Z Sex Forsch 2018; 31(02): 134-151
DOI: 10.1055/a-0627-2044
Originalarbeiten
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sexualität lernen? Eine Annäherung aus der Perspektive Jugendlicher und pädagogischer Fachkräfte

Learning Sexuality? Approaching the Subject from the Perspective of Young People and Educational Staff
Mirja Beck
a   Institut für Pädagogik, Abteilung Sexualpädagogik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
,
Anja Henningsen
a   Institut für Pädagogik, Abteilung Sexualpädagogik, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
27 June 2018 (online)

Zusammenfassung

Einleitung: Sexualität als eines der zentralen Lernfelder in der Jugend bedarf angesichts der damit verbundenen bedingungsreichen Entwicklungsaufgaben besonderer pädagogischer Beachtung.

Forschungsziele: Ziel dieses Beitrags ist es, unter Bezugnahme auf die transformatorische Bildungstheorie, sexuelle Lern- und Bildungsprozesse zu definieren und sie in der Lebensphase Jugend exemplarisch darzustellen. Zudem ist zu klären, wie Sexualpädagog*innen das sexuelle Erfahrungslernen professionell begleiten können.

Methoden: Zwei empirische Forschungsarbeiten bringen die Perspektiven der Jugendlichen und der Fachkräfte auf sexuelle Bildungsarbeit zusammen. Biografisch-narrative Interviews illustrieren Sexualität als biografischen Lernprozess, indem mehr oder weniger transformierte Sicht- und Handlungsweisen analysiert werden. Mittels einer schriftlichen Befragung unter sexualpädagogischen Expert*innen wurde deren Professionalitätsverständnis ausgewertet.

Ergebnisse: Die Ergebnisse liefern Einblicke in krisendurchwachsene sexuelle Bildungsbiografien und deren herausfordernde Komplexität für Jugendliche. Um sexuelle Kompetenzen zu erlangen, fehlen vielfach anregende Impulse. Wer sexuelle Bildung professionell begleitet, muss zwingend über sexuelle Kompetenzen verfügen. Die Verwobenheit von Sexualität mit Selbstreflexions-, Interaktions- und Sachkompetenz wird in der Expert*innenbefragung deutlich.

Schlussfolgerung: Im Zusammenschluss liefern diese Forschungsergebnisse einen konstruktiven Impuls, Sexualität und Partnerschaft in der Jugend als hochindividuellen Lernprozess zu begreifen, der in pädagogischen Bildungssettings begleitet werden kann.

Abstract

Introduction: For adolescents, sexuality is a core learning area. It brings with it challenging developmental tasks and thus requires particular pedagogical attention.

Objectives: The aim of this article is to discuss young people’s sexual learning processes in relation to the theory of ‘transformational education’. In addition, it explores how sex educators can support young people in these learning processes.

Methods: Two different empirical research projects present these perspectives: First, young people’s experiences are illustrated by means of extracts from biographical narrative interviews. In order to demonstrate that sexuality is a biographical learning process, excerpts have been chosen that show different levels of transformed views and behaviour. Secondly, results from a written survey conducted amongst sex education experts are presented and used in order to analyse their understanding of professionalism.

Results: These studies provide insight into crisis-ridden, complex, and challenging sexual learning biographies. Those pedagogical impulses necessary for obtaining aspects of sexual competence are often lacking. Furthermore, in order to foster adolescents’ psychosexual development professionally, it is necessary to be sexually competent oneself: as the survey shows, for sex educators the professional skills of self-reflection, social interaction, and expertise are interwoven with issues of sexuality.

Conclusion: These research findings provide a constructive impulse for perceiving sexuality and partnership in young people as a highly individualised learning process that can be strengthened and supported in different pedagogical settings.

 
  • Literatur

  • 1 Albert M, Hurrelmann K, Quenzel G. et al. Jugend 2015. 17. Shell Jugendstudie. Frankfurt/M.: Fischer; 2015
  • 2 AMYNA e.V. – GrenzwertICH. Hrsg. „War doch nur Spaß…“?. Sexuelle Übergriffe durch Jugendliche verhindern. München: AMYNA e. V.; 2014
  • 3 Bittner M. Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Frankfurt: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft; 2011
  • 4 Blumenthal SF. Scham in der schulischen Sexualaufklärung. Eine pädagogische Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Wiesbaden: Springer; 2014
  • 5 Bock K, Otto HU. Die Kinder- und Jugendhilfe als Ort flexibler Bildung. In: Harring M, Rohlfs K, Palentien C. Hrsg. Perspektiven der Bildung. Kinder und Jugendliche in formellen, nicht-formellen und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2007: 203-217
  • 6 Bode H, Heßling A. Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativen Wiederholungsbefragung. Köln: BZgA; 2015
  • 7 Böhnisch L. Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. 6., überarb. Aufl.. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2012
  • 8 Brückner M. Wege aus der Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Eine Einführung. 2., aktualisierte Aufl.. Frankfurt/M.: Fachhochschulverlag; 2002
  • 9 Bryant J, Schonfield T. Feminine Sexual Subjectivities: Bodies, Agency and Life History. Sexualities 2007; 10: 321-340
  • 10 Burren S, Schlegel F, Rüefli M. Geschlecht in schulischen Lehrplänen – Massnahmen für einen geschlechtergerechten Unterricht. Eine Bestandsaufnahme zur Schweiz und Erfahrungen aus dem europäischen Ausland. Brugg-Windisch: PH FHNW; 2015
  • 11 Calmbach M, Borgstedt S, Borchard I. et al. Wie ticken Jugendliche 2016?. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Wiesbaden: Springer; 2016
  • 12 Dannenbeck C, Stich J. Sexuelle Erfahrungen im Jugendalter. Aushandlungsprozesse im Geschlechterverhältnis. Eine qualitative Studie im Auftrag der BZgA. Köln: BZgA; 2002
  • 13 Dohmen G. Das informelle Lernen. Die internationale Erschließung einer bisher vernachlässigten Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller. Bonn: BMBF; 2001
  • 14 Erpenbeck J, Weinberg J. Bildung oder Kompetenz – eine Scheinalternative?. REPORT 2004; 27: 69-76
  • 15 Fleer B, Klein-Heßling J, Hassebrauck M. Konzepte der Qualität von Paarbeziehungen im Jugendalter. Z Entwicklungspsychol Paedagog Psychol 2002; 34: 21-29
  • 16 Henningsen A. Professionalität und Zuständigkeit sexualpädagogischer Expert_innen. In: Henningsen A, Tuider E, Timmermanns S. Hrsg. Sexualpädagogik kontrovers. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2016: 46-68
  • 17 Henningsen A, Beck M. Krise als Chance. Partnerschaftliche und sexuelle Lernprozesse im Jugendalter. Sexuologie 2016; 23: 147-154
  • 18 Henningsen A, List I. Zwischen Einfühlung, Meidung und Kontrolle. Zum kollektiven Umgang mit Sexualität in pädagogischen Institutionen. In: Dekker A, Henningsen A, Retkowski A. et al., Hrsg. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten. Wiesbaden: Springer VS; im Druck
  • 19 Henningsen A, Mantey D. Sexualpädagogik verletzt Grenzen? Sexualpädagogik wahrt Grenzen!. Forum Erziehungshilfen 2015; 21: 85-88
  • 20 Henningsen A, Tuider E, Timmermanns S. Hrsg. Sexualpädagogik kontrovers. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2016
  • 21 Hilgers A. Richtlinien und Lehrpläne zur Sexualerziehung. Eine Analyse der Inhalte, Normen, Werte und Methoden zur Sexualaufklärung in den sechzehn Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Köln: BZgA; 2004
  • 22 Hoffmann M. Schulische Sexualerziehung: Deutungsmuster von Lehrenden. Opladen: Barbara Budrich; 2016
  • 23 Holzkamp K. Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/M.: Campus; 1995
  • 24 Kahle AK. Sexualität und Vielfalt – Muss man Sexualität lernen?. In: Henningsen A, Tuider E, Timmermanns S. Hrsg. Sexualpädagogik kontrovers. 1. Aufl.. Weinheim: Beltz Juventa; 2016: 89-104
  • 25 Klein A, Tuider E. Hrsg. Sexualität und Soziale Arbeit. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren; 2017
  • 26 Koller HC. Anders werden. Zur Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse. In: Breinbauer IM, Weiß G. Hrsg. Orte des Empirischen in der Bildungstheorie. Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft II. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2011: 108-123
  • 27 Koller HC. Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer; 2012
  • 28 Marotzki W. Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien Verlag; 1990
  • 29 Nohl AM. Bildung und Spontaneität. Phasen biografischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern. Empirische Rekonstruktion und pragmatische Reflexion. Opladen: Barbara Budrich; 2006
  • 30 Orth H. Schlüsselqualifikationen an deutschen Hochschulen. Konzepte, Standpunkte und Perspektiven. Neuwied: Luchterhand; 1999
  • 31 Piaget J. Meine Theorie der geistigen Entwicklung. Weinheim: Beltz; 2016
  • 32 Raithel J. Jugendliches Risikoverhalten. Eine Einführung. 1. Aufl.. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2004
  • 33 Schmerl C, Soine S, Stein-Hilbers M. et al., Hrsg. Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften. Opladen: Leske + Budrich; 2000
  • 34 Schütze F. Biographieforschung und narratives Interview. Neue Praxis 1983; 13: 283-293
  • 35 Semper R. Sexualpädagogische Beratung. In: Schmidt RB, Sielert U. Hrsg. Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. 2. Aufl.. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2013: 655-569
  • 36 Sielert U. Einführung in die Sexualpädagogik. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl.. Weinheim: Beltz; 2015
  • 37 Strauss AL, Corbin JM. Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Unveränd. Nachdr. der letzten Aufl. Weinheim: Beltz; 1996
  • 38 Tiefel S. Kodierung nach der Grounded Theory lern- und bildungstheoretisch modifiziert: Kodierungsleitlinien für die Analyse biographischen Lernens. Zeitschrift für qualitative Bildungs-,. Beratungs- und Sozialforschung 2005; 6: 65-84
  • 39 Valtl K. Sexuelle Bildung: Neues Paradigma einer Sexualpädagogik für alle Lebensalter. In: Schmidt RB, Sielert U. Hrsg. Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim, Basel: Beltz; 2013: 125-140
  • 40 Wendt EV. Sexualität und Bindung. Qualität und Motivation sexueller Paarbeziehungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Weinheim, München: Beltz Juventa; 2009