intensiv 2018; 26(04): 170-171
DOI: 10.1055/a-0594-1569
Kolumne
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Kommen und Gehen

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Publication Date:
06 July 2018 (online)

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(Quelle: Paavo Blåfield)

Wie wahrscheinlich in jedem Krankenhaus ist es auch bei uns so: ein ständiges Kommen und Gehen. Patienten kommen und gehen, Besucher kommen und gehen. Und das Personal? Richtig: ein Kommen und Gehen. Dabei meine ich natürlich nicht nur, dass die Kollegen ihren Dienst beginnen oder beenden.

Ich meine dieses „Schwert des Damokles“, das beständig, aber mindestens sechs Wochen vor Quartalsende über dem Krankenhaus schwebt und das mit dem wirklich unschönen Begriff „Fluktuation“ bedacht ist. Es leitet sich vom lateinischen „fluctuare“ ab, was übersetzt recht harmlos „hin und her schwanken“ bedeutet. Das mag ja für den Meeresspiegel oder Flüssigkeiten unter der Haut passend sein. Es tröstet mich auch nicht besonders, dass bei Wikipedia beschrieben wird, dass der deutsche Bundestag alle vier Jahre eine institutionelle Fluktuation von 100 Prozent hat. Zeitarbeitsunternehmen schneiden sogar noch besser ab, denn diese haben statistisch gesehen eine Fluktuationsquote von 120 Prozent – und zwar jährlich! In unserer Branche liegt die Quote bei etwa 22 Prozent, und – wer hätte das gedacht – in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherung gibt es fast keine Quote.

Jedenfalls hat es meine Station wieder einmal erwischt. Dabei war es gerade so schön. Wir sind – beziehungsweise nun bald waren – mit vollen Planstellen besetzt und haben frohen Mutes der Urlaubszeit entgegengesehen. Zu früh gefreut. In den vergangenen Tagen hat ein Kollege mir mitgeteilt, dass er um eine zeitnahe Auflösung seines Arbeitsvertrags bitten wird. Er möchte ab dem Sommer eine neue Ausbildung beginnen. Ich gehe davon aus, dass die PDL dem Wunsch entsprechen wird. Ein anderer Kollege trägt sich mit dem Gedanken, das Haus zu verlassen. Er ist aus Bosnien zu uns gekommen und findet keine bezahlbare Wohnung, damit er seine Frau und zwei Kinder nachholen kann. Für mich total verständlich. Ich würde es auch nicht schaffen, von meinem einen Gehalt zwei Haushalte in zwei Ländern zu versorgen. Und zu seinem Glück und unserem Leidwesen wird er nicht einmal nach Bosnien zurückgehen müssen. Denn die Personalnot der Krankenhäuser in dieser Stadt ist so groß, dass andere Krankenhäuser mit Wohnungen und dem Bezahlen der Umzüge werben, nur unser Haus leider nicht. Da würde ich auch nicht lange überlegen müssen. Wie gesagt, sehr schade für uns.

„Ein Mann muss scheiden, eh ins Aug ihm die Tränen treten.“

(Friedrich Hebbel (1813–1863), deutscher Dramatiker und Lyriker)

Aber darüber wollte ich ursprünglich nicht schreiben. In dieser Kolumne sollte es eigentlich um Kollegen gehen, die sich in die Rente verabschieden. Als junge Krankenschwester kannte ich nicht eine einzige Kollegin, die von Station aus in die Rente ging. In meiner Erinnerung waren immer alle jung. Aber wahrscheinlich ist meine Erinnerung nur romantisch verklärt oder ich habe in meinem jugendlichen Eifer – vielleicht ist es auch Ignoranz – ältere Kollegen gar nicht wahrgenommen. In den letzten zwei, drei Jahren jedoch habe ich erlebt, wie die eine oder andere Kollegin sich mehr oder weniger fröhlich in den Ruhestand verabschiedet hat. Und nun ist in unserem Haus leise und (zumindest bei mir) auch ein bisschen wehmütige Aufregung zu bemerken, denn im Juni geht ein langjähriger Chefarzt in die Rente. Ein Chefarzt alter Schule, der fast Letzte seiner Art. Eine würdevolle Erscheinung. Wie er schon täglich über die Flure der Station „wandelt“! Die Akten und Zeitungen unterm Arm, die Brille auf die Stirn geschoben. Jeder weiß sofort, da kommt ein Chef. Er kommt mit den Frühdiensten ins Haus und schaut schon mal am Abend bei den Nachtwachen vorbei. Immer freundlich und ausgesucht höflich. Jeder kann ihn immer alles fragen, niemand wird einfach so „abgebügelt“. Er ist in der Klinik bekannt für seine Großzügigkeit den Kollegen gegenüber. Ich arbeite mit ihm schon mehr als zehn Jahre in einem Haus und, obwohl wir nur bedingt miteinander zu tun haben, wirklich sehr gern.

Nun ist es so, dass ich nicht wirklich viel Privates über ihn weiß, aber ich frage mich schon, wie ein Mensch wie er, der sich offensichtlich sehr mit seinem Beruf verbunden fühlt, lange in verantwortlichen Positionen gearbeitet, gelehrt und veröffentlicht und viel innerhalb unserer Klinik bewegt hat, wie ein solcher Mensch den Schritt von mehr als 100 Prozent Berufsleben in den Ruhestand plant und dann auch gut schafft. Vielleicht geht meine Fantasie ein bisschen mit mir durch, aber ich habe da so meine Vorstellungen. Bestimmt sitzt er morgens stundenlang beim Frühstück und liest alle wichtigen Zeitungen von vorn bis hinten. Vorher hat er vielleicht Sport gemacht. Dann tobt er sich in dem sicherlich vorhandenen Garten mal so richtig aus. Vielleicht geht er auch viel shoppen, zum Stammtisch oder seiner Frau auf die Nerven. Ich kann mir vorstellen, wie er in seiner Bibliothek, seinem Arbeitsraum oder Wohnzimmer sitzt und – ja, was? Schreibt, liest oder nur so herumguckt? Ich stelle mir vor, wie er am Abend seine Frau zum Essen ausführt – oder kocht er gar selbst? Vielleicht sitzt er auch mit geschlossenen Augen in seinem Sessel und hört schwere Musik. Oder er fährt total auf die Musik seiner Jugend ab. Hausmusik könnte ich mir auch vorstellen. Ich sehe ihn auf vielen Reisen, aber auf keinen Fall faul am Strand liegen. Vielleicht hat er Enkel, denen er die Welt zeigen und erklären kann. Ich weiß es nicht und kann ihn mir ehrlich gesagt auch nicht wirklich als „nur“ Privatmann vorstellen. Was ich aber weiß ist, dass ihn die aktuelle Situation, der bevorstehende neue Abschnitt seines Lebens nicht unberührt lässt. Kollegen haben ihm schon angeboten, täglich anzurufen und irgendwelche kniffligen Fragen zu scheinbar unlösbaren medizinischen Problemen zu stellen. Aber, wie gesagt, wahrscheinlich geht meine sorgenvolle Fantasie gnadenlos mit mir durch und er hat schon so viele Pläne und Termine auf seiner Rentneragenda, dass er kaum Zeit hat, seinem Berufsleben nachzutrauern. Außerdem bin ich sehr gespannt, wie kurz oder hoffentlich lange es dauern wird, dass wir über ihn und von ihm reden werden. Ich hoffe sehr, dass wir uns lange an ihn erinnern werden. Leider, für viele auch zum Glück, ist ja unsere Zeit sehr schnelllebig, und so werden auch ehemalige Kollegen schnell ausgetauscht und vergessen. Das würde mir für ihn wirklich sehr leidtun.

Ich wünsche ihm und auch allen anderen Kollegen, die nach vielen, vielen Jahre der Berufstätigkeit in den Ruhestand gehen, dass eine gute, gesunde und erlebnisreiche, zufriedenstellende Zeit beginnt. Verdient haben es alle allemal.

In diesem Sinne, Ihre

Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de