Zeitschrift für Palliativmedizin 2018; 19(03): 117-119
DOI: 10.1055/a-0576-3622
Editorial
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Palliativversorgung in Deutschland – eine Wissenschaft für sich?

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Publication Date:
25 April 2018 (online)

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Lukas Radbruch
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Birgit Jaspers
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Friedemann Nauck

Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) ist als wissenschaftliche Fachgesellschaft Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Medizinisch-Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF). Derzeit wird unter der Federführung der DGP im AWMF-Leitlinienprogramm am zweiten Teil der S3-Leitlinie Palliativmedizin bei Patienten mit Krebserkrankung gearbeitet. Zusätzlich zu den sieben Symptomen und Themen in Teil I der Leitlinie werden nun Empfehlungen zu den Symptomen Angst, Fatigue, Übelkeit und Erbrechen, maligne gastrointestinale Obstruktion, Schlafstörungen und nächtliche Unruhe, malignomassoziierte Wunden sowie zu Therapiezieländerungen und zum Umgang mit Todeswünschen entwickelt.

Wie schon bei den Themen im ersten Teil der S3-Leitlinie, in welchem mehr als die Hälfte der 209 Empfehlungen auf dem Konsens der Experten beruhten, ist häufig keine evidenzbasierte Empfehlung möglich, weil keine Studien vorliegen. Gleichzeitig werden immer mehr systematische Übersichtsarbeiten zu palliativmedizinischen Fragestellungen publiziert, die ebenfalls meist nur wenige kontrollierte Studien zu ihrer Fragestellung finden und mehr Forschung zu diesen Fragestellungen einfordern. Eine ganze Reihe solcher Übersichtsarbeiten kommt aus den deutschen Palliativzentren.

Wo bleibt diese Forschung? Für den Bremer Kongress der DGP im September sind 140 Abstracts eingereicht worden. Das ist nicht gerade wenig, aber weniger als bei den vorhergehenden Kongressen. Wäre bei den ca. 6000 Mitgliedern unserer Fachgesellschaft nicht mehr zu erwarten?

Wir haben doch in den vergangenen Jahren eine lebhafte Forschungslandschaft in der Palliativversorgung entwickelt. Mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (2015) wurde eine Forschungsagenda für die Palliativversorgung vorgelegt. Relevante Forschungsfragen wurden für elf Bereiche identifiziert, von der biomedizinischen Grundlagenforschung über medizintechnische Forschung bis zu psychosozialen, spirituellen, rechtlichen und ethischen Fragestellungen. Auch für die klinische Forschung wurde ein Themenkatalog aufgestellt, der unter anderem klinische Studienprogramme zur medikamentösen Symptomkontrolle mit Interventionsstudien zu häufigen Symptomen wie Schmerz, Angst oder Luftnot und zu selteneren Symptomen wie Juckreiz, Längsschnittstudien im Krankheitsverlauf oder Interventionen in der Terminalphase umfasst. Klinische Studien mit Patienten in der Palliativversorgung sind sicher nicht einfach durchzuführen. Die Patienten sind oft kognitiv und körperlich kaum belastbar, der Zustand kann sich in kurzer Zeit deutlich verschlechtern, oft treten Komplikationen und Begleiterkrankungen auf, sodass die Bewertung des Behandlungserfolgs kaum möglich ist. Auch sind die Patientenzahlen selbst in den spezialisierten Einrichtungen zu gering, um große Studien zu einzelnen Symptomen durchzuführen, und die Kapazitäten an den Universitätskliniken zu knapp, um sich an mehreren Multicenterstudien zu beteiligen. Ergänzend werden daher in der Forschungsagenda ein Bedarf zur methodologischen Entwicklung festgestellt sowie die Einwicklung und Überprüfung von innovativen Forschungsmethoden vorgeschlagen.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat – nicht zuletzt mit Bezug auf die Stellungnahme der Leopoldina – vor Kurzem eine Förderung für Forschung in der Palliativversorgung ausgeschrieben. Eine ganze Reihe von Forschungsprojekten laufen gerade in den verschiedenen deutschen Palliativzentren an, und es steht zu hoffen, dass wichtige Erkenntnisse für die weitere Entwicklung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland aus diesen Projekten entstehen. Allerdings liegt der Schwerpunkt bei den geförderten Projekten eindeutig auf sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen. Unseres Wissens ist kein Projekt in dieser Förderung zur Symptomkontrolle oder einer anderen Fragestellung aus der klinischen Forschung dabei.

Woran liegt dieser Mangel an klinischer Forschung? Einen wesentlichen Teil der Schuld an der Studienarmut trägt das Arzneimittelgesetz, das mit den letzten Novellierungen in 2004 und im vergangenen Jahr eine ganze Reihe von Regulierungen eingeführt hat, die es fast unmöglich machen, eine vom Forscher organisierte Studie (Investigator-initiated Study IIT) zu planen und durchzuführen.

Früher war es ohne allzu großen Aufwand im Rahmen der klinischen Regelversorgung möglich, mit einer einfachen Randomisierung zwei Medikamente oder Applikationswege zu vergleichen, die ohnehin in der alltäglichen Arbeit eingesetzt wurden. So wurden subkutane vs. intravenöse Morphinapplikation bei Schmerzexazerbationen (Elsner et al. 2005) oder orales transmuköses Fentanyl vs. orales Morphin zur initialen Dosisfindung (Mücke et al. 2016) untersucht.

Heute wäre eine solche Studie nicht mehr erlaubt. Für einen Medikamentenvergleich muss nicht nur das Ethikkomitee, der Dekan der medizinischen Fakultät und das Studienzentrum des Universitätsklinikums eingebunden werden, sondern auch ein Antrag beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingereicht werden und die Studie bei einem Studienregister angemeldet werden. Der bürokratische Aufwand ist exponenziell angestiegen, statt eines schmalen Prüfplans ist es jetzt ein ganzer Ordner mit Unterlagen, und selbst eine kleine Studie kann schnell Kosten in Höhe von mehr als 100 000 Euro verursachen.

Während also auf der einen Seite Forderungen nach mehr und besserer Evidenz immer höhergeschraubt werden, verhindern steigende Anforderungen die Initiierung entsprechender Studien. Dieses Dilemma ist allerdings nicht nur in der Palliativversorgung zu spüren. Auch andere Bereiche der Medizin wie Intensivmedizin oder Pädiatrie leiden unter der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der klinischen Forschung. Und dies ist nicht auf Deutschland beschränkt, auch aus dem europäischen und außereuropäischem Ausland werden nur wenige klinische Studien publiziert.

Hier sind Lösungen gefragt. Wir halten eine Diskussion über neue methodologische Ansätze, aber auch eine Diskussion um die gesetzlichen Regulierungen von IIT für erforderlich. Wir hoffen, dass die palliativmedizinische Forschung hier Vorreiter sein kann, damit es dann vielleicht nicht mehr heißen muss: „Es gibt keine Evidenz, jemand sollte mal Studien machen!“

Sehr erfreulich aber ist die Vielzahl und Vielschichtigkeit neuer (z. T. Multicenter-)Forschungsprojekte, Abstracts und Publikationen zu sozial- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen mit komplexen Designs und interdisziplinärer Zusammenarbeit. Welche Maßstäbe diese für eine effiziente und qualitativ hochwertige Palliativversorgung setzen, sind wir gespannt, auf dem DGP Kongress in Bremen zu erfahren.

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Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP)

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Birgit Jaspers und Friedemann Nauck, Kongresspräsidenten der DGP 2018 in Bremen