physioscience 2018; 14(03): 101-102
DOI: 10.1055/a-0658-0166
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Einsatz von Fragebogen in der Praxis

Sven Karstens
,
Slavko Rogan
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Publication Date:
11 September 2018 (online)

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Prof. Dr. Sven Karstens, Herausgeber physioscience
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Prof. Dr. Slavko Rogan Herausgeber physioscience

Der Einsatz von Fragebogen bietet die Möglichkeit, die subjektive Einschätzung der Patienten zu ihrem Gesundheitszustand zu objektivieren. Einem so gewonnenen Ergebnis Bedeutung beizumessen, war nicht immer selbstverständlich. Der Schwenk hin zu diesem Ansatz ist mit der Veränderung unserer von einer biomedizinischen hin zu einer stärker biopsychosozialen Betrachtung von Gesundheit verbunden [1]. Entsprechende Fragebogen fanden zunächst Einzug in der Forschung. Die Anwendung in der Praxis wurde beispielsweise 2006 in Deutschland im „Handbuch Standardisierte Ergebnismessung in der Physiotherapie-Praxis“ postuliert [2] und schon zuvor in der Schweiz durch die „Interessengemeinschaft Physiotherapie Rehabilitation“ [3] gefördert. Eine Stärke besteht darin, dass häufig umfassende Studien zu den Messeigenschaften vorliegen. Der Einsatz von Fragebogen in der Praxis wird dennoch bis heute kontrovers diskutiert [4].

Konkret eingesetzt werden können sie, um zu überprüfen (Evaluation), zu unterscheiden (Diskrimination) oder Vorhersagen zu treffen (Prädiktion; [5]). Die Anwendung von Fragebogen zur Überprüfung des Verlaufs harmoniert mit Forderungen, die Erreichung von Therapiezielen valide sichtbar zu machen. Das „M“ (für measurable/messbar) im häufig zur Formulierung von konkreten Therapiezielen verwendeten SMART-Akronym drückt diese Forderung entsprechend aus. Darüber hinaus bieten viele Fragebogen die Möglichkeit, einen Bereich der funktionalen Gesundheit der Patienten zu erfassen, der sich mit klassisch funktionsorientierten Verfahren nicht erreichen lässt: die Teilhabe. Therapieberichte werden durch die Berücksichtigung entsprechender Informationen gestärkt. Besonders jung ist das Vorgehen, Fragebogen in der Physiotherapie für prognostische Zwecke einzusetzen und die Therapie auf dieser Grundlage zu steuern [6].

Als Argumente gegen den Einsatz von Fragebogen führen Praktiker unter anderem die Bearbeitungszeit an. Dies gilt für die Zeit, die die Patienten zum Ausfüllen benötigen, wie auch für den Aufwand, der mit der Ausgabe an die Patienten bzw. die Auswertung verbunden ist [4] [7] [8]. Zudem wird hinterfragt, ob sich die Anwendung von Fragebogen ungünstig auf die Kommunikation mit den Patienten auswirkt. Andere sehen demgegenüber gerade Potenzial für eine verbesserte Interaktion mit den Patienten. Bearbeitete Fragebogen können als Ausgangspunkt für die Anamnese genutzt werden. Die transparente Darlegung des Behandlungsverlaufs gegenüber den Patienten kann deren Motivation fördern [4] [7] [9]. Eine solche Einbindung der Instrumente kann sich positiv auf die Akzeptanz seitens der Patienten auswirken.

Die Anpassung von Strukturen und Prozessen in der Praxis, wie z. B. die Steigerung der Verfügbarkeit von Instrumenten oder die einen entsprechenden Vorlauf berücksichtigende Terminvergabe birgt Chancen. Sie ermöglicht es, dem Einsatz von Fragebogen entgegenstehende Barrieren abzubauen. Wird in der Praxis ein Standardset an Fragebogen genutzt, kann darauf geachtet werden, dass immer ausreichend Ausdrucke vorhanden sind. Das Auswertungsprozedere für die Fragebogen wäre bekannt und könnte routiniert erfolgen.

Weiteres Potenzial könnte zukünftig die Einführung neuer Medien in den Praxen, wie z. B. Tablets mitbringen. Liegt eine elektronische Version des Fragebogensets vor, ist eine Vervielfältigung überflüssig und das Auswertungsprozedere kann automatisiert werden [7]. Zugleich sind aber die Stabilität der Systeme und Datenschutzfragen zu klären.

Die Diskussion um den Einsatz von Fragebogen wird in den kommenden Jahren weiter geführt werden. Dies ist wichtig, um die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen. Praktiker sollten außerdem Erfahrungen in der Arbeit mit Fragebogen sammeln. Dabei ist die Balance zwischen den Patienten mit ihren Bedürfnissen, den Therapeuten mit ihren Kompetenzen und Vorstellungen wie auch den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu finden. Vor diesem Hintergrund gilt, dass der Einsatz eines Fragebogens in einer Situation wenig sinnvoll und in einer anderen Situation sehr sinnvoll sein kann. Wissenschaftler sollten die Erfahrungen aus der Praxis abholen, um die Einsatzbereiche noch besser zu beschreiben und um Ansätze zu entwickeln, die Anwendbarkeit von Fragebogen weiter zu fördern.

Wir freuen uns darauf, mit der physioscience auch weiterhin einen Beitrag zu diesem Diskurs zu leisten.

 
  • Literatur

  • 1 Callahan LF. The History of Patient-Reported Outcomes in Rheumatology. Rheum Dis Clin North Am 2016; 42: 205-217
  • 2 Physio-Akademie Handbuch: Standardisierte Ergebnismessung in der Physiotherapie-Praxis. Wremen: Bildungswerk Physio-Akademie; 2006
  • 3 Interessengemeinschaft Physiotherapie Rehabilitation (IGPTR). www.igptr.ch (16.06.2018)
  • 4 Östhols S, Boström C, Rasmussen-Barr E. Clinical assessment and patient-reported outcome measures in low-back pain – a survey among primary health care physiotherapists. Disabil Rehabil 2018; 9: 1-9
  • 5 Köhler K, Steier-Mecklenburg F, Adam P. et al. Arbeitstherapie und Arbeitsrehabilitation – Arbeitsfelder der Ergotherapie. Stuttgart: Thieme; 2011
  • 6 Foster NE, Hill JC, O’Sullivan P. et al. Stratified models of care. Best Pract Res Clin Rheumatol 2013; 27: 649-661
  • 7 Karstens S, Joos S, Hill JC. et al. General Practitioners’ Views of Implementing a Stratified Treatment Approach for Low Back Pain in Germany: A Qualitative Study. PLoS One 2015; 10: e0136119
  • 8 Jette DU, Halbert J, Iverson C. et al. Use of standardized outcome measures in physical therapist practice: perceptions and applications. Phys Ther 2009; 89: 125-135
  • 9 Karstens S, Kuithan P, Joos S. et al. Physiotherapists’ views of implementing a stratified treatment approach for patients with low back pain in Germany: a qualitative study. BMC Health Services Research 2018; 18: 214