In der Kinderheilkunde und Jugendmedizin kommen etwa gleich viele unterschiedliche
Diagnosen vor wie in der Inneren Medizin bei insgesamt nur geringer Fallzahldichte.
Naturgemäß besteht eine unterschiedliche Wichtung der verschiedenen Diagnosegruppen
wie angeborene Erkrankungen in der Kinderheilkunde und erworbene Leiden in der Inneren
Medizin. Dies führt zwangsläufig zu unterschiedlichen Schwerpunktbildungen in der
klinischen Forschung und Behandlung sowie Kooperationen mit anderen Fachdisziplinen.
Der Einzelfall hat in der Pädiatrie eine besondere Bedeutung, wie die Meilensteine
der Diagnostik und Behandlung der Phenylketonurie zeigen.
Durch systematische Untersuchung bei einem Geschwisterpaar mit schwerster geistiger
Behinderung erkannte mit einfachsten Untersuchungsverfahren der norwegische Kinderarzt
Asbjørn Følling, der über gute chemische Kenntnisse verfügte, dass Eisen(III)-chlorid
den Urin passager grün verfärbte, und dass dies auf einen erhöhten Gehalt von Phenylbrenztraubensäure
zurück zu führen war. Wegen der großen strukturellen Ähnlichkeit zwischen der Phenylbrenztraubensäure
und der Aminosäure Phenylalanin vermutete er, dass eine Störung in der Metabolisierung
dieser Aminosäure für das schwere Krankheitsbild verantwortlich sei. Er veröffentlichte
seine Beobachtungen 1934 [6] und schloss weitere systematische Untersuchungen an: Unter 430 behinderten Kindern,
die in verschiedenen Heimen untergebracht waren, fand er achtmal die gleiche Störung.
Veranlasst durch die inständigen Bitten einer verzweifelten Mutter, bei deren zwei
Jahre alten stark retardierten Tochter eine Phenylketonurie festgestellt worden war,
errichtete der junge deutsche Arzt Dr. Horst Bickel während seines Gastaufenthaltes
an der Universitätskinderklinik Birmingham zwei Jahrzehnte später den zweiten Meilenstein.
Aufgrund der Überlegung, dass das mit der Nahrung zugeführte Phenylalanin für die
schwere Entwicklungsstörung verantwortlich sei, eliminierte er alles Phenylalanin
aus der Nahrung. Trotz der günstigen Beeinflussung der Entwicklung bei dem schon schwer
beeinträchtigten Kleinkind wurde die Kausalität dieser diätetischen Behandlung kritisch
hinterfragt und dann durch einen kurzfristigen gut dokumentierten Auslassversuch bewiesen
[2].
Es dauerte dann noch weitere zehn Jahre bis zum dritten Meilenstein. Die amerikanischen
Wissenschaftler R. Guthrie und A. Susi beschrieben ein mikrobiologisches Testsystem,
das den Phenylalaningehalt semiquantitativ messen kann und für Massenuntersuchungen
aufgrund seiner Einfachheit und Zuverlässigkeit geeignet ist [9].
Inzwischen ist an die Stelle der mikrobiologischen Testung die Tandem-Massenspektrometrie
getreten, mit der eine Vielzahl von metabolischen Störungen erkannt werden kann. Gefahndet
wird in Deutschland zurzeit nach nur zwölf unterschiedlichen endokrinen und metabolischen
Diagnosegruppen, deren Krankheitswert gesichert ist und für die wirksame Behandlungsverfahren
verfügbar sind [22]. Trotz der nachgewiesenen Effizienz einer schon in den ersten Lebenstagen einsetzenden
Frühtherapie bedarf es der regelhaften Überprüfung der Langzeitergebnisse und Adaptierung
der Betreuung, wie landesweite Nachuntersuchungen für das Krankheitsbild der konnatalen
Hypothyreose belegen [14]. Die vollständige soziale Reintegration der Patienten ist das Ziel, und deshalb
bedarf es in der Diagnostik und Behandlung der fächerübergreifenden horizontalen und
vertikalen Vernetzung bis in das Erwachsenenalter.
Dank der modernen molekulargenetischen Untersuchungsverfahren gelingt es zunehmend,
Krankheitsbilder mit charakteristischer Symptomatik in eine ständig wachsende Zahl
genetisch differenter Erkrankungen zu unterteilen. Hier sind vor allem die angeborenen
Erkrankungen des Stoffwechsels, aber auch die stark zunehmende Zahl an Diagnosen für
den sogenannten schweren kombinierten Immundefekt bzw. angeborenen Blutbildungsstörungen
zu nennen, die ganz überwiegend einen autosomal rezessiven Erbgang haben. Bei monogenetischen
Erkrankungen führen Homozygotie oder der Verlust der Heterozygotie bei nur einem defekten
Gen zur Manifestation, während bei polygenetischen Erkrankungen auch die doppelte
Heterozygotie von zwei verschiedenen defekten Genen krankmachende Wirkung haben kann.
Unabhängig von den weiteren bekannten Störungsmöglichkeiten auf der chromosomalen
Ebene wird erkennbar, dass hieraus sehr variable Krankheitsbilder resultieren können,
wie es kürzlich beispielhaft für die Sichelzellanämie beschrieben worden ist [11].
Dieser Sachverhalt erschwert die Diagnostik, Prognoseeinschätzung und Therapiewahl
im individuellen Krankheitsfall erheblich. Bei der geringen Fallzahldichte verdienen
deshalb genaue Einzelfallbeschreibungen mit sorgfältiger diagnostischer Abklärung
eine besondere Beachtung und können in unterschiedlicher Weise Orientierungshilfen
sein. So ist kürzlich am Beispiel von drei sorgfältig diagnostizierten Kindern mit
Kobalamindefekt als Folge von angeborenen Stoffwechselstörungen u. a. auf die Wichtigkeit
von leicht erkennbaren Leitsymptomen (Mikrozephalus und megaloblastäre Anämie) für
eine möglichst frühzeitige Diagnose und den möglichen Nutzen einer rasch einsetzenden
Therapie hingewiesen worden [21]. Einzelfallbeschreibungen von ähnlich seltenen Erkrankungen (wie der L-2-Hydroxy-Glutarazidurie)
als Ursache eines anderen häufigen Symptoms (Makrozephalus) erweitern die Differentialdiagnose
und sind dadurch hilfreich, selbst wenn sich daraus zum jetzigen Zeitpunkt noch keine
therapeutischen Konsequenzen ergeben [16]. Derartige Kasuistiken können auch zur erneuten Erweiterung des Krankheitsspektrums
bei dem Neugeborenen-Screening führen.
Einfache retrospektive Studien mit allgemein verfügbaren Befunden sind geeignet, in
systematischer Weise den Diagnosezeitpunkt für seltene Erkrankungen und damit den
Therapiebeginn nach vorne zu verlegen. So ist die Kombination einer Lymphozytopenie
und einer persistierenden Infektion mit Rotaviren bei Säuglingen mit schwerem kombiniertem
Immundefekt (SCID) nicht nur als pathognomonisch anzusehen sondern möglicherweise
auch diagnostisch wegweisend [12]. Insofern ist es schwer erklärbar, warum diese einfachen Untersuchungen nicht öfter
als Suchtests bei Kindern mit Verdacht auf SCID eingesetzt wurden. Derartige Auswertungen,
die die Handlungsweisen in allen Kliniken verändern können, sind aber nur möglich,
wenn es vorher zu Schwerpunktbildungen in den Kinderkliniken mit Aufbau von klinischen
Registern gekommen ist.
Ein anderer Weg, um bei seltenen Erkrankungen rasch einen Erkenntnisgewinn zu erzielen,
sind regelmäßige Anfragen in gut überschaubaren Abständen an alle Kinderkliniken,
ob bestimmte Erkrankungen in den zurückliegenden Wochen diagnostiziert und behandelt
worden sind. Sinnvoll sind diese Umfragen vor allem dann, wenn die Schwere der Erkrankung
generell eine stationäre Behandlung erfordert und eine klare Falldefinition vorliegt.
Hierzu ist 1992 mit der Erhebungseinheit für seltene pädiatrische Erkrankungen in
Deutschland (ESPED) eine Service-Einrichtung bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder-
und Jugendmedizin geschaffen worden, an die sich bei einer - gemessen am Aufwand -
niedrigen Nutzungsgebühr jeder Wissenschaftler mit einer geeigneten Fragestellung
wenden kann [5]. Derartige Verfahren sind auch geeignet, prophylaktische Maßnahmen hinsichtlich
ihrer Effizienz und ihrer Auswirkungen auf die Gesundheitsökonomie zu evaluieren.
Sie sind dann besonders informativ, wenn sie mit unabhängigen anderen Erfassungssystemen
kombiniert werden können, wie das am Beispiel der Varizellen-Schutzimpfung eindrucksvoll
belegt worden ist [18].
Die klinische Arbeitsweise wird zunehmend durch Leitlinien geprägt, die besonders
bei Erkrankungen mit sehr variabler Prognose und wenig überprüften Therapieempfehlungen
von besonderer Wichtigkeit sind. Die Grundlage einzelner Aspekte derartiger Leitlinien
sind oft Metaanalysen, um gerade bei widersprüchlichen Mitteilungen über eine kritische
Bestandsaufnahme verfügen zu können; beispielhaft ist das Neuromonitoring mittels
S100B-Protein in verschiedenen Teilbereichen der Pädiatrie zu nennen [20]. Eine frühzeitige und richtige Prognoseeinschätzung ermöglicht eine rasche Therapieintensivierung
in der Risikosituation und bewahrt andere Patienten vor den Belastungen einer unnötigen
Therapie; des weiteren werden die immer knapper werdenden Ressourcen geschont, selbst
wenn es sich nur um die Vermeidung unnötiger Untersuchungen handelt. Ein anderer Weg
wird mit monoinstitutionell erarbeiteten interdisziplinären Empfehlungen gewählt;
so können z. B. die Vorschläge zur antiepileptischen Therapie bei Kindern mit onkologischen
Erkrankungen der erste Schritt zu einem vereinheitlichen Vorgehen bei diesem polyätiologischem
Symptom sein [24]. Dagegen ist das Ergebnis einer Konsensuskonferenz zur Diagnostik und Therapie bei
einem definierten Krankheitsbild als der wichtigste Zwischenschritt in Richtung auf
eine evidenzbasierte Leitlinie zu werten, wie es für die Purpura Schönlein-Henoch
in diesem Heft (Seiten 46-51) zu lesen ist [15].
Über eine mittlerweile jahrzehntelange Erfahrung in der flächendeckenden interdisziplinären
Zusammenarbeit verfügt die Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie,
sodass inzwischen ein dichtes Kompetenznetz zur Therapieoptimierung, Risikostratifizierung
und Prüfung neuer Therapieverfahren aufgebaut worden ist [8]. Darüber hinaus definieren die kooperierenden Fachdisziplinen selbst zunehmend mehr
die speziellen Anforderungen und Leistungsprofile [19]
[23] und bauen fachspezifische Register durch die zentrale Dokumentation von Behandlungsdaten
und Nachsorgeergebnissen auf [3]. Dagegen ist das Kieler Kindertumorregister im Rahmen der Referenzbegutachtung im
Laufe von mehreren Jahrzehnten entstanden, wie am Beispiel der Teratome erkennbar
ist [10]. Es erarbeitet in Kooperation mit der entsprechenden Therapieoptimierungsstudie
Risikostratifikationen [7], ermittelt Inzidenzen für sehr seltene Krankheitszustände, wie z. B. die maligne
Transformation von Teratomen [1]. Hierauf aufbauend werden molekularbiologische und molekulargenetische Untersuchungen
zur Tumorpathogenese durchgeführt [10]. Die Nutzung derartiger Register für besondere Aufgaben bedarf jedoch einer Struktur,
wie sie für das epidemiologische Kinderkrebsregister für die (Langzeit-) Nachsorge
und Erfassung von Spätfolgen erst kürzlich beschrieben worden ist [4].
Diese Beispiele lassen unschwer den Grad der Vernetzung zwischen unterschiedlichen
Kooperationspartnern auf der Grundlage der regulären stationären Krankenversorgung
erkennen. Viele dieser Entwicklungen hat die Klinische Pädiatrie seit 1976 durch die regelmäßige Herausgabe von Schwerpunktheften im Auftrag der Gesellschaft
für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie nachhaltig unterstützt.
Die rasche Information über aktuelle Erkenntnisse in komprimierter Form ist durch
den regelmäßigen Abdruck der Abstracts von Tagungen der Fachgesellschaften gegeben
[13]
[17].
Die Veröffentlichung vollständigerer Informationen zu einer Fragestellung in Form
begutachteter Originalarbeiten ist zwar der Königsweg, jedoch reicht die Zeitspanne
zwischen der Einreichung der begutachtungsfähigen Manuskripte und ihrer Veröffentlichung
von fünf Monaten für die Schwerpunkthefte bis zu mehr als einem Jahr für die allgemeinpädiatrischen
Hefte; dies ist durch den hohen Bestand von noch nicht veröffentlichten Manuskripten
bedingt. Möglicherweise kann hier die im September 2006 erstmals erschienene Zeitschrift
Pädiatrie up2date Abhilfe schaffen, die in umfassender Weise auf dem aktuellen Stand des Wissens informiert
und fortbildet. Dieser Schritt ermöglicht der Klinischen Pädiatrie, sich noch stärker auf die klinische Forschung und auf die Verbesserung von kooperativen
bzw. interdisziplinären Behandlungsabläufen auszurichten. Gleichzeitig wird es von
den Herausgebern und dem Verlag begrüßt, wenn zukünftig noch mehr Originalarbeiten,
Kasuistiken und außergewöhnliche Krankheitsverläufe (Visite) in englischer Sprache
eingereicht werden, um den internationalen Wissensaustausch zu erleichtern. Dies ist
auch im Hinblick auf die zunehmenden internationalen Kooperationen sinnvoll. So werden
nicht nur Referenzuntersuchungen in ausländischen Laboren angefordert [16]
[21], sondern auch Patienten aus dem Ausland nach den in Deutschland etablierten Protokollen
behandelt und in diesen registriert [3]
[7]
[10]; zusätzlich bestehen direkte internationale Kooperationen zwischen Referenzeinrichtungen
[10]. Um diese zunehmenden internationalen Entwicklungen, die gerade bei seltenen Erkrankungen
besonders sinnvoll sind, auch seitens der Klinischen Pädiatrie erkennbar zu machen, wird der bisherige Untertitel Zeitschrift für Klinik und Praxis ab jetzt zugunsten Clinical Research and Practice in Pediatrics geändert. Berichte und Mitteilungen von Fachgesellschaften und Arbeitsgruppen werden
genauso wie die Abstracts von wissenschaftlichen Tagungen weiterhin in deutscher Sprache
publiziert.