehmerin von einem Nasenbär in den Arm gebissen. Unvermittelt musste
das theoretische Wissen um einen solchen Fall notfallmäßig in die Praxis umgesetzt
werden, insbesondere die Wundbehandlung bei Wildtierbiss unter den Bedingungen einer
Dschungellodge mit Bordmitteln (Reiseapotheke) und das Tollwutimpfmanagement bei einer
ungeimpften Reisenden in einer abgelegenen Urwaldregion.
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Bei unserer Anfahrt der Tambopaxi-Hütte blieb auf etwa 3600 m ü.NN bei Schneeregen
unser Bus im Morast stecken. Erhebliche (anaerobe) körperliche Anstrengungen aller
Gruppenteilnehmer (Abb. [6]) waren erforderlich, um das Fahrzeug wieder flott zu bekommen. Hier wird die Diskrepanz
zwischen theoretischen Vorgaben (keine anaerobe körperliche Anstrengung in der Akklimatisationsphase)
und der Reiserealität deutlich. Nach Ankunft in der Unterkunft wurde die vorgesehene
Wanderung (Vorgabe: Schlafhöhe unter maximal erreichter Tageshöhe) noch in der Abenddämmerung
bei Nieselregen durchgeführt.
Abb. 6 Bus-Panne in 3600 Metern Höhe
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Tauchmedizin in Theorie und Praxis
Tauchmedizin in Theorie und Praxis
Die Galapagosinseln bieten eine sehr gute Voraussetzung dafür, Tauchmedizin in unterschiedlichen
Facetten kennenzulernen. Die Tauchpraxis wird im gegenwärtigen Programm durch eine
Einführung in das Schnorcheltauchen vermittelt, intensiv wird die Tauchtheorie (u.a.
durch eine ortsansässige Tauchschule) und darauf aufbauend die Tauchtauglichkeitsuntersuchung
nach den GTUEM-Kriterien (Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin) durchgesprochen.
Durch einen engen Kontakt zur Tauchschule und durch den Besuch der nach amerikanischen
Navy-Kriterien gefahrenen hyperbaren Kammer auf der Insel Santa Cruz werden konkrete
und sehr interessante Insiderinformationen zum Thema "Touristen und Tauchen" ausgetauscht
(gesundheitsrelevante Erlebnisse der Tauchlehrer mit Touristen, Anforderung von Tauchtauglichkeitsattesten
bei Tauchanfängern und Fortgeschrittenen seitens der Tauchschulen).
Die exklusiv von der Ärztegruppe belegte Yacht bietet neben dem praxisnahen Studium
wesentlicher Teile der Schifffahrtmedizin (z.B. medizinische Bordausrüstung, Hochsee-Rettungssysteme)
sehr gute räumliche und apparative Voraussetzungen für die obligaten Lehrveranstaltungen.
Aktuelles Thema während der Schiffstour ist zum Leidwesen einzelner Teilnehmer regelmäßig
auch die Kinetose: Besprochen wird die Entwicklung von Strategien zur Vermeidung und
Behandlung der Seekrankheit. Die gezielte Beobachtung anderer Reisegruppen bei ihren
Inselerkundungen lässt regelmäßig die Thematik "Reisen von Risikogruppen" aktuell
werden, denn insbesondere bei den älteren Reisenden müssen erhebliche Mängel im gesundheitsgerechten
Verhalten konstatiert werden (unzureichender Sonnenschutz, zu geringe Trinkmengen,
offensichtliche körperliche Überforderung, schlechtes Timing bei Inselwanderungen
in der Mittagshitze).
Höhenerfahrung im Cotopaxinationalpark
Höhenerfahrung im Cotopaxinationalpark
Ein für alle Teilnehmer äußerst eindrucksvoller Programmpunkt ist das Sammeln von
Höhenerfahrung am Cotopaxi, wo die Taktik der Höhenakklimatisation, das Erkennen von
Höhenproblemen bei sich selbst und bei Gruppenmitgliedern sowie die Einleitung von
Hilfsmaßnahmen in praxi erlebt werden. Leider betrifft die Symptomatik der milden
Form der akuten Bergkrankheit (AMS) regelmäßig auch Gruppenteilnehmer.
Die Höhenexposition ist didaktisch so konzipiert, dass nach medizinischem Ermessen
die Gefahr von ernsthaften Zwischenfällen äußerst gering ist. Die gesamte Tour findet
in Sichtweite vom Abstellplatz unseres Fahrzeuges statt, für alle Fälle ist Sauerstoff
vor Ort und ein schneller Transport in tiefer gelegene Regionen per Auto ist problemlos
möglich. Die Risiken, die von diversen auch von uns beobachteten Touristengruppen
und Einzelreisenden bezüglich ihres Höhenverhaltens eingegangen werden, sind häufig
ungleich höher und natürlich auch Gegenstand der kritischen Diskussion in unserer
Ärztegruppe (zu große Schlafhöhen- und Tageshöhenunterschiede, ungeeignete Unterkünfte,
körperliche Überforderung). Ein erfahrener Andenbergführer ist Ansprechpartner für
einen sehr lehrreichen Informationsaustausch.
Programmpunkte sind im Einzelnen: Nach der Ankunft in der Tambopaxi-Hütte (3720 m
ü.NN) (Abb. [7]) eine Wanderung bis in 3900 m ü.NN, dann die Übernachtung in 3720 m ü.NN und eine
Trekkingtour zunächst bis zu einer Refugio in 4800 m ü.NN, gefolgt von einem Fußmarsch
bis an den Cotopaxi-Gletscher auf zirka 5100 m ü.NN, selbstverständlich flankiert
durch eine theoretische Einführung in die Höhenmedizin. Auch hier haben wir durch
die komfortable Tambopaxihütte ausgezeichnete Seminarbedingungen.
Abb. 7 Tambopaxi-Berghütte (3720 m ü.NN)
Bisher erreichte immer nur knapp die Hälfte der Exkursionsteilnehmer die Gletschergrenze.
Individuelle Gründe, die das Höhenziel nicht erreichen lassen, sind etwa zu einem
Drittel die Selbsterkenntnis, die eigene Belastungsgrenze erreicht zu haben, körperliche
Erschöpfung und Zeichen mangelnder Höhenanpassung (Kopfschmerz, Übelkeit, Gesichts-/Extremitätenödeme).
Nach dem Abstieg, der obligat mindestens in Zweiergruppen erfolgt, und der Rückfahrt
in die auf ungefähr 2800 Meter gelegenen Unterkunft "Hosteria La Cienega" sind die
höhenbedingten Beschwerden regelmäßig abgeklungen.
Die Gruppe als wesentliches Element des Lernerfolges
Die Gruppe als wesentliches Element des Lernerfolges
Ganz wichtig für den Lernerfolg der Exkursion sind die mannigfaltigen Erfahrungen
innerhalb der Reisegruppe. Hier geht es zum einen um einen Erfahrungsaustausch zwischen
"Experten" hinsichtlich der Maßnahmen zur Reisevorbereitung. Vor der Reise werden
bewusst keine Hinweise zur Reisevorbereitung gegeben, die über die Informationen durch
den Veranstalter bei normalen Reisegruppen hinausgehen. Selbstverständlich werden
gezielte Anfragen, die zur Entscheidung über eine optimale Vorbereitung notwendig
sind, entsprechend beantwortet.
In ersten Besprechungen unterwegs lassen sich sehr interessante Unterschiede in den
Vorbereitungsstrategien feststellen, die dann durch die tatsächlichen Reiseerfahrungen
häufig kritisch hinterfragt werden. Typisch hierzu ist, dass von den eigenen medizinisch
begründeten Verhaltensvorgaben in der Reisepraxis erheblich abgewichen wird und dass
auch Versäumnisse und Fehleinschätzungen in der eigenen Vorbereitung durch die Erlebnisse
unterwegs erkannt werden. Dies betrifft besonders Impfungen, Malariaprophylaxe, Nahrungsmittelhygiene,
die Zusammensetzung der Reiseapotheke sowie auch die Vorbereitung auf die körperliche
Belastung während der Tour.
Zum anderen ist es ein gruppenbezogenes Lernziel der Exkursion, tatsächlich in einer
Reisegruppe auftretende gesundheitliche Gefährdungen zu erkennen und Strategien zu
ihrer Vermeidung zu entwickeln. Um diesen Programmpunkt unterwegs zu strukturieren,
wird täglich ein Gruppenmitglied zum "Arzt vom Dienst" bestimmt. Er ist an diesem
Tag Ansprechpartner für medizinische Probleme in der Gruppe (sicher mehr in didaktischer
als in tatsächlich betreuender Hinsicht). Eine seiner Aufgaben ist es, seine Einschätzung
des Gefährdungspotenziales und medizinischer Einflussmöglichkeiten in einem Kurzprotokoll
zusammenzufassen und zu dokumentieren.
Theoretische Aufbereitung reisemedizinischer Inhalte
Theoretische Aufbereitung reisemedizinischer Inhalte
In abendlichen, straff strukturierten Seminarveranstaltungen und themenzentrierten
Diskussionsrunden werden zur Exkursion passende reisemedizinische Inhalte behandelt,
die sich an den Vorgaben aus dem Curriculum orientieren. Ergänzt werden die Seminare
durch Gastvorträge von Experten vor Ort. Immer ergibt sich auch die Möglichkeit, besondere
Qualifikationen von Gruppenmitgliedern gezielt in die Seminare zu integrieren und
so den Erfahrungsaustausch innerhalb der Reisegruppe zu optimieren.
Ein integratives reisemedizinisches Fortbildungsinstrument
Ein integratives reisemedizinisches Fortbildungsinstrument
Der Deutsche Fachverband führt die reisemedizinischen Exkursionen seit nunmehr vier
Jahren durch. An sich sehen wir es nicht als unsere Aufgabe an, selbst reisemedizinische
Veranstaltungen anzubieten. Hier haben wir jedoch initiativ werden wollen, um die
Entwicklung eines neuen integrativen reisemedizinischen Fortbildungsinstrumentes zu
unterstützen. Die durchweg sehr positive Resonanz der Teilnehmer zeigt, dass dieses
Fortbildungskonzept "ankommt". Die Teilnahme setzt aber auch Flexibilität und Mut
zum Engagement in einer Ärztegruppe voraus. Der Lohn ist ein unschätzbarer Zuwachs
an reisemedizinischer Erfahrung, die sich unmittelbar in der Beratung und Betreuung
unserer Reisenden umsetzen lässt.
Dr. med. Ulrich Klinsing, Frankfurt a.M., stellvertretender Vorsitzender des DFR