Z Sex Forsch 2018; 31(04): 357-378
DOI: 10.1055/a-0759-4770
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sexualität der Vielfalt? Eine empirische Untersuchung niedersächsischer Biologiebücher

The Sexuality of Diversity? An Empirical Investigation of Biology Schoolbooks in Lower Saxony
Stephanie Leitz
a   Queeres Zentrum Göttingen
,
Jörg Signerski-Krieger
b   Ambulanz für Sexualmedizin und Sexualtherapie, Universitätsmedizin Göttingen
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Publication History

Publication Date:
11 December 2018 (online)

Zusammenfassung

Einleitung: Der Landtagsbeschluss in Niedersachsen vom 15.12.2014 fordert, Schule müsse bei der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten (Homo-, Bi-, Trans- und Intersexualität) berücksichtigen. Die Schulbuchverlage wurden aufgefordert, die Schulbücher für das Land Niedersachen dieser Zielsetzung folgend zu überarbeiten.

Forschungsziele: Ziel der vorliegenden Studie war es, die Umsetzung der veränderten Anforderungen exemplarisch anhand von zwei Schulbuchreihen des Faches Biologie zu analysieren.

Methoden: Die Schulbücher wurden anhand einer strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach [Mayring (2002)] untersucht und verglichen.

Ergebnisse: Es konnte gezeigt werden, dass die Umsetzung der Beschlüsse des Niedersächsischen Landtags partiell erfolgt ist. Eine Unterstützung von Jugendlichen in der Entwicklung ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität findet teilweise statt, jedoch sind die Ergebnisse qualitativ sehr unterschiedlich: Während die Schulbuchtexte in Bezug auf verschiedene Formen sexueller Orientierung zunehmend inklusiver verfasst wurden, ist die Darstellung von Intergeschlechtlichkeit und Transidentität in den beiden untersuchten aktuellen Schulbüchern knapp gehalten, teilweise fehlerhaft oder steht im Widerspruch zu anderen Teilen der Schulbuchtexte.

Schlussfolgerung: Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Vielfalt sexueller und geschlechtlicher Identitäten bisher in Schulbüchern nur unzureichend abgebildet ist.

Abstract

Introduction: A decree issued on the 15th of December 2014 by the German state parliament of Lower Saxony demands that schools take into consideration the diversity of sexual and gender identities (i. e. homosexuality, bisexuality, transsexuality and intersexuality) while supporting the personal development of children and adolescents. School publishing houses have been asked to adapt schoolbooks for Lower Saxony accordingly.

Objectives: The aim of the present study was to examine how this new legislation was implemented in two schoolbook series for teaching biology.

Methods: The schoolbooks were examined and compared by means of structure-giving qualitative content analysis.

Results: The results show that parts of the decree in Lower Saxony have been implemented. It appears that adolescents are in part supported in their sexual and gender development, but the results differ in terms of quality: the two book series showed a shift towards inclusion regarding sexual orientation, however, intersexuality and trans identity are represented only in brief, in part inaccurately and in conflict with other parts of the books.

Conclusion: The results indicate that so far the diversity of sexuality and gender is insufficiently represented in school textbooks.

 
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