Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement 2018; 23(03): 150-151
DOI: 10.1055/a-0634-0137
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizin und Ökonomie

Medical Science and Economics
Reinhard P. T. Rychlik
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Publication Date:
26 June 2018 (online)

Seit den frühen 90er Jahren hat die Gesundheitsökonomie in Deutschland Fahrt aufgenommen. Dies betrifft nahezu alle Institutionen und Instanzen. Während die gesetzlichen Krankenversicherungen u. a. auf der Basis des Sozialgesetzbuches V immer zu wirtschaftlichen Überlegungen aufgerufen waren, wurden im ambulanten und stationären Sektor mit DRGs und Nutzenbewertung erst später Werkzeuge implementiert. Dabei weicht Deutschland erheblich von anderen EU-Ländern ab.

Unter dem Hinweis, dass es einen internationalen Maßstab nicht gäbe, geht Deutschland seinen eigenen „teutonischen Weg“ in der Erstattung von Gesundheitsleistungen. Die international übliche Kosten-Effektivitätsanalyse wird in Deutschland kaum angewandt. Stattdessen ordnet man Preise Tagestherapieeinheiten zu und bemüht maximal Budget Impact Analysen. Inkrementelle und intangible Kostenberechnungen werden abgelehnt. Lebensqualität als Endpunkt wurde über ein Jahrzehnt komplett verworfen, die Einheit QALY politisch und kalkulatorisch nicht akzeptiert.

Dennoch wurden in den zurückliegenden Jahren gesundheitsökonomische Instanzen geschaffen: es entstanden neue Lehrstühle an deutschen Universitäten und neue Fachhochschulen widmeten sich zunehmend diesem Thema.

In den 90er Jahren entstand die bisher einzige deutschsprachige Fachzeitschrift „Gesundheitsökonomie & Qualitätsmanagement“. In den frühen 2000er Jahren wurde Gesundheitsökonomie zum Prüfungsfach im 1. Staatsexamen der humanmedizinischen Ausbildung. 2008 wurde die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (DGGÖ) ins Leben gerufen, mit heute fast 1.000 Mitgliedern. Gesundheitsökonomie wird längst nicht mehr als akademisches Fach begriffen, sondern als anwendungsorientiertes Instrument zur Festlegung der Rahmenbedingungen im deutschen Gesundheitswesen.

Davon unabhängig hat sich eine Nutzenbewertung etabliert, die den Versorger, aber vor allem den Patienten, mit einbezieht. Dieser evaluiert den Nutzen jedoch nicht, sondern politische Instanzen. Ohne Gegenüberstellung der ökonomischen Konsequenzen entsteht so kein Preis-Leistungsverhältnis, das der Bürger jedoch im Alltag kennt und nutzt (z. B. Stiftung Warentest). Besonderen Auftrieb bekommt diese Situation als Moral Hazard derzeit durch die Digitalisierung und den permanent wachsenden App Markt.

Es erscheint deshalb wichtig, auch im Sinne internationaler Vergleichbarkeit, den Status quo der deutschen Gesundheitsökonomie zu hinterfragen und Anregungen zur Weiterentwicklung zu geben.

Dabei muss natürlich die unterschiedliche Wissenschaftsgenese von Medizin und Gesundheitsökonomie bedacht werden. Beide benötigen sich gegenseitig nicht und vereinigen auch keine Paradigmen.

Der Anwender der Medizin, der Arzt, ist seit Jahrtausenden im „Geschäft“. Er versteht sich als Heiler und Lebensretter. Dieses Selbstverständnis ist für die Gesundheitsökonomie nur schwer nachvollziehbar, obwohl sie auch den monetären Wert des Lebens berechnen kann.

Die Medizin entzieht sich quasi der Ökonomie. Sie benötigt sie nicht. Erst durch den gesellschaftlichen Stellenwert und die Einrichtung einer Solidargemeinschaft entsteht der Kostenbegriff. Von wem und wie sich die Medizin messen lässt, entscheidet die Medizin. Nur die Verstaatlichung bürdet der Medizin die Kontrolle auf, die den Wunsch nach Anerkennung als Naturwissenschaft noch überholt.

Dazu kommen ärztliches Können und ärztliche Kunst, die nahezu komplett der Regulierung unterworfen wurden: man stelle sich den Arzt als Künstler, wie einen Schauspieler, Sänger oder Sportler vor. Eine Gage müsste er erhalten, statt eine EBM Ziffer abzurechnen und Kosteneffizienz nachzuweisen. Auch wenn die Gesundheitsökonomie weit über die Medizin hinausgeht, müssen beide Disziplinen miteinander leben können. Erforderlich hierzu sind

  • gegenseitige Toleranz und Akzeptanz,

  • vergleichbare Werteschemata,

  • Informationsaustausch,

  • Teamgeist und Netzwerkbildung.

Chancen und Schnittpunkte sind nach wie vor unsere Versorgung und deren zunehmende Digitalisierung (z. B. Apps). Für beide sind Medizin und Gesundheitsökonomie unabdingbar. Die „Durchökonomisierung der Medizin“ wird es also nicht sein, sondern eher das angelsächsische Selbstverständnis, dass auch Medizin Kosten generiert. Hierzu äußern sich Mathias Graf v. d. Schulenburg und Reiner Leidl übersichtlich, präzise und wohlwollend und beschreiben so Möglichkeiten der Vereinbarkeit.

Prof. Dr. Dr. Reinhard P. T. Rychlik