Nicht immer muss die Wiederkehr eines wissenschaftlich wichtigen Datums, die Wiederholung
eines bedeutsamen Geschehens oder Geburts- und Sterbetage einer bekannten Persönlichkeit
Grund für eine Erinnerung sein. Manchmal sind es schon banale Ereignisse, die uns
an Dinge denken lassen, die uns seinerzeit selbst sehr beeindruckten.
Beim Aufräumen einer Literatursammlung fielen mir Publikationen von Kurt Mothes in
die Hände. Kennen ihn unsere jungen Kollegen oder gar unsere Studierenden, die sich
mit Biologie und Pharmazie beschäftigen, überhaupt noch? Das mangelhafte Wissen über
Prof. Dr. Dr. h.c. Kurt Mothes und seine wissenschaftlichen Leistungen erinnern mich
ein wenig an die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Es war die Zeit der zwei deutschen Staaten, die Zeit der Mauer zwischen Ost und West,
die durchaus ebenfalls die Wissenschaft beeinflusste. So war auch Professor Kurt Mothes
mehr nolens als volens ein Wanderer zwischen zwei Welten. Am 3. November 1900 wurde Kurt Mothes in Plauen
geboren. Er war ohne Frage der Begründer der Forschungsrichtung »Biologie und Physiologie
pflanzlicher Sekundärstoffe« und damit vieler biogener Arzneistoffe. Man kann Mothes
als einen der großen Biologen bezeichnen, der biologische mit pharmazeutischen Fragen
verknüpfte. Nach seiner Ausbildung als Pharmazeut fanden schon früh in seiner wissenschaftlichen
Laufbahn pflanzliche Sekundärstoffe (besonders solche aus dem Stickstoff-Stoffwechsel)
sein Interesse. 1925 wurde Mothes bei Wilhelm Ruhland in Leipzig mit einer Arbeit
über den pflanzlichen Stickstoff-Metabolismus promoviert. 1928 habilitierte er sich
mit Untersuchungen zur Physiologie des Nikotins in Tabakpflanzen. Bereits 1934 erhielt
Mothes einen Ruf auf den Lehrstuhl für Botanik und Pharmakognosie an der Albertus-Universität
in Königsberg i.Pr. Hier entwickelte er wesentliche Grundlagen für seine späteren
Forschungen über die Physiologie, den Auf-, Um- und Abbau pflanzlicher Sekundärstoffe.
Im Frühjahr 1945 eroberte die Rote Armee die 1255 gegründete Stadt Königsberg. Mothes
geriet für vier Jahre in Gefangenschaft. Wie er mir einmal erzählte, war dies die
schwierigste, aber auch lehrreichste Zeit seines Lebens. 1949, nach der Rückkehr aus
der Sowjetunion nach Gatersleben, baute er trotz nicht immer einfacher Umstände hier
im Rahmen des Akademie-Instituts und später an der Universität Halle seine Forschungen
zielbewusst aus. Generationen von Studenten und Mitarbeitern prägte Mothes mit seiner
wissenschaftlich-korrekten, sich immer - selbst in schwierigen politischen Situationen
- vor seine Mitarbeiter und Schüler stellenden Art. Für mich war Mothes stets Leitbild,
der sein Wissen und seine Weisheit nie nutzte, um sich in den Elfenbeinturm der Wissenschaft
zurückzuziehen. Er wich den Anforderungen und Ansprüchen seiner Gesellschaft nicht
aus. Er stellte sich ihnen aber auch entgegen, wenn er es für richtig hielt und wenn
er es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Kurt Mothes war wirklich ein Professor,
ein Bekenner. Und zum Bekennen gehören Charakter, Standfestigkeit und Mut. Mothes
war ein überragender Forscher und ein Mensch, der sich immer der Humanitas verbunden
fühlte.
Professor Mothes im Gespräch mit Professor F.-C. Czygan während der Tagung der Gesellschaft
für Arzneipflanzenforschung 1978 in Münster
Die hohe Anerkennung, die Mothes schon in »jungen« Jahren entgegengebracht wurde,
war auch der Grund, dass er 1954 zum Präsidenten der Leopoldina gewählt wurde, der
einzigen gesamtdeutschen Wissenschaftsvereinigung in den politisch schlimmen Zeiten
der DDR. Bis 1974 hatte er dieses ehrenvolle Amt inne.
Mothes hat durch seine Forschungen mit Sekundärstoffen ganz wesentlich eine moderne,
auf den Wirkstoff abgestellte - und damit sicherlich nicht von allen Phytotherapeuten
akzeptierte - Phytotherapie unterstützt. Aber nur auf dieser Ebene kann meines Erachtens
die Zukunft einer aktuellen, seriösen, auch einer modernen Pharmakologie entsprechenden
Phytotherapie liegen; heute, da es bald viele »traditionell wirksame« Phytotherapeutika
geben wird, mehr denn je.
Es mag für Kurt Mothes, der in seinem langen Leben manche Anfeindung erfuhr, eine
späte schicksalhafte Genugtuung gewesen sein, dass an der Wirkstätte, die ihn besonders
geprägt hat, an der Albertina in Königsberg, der heutigen Staatsuniversität Kaliningrad,
in der Fakultät für Biologie seiner oft ehrenvoll gedacht wird. Auch sein - wie er
1978 in einem Gespräch versicherte - Wunsch nach einer ideologiefreien, nur der Wissenschaft
verbundenen gemeinsamen russisch-deutschen Forschung geht in Erfüllung. Nach seinem
Tode 1983 wurde die Kooperation zwischen der Universität in Kaliningrad (Dekan der
Fakultät für Biologie, Prof. Dr. Viktor P. Dedkov) und der Würzburger Julius-Maximilians-Universität
wesentlich intensiviert. Die erste Publikation zwischen dem Würzburger Lehrstuhl für
Pharmazeutische Biologie und dem Kaliningrader Lehrstuhl für Botanik beschäftigte
sich mit Chinolizidin-Alkaloiden in Fabaceen. Über sie hatte schon Kurt Mothes gearbeitet.
Wir Würzburger sahen daher diese Untersuchungen als Anknüpfungspunkt für weitere Studien
an. Inzwischen findet ein experimenteller und reger persönlicher Austausch zwischen
Würzburg und Kaliningrad statt - im Sinne einer deutschrussischen Kooperation.
Diese Zusammenarbeit ist für mich - und ich meine ebenfalls im Sinne von Kurt Mothes
- auch eine Möglichkeit, mehr als ein halbes Jahrhundert schwieriger deutsch-russischer
Geschichte zukunftsorientiert zu überbrücken.
Ein mich tief beeindruckendes Ereignis erlebte ich im Sommer 2006. Anlässlich der
Erinnerung an die Gründung Königsbergs im Jahre 1255 wurde die Universität in »Immanuel-Kant-Universität«
umbenannt. Oft haben Kurt Mothes und ich - nur zu zweit - darüber diskutiert, warum
die Russische Regierung, wenn schon die Stadt nicht Königsberg, so doch wenigstens
die Universität nach ihrem größten Sohn benennen könnte. Denn gerade Kant ist einer
der großen Philosophen, die in besonderer Weise Verbindungen zwischen deutschem und
russischem Denken knüpften. Dass dieses Vorhaben bereits zu Beginn der neunziger Jahre
»gedacht« wurde, zeigt eine 1994 von Russen und Deutschen gemeinsam gespendete und
an der Pregelbrücke befestigte Bronzeplatte, die die bekannten Kant-Worte auf Russisch
und Deutsch enthält ([Abb. 1]):
Abb. 1: Deutsch-russische Bronzeplatte in Königsberg/Kaliningrad mit dem berühmten Zitat
von Immanuel Kant
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt
mit immer neuer und zunehmender
Bewunderung und Ehrfurcht,
je öfter und anhaltender sich das
Nachdenken damit beschäftigt: Der
bestirnte Himmel über mir und das
moralische Gesetz in mir.
So weisen auch die Worte Kants zum einen auf die Vergangenheit und Gegenwart der Stadt
Königsberg und ihrer Universität und zum anderen auf eine friedliche Zukunft der beiden
Völker hin - auch dieses alles im Sinne von Kurt Mothes.
Franz-Christian Czygan, Würzburg