Zeitschrift für Palliativmedizin 2019; 20(03): 93-94
DOI: 10.1055/a-0854-2549
Editorial
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Der Erfolg der Palliativmedizin – oder die Institutionalisierung des Subversiven

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Publication Date:
03 May 2019 (online)

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Prof. Giovanni Maio

Die Präsidentschaft Müller-Busch steht im Zeichen einer immer breiteren gesellschaftlichen Akzeptanz der Palliativmedizin, die sich in einer sichtbaren Institutionalisierung niederschlägt. Die Palliativmedizin ist in foudroyantem Tempo in den Institutionen angekommen, in Gesetze wurde sie gegossen, gar zum Pflichtfach wurde sie gemacht. Man kann der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin stellvertretend für alle im palliativen und hospizlichen Feld tätigen Menschen nur gratulieren zu diesem Siegeszug.

Der Erfolg der Palliativmedizin ergibt sich daraus, dass sie Antworten gab auf Fragen, die die Medizin bis dahin noch gar nicht gestellt hatte. Und sie beschritt durch ihre Antworten neue Wege, die die sonstige Medizin bislang nicht zu gehen gewagt, ja nicht einmal zu gehen erdacht hatte. Die Palliativmedizin hat einen Siegeszug angetreten, weil sie mutig war. Sie war mutig, das bisher Übliche zu hinterfragen und es auf den Kopf zu stellen. Nicht mehr nur das Heilen, sondern auch das Begleiten wurde zur identitätsstiftenden Aufgabe der Medizin erklärt. Nicht mehr nur das Retten von Leben, sondern das Umsorgen im Sterben wurde zum Zielpunkt einer modernen Medizin gemacht. Nicht mehr nur die technisch-instrumentelle Herangehensweise, sondern das zwischenmenschlich zugewandte Dasein für den anderen wurde als Leistung der Medizin herausgestellt. Nicht mehr nur der messbare verobjektivierte Mensch wurde zum Angelpunkt, sondern seine nicht klassifizierbare subjektive Befindlichkeit zur zentralen Handlungsausrichtung gemacht. Nicht mehr nur die ärztliche Deutungsmacht, sondern das Zusammenspiel aller Professionen, mitsamt dem Ehrenamt wurde zur Arbeitsmaxime erwählt. Nicht mehr nur der Patient als Einzelwesen, sondern er inmitten seines gesamten Umfeldes wurde zum Adressaten erklärt. In all diesen – nur exemplarisch herausgegriffenen – Bereichen war die Palliativmedizin revolutionär, weil sie damit ein eklatantes Defizit der Medizin erkannt und systematisch bekämpft hat. Das Sterbenlassen als Könnerschaft, das Seinlassen als Leistung, das Dasein als gekonnte Hilfe, das Integrative als Grundcredo, diese Gesamtheit hat einfach überzeugt.

Mit ihrem Ansatz war die Palliativmedizin nicht nur revolutionär, sondern sie war zugleich subversiv, ja sie war zuweilen gar eine Provokation für das mechanistisch denkende Sonst der Medizin. Der subversive Charakter ihres Denkens und Tuns hat sie zu dem gemacht, was sie ist: ein neues Paradigma der Medizin, von dem die gesamte Medizin viel lernen kann.

Was wird aber aus dem subversiven Kern werden, wenn die Palliativmedizin nun vom Rande in die Mitte der Institutionen rückt? Durch das Angekommensein in den Institutionen wird die Palliativmedizin nolens volens dazu gedrängt werden, sich dem Mainstream zu beugen, denn nun selbst eine Institution ist sie Teil des Mainstreams. Der neue Mainstream der modernen Gesundheitspolitik aber geht wieder weg von der Ganzheit, für die die Palliativmedizin so überzeugend stand und die sie vorgelebt hat. Der Mainstream geht zurück zur Kleinteiligkeit, zum Taylorismus, zur Zerstückelung der Ziele und Abläufe. Der Mainstream geht zurück zur Numerisierung der Wirklichkeit, zur Auratisierung der Zahl unter umso radikalerer Ausblendung des lebensweltlichen, weil nicht messbaren Kontextes. Der Mainstream geht zurück zur Bezahlung nach Eingriff und nicht nach Begleiten. Er geht zurück zur Ignorierung der Subjektivität und Individualität zugunsten einer politisch verordneten Diktatur der Stromlinienförmigkeit. Der Mainstream geht zurück zur Schematisierung, zurück zur Maschinisierung des Handelns und zur Algorithmisierung des Denkens. Gefangen in diesem Mainstream befindet sich die moderne Medizin in einer Situation, in der sie ein palliativmedizinisches Denkkorrektiv dringender braucht denn je.

Aber nicht nur die Medizin, sondern auch und vor allem die Gesellschaft braucht das Signal, das von der Palliativmedizin ausgeht. Die Chance ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und ihres Arriviertseins liegt darin, dass die Palliativmedizin umso wirkungsvoller für die nicht nur äußeren, sondern vor allem inneren Bedürfnisse der schwerkranken Menschen sensibilisieren kann. Die gesellschaftliche Chance der Palliativmedizin liegt darin, dass sie den angewiesenen Menschen in das Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit rückt und allein durch ihre Existenz schon signalisiert, dass das Angewiesensein auf Hilfe kein Defizit ist, sondern Normalität. Auch darin ist sie subversiv. Das gesellschaftliche Signal, das von der Palliativmedizin ausgeht ist von so unschätzbarem Wert, weil sie der Gesellschaft vorlebt, dass der schwerkranke Mensch sich nicht ausgeliefert fühlen braucht, sondern dass es viele Wege gibt, bis zuletzt Gestalter des eigenen Lebens zu bleiben. Vor allem aber signalisiert die Palliativmedizin, dass jeder Mensch auch in seiner größten Hinfälligkeit nichts von seiner Bedeutung für andere verliert. Insofern stellt die Palliativmedizin ein unverzichtbares Signal dar, das nicht nur die Medizin, sondern unsere Gesellschaft dringender braucht denn je.

Angekommen ist die Palliativmedizin in den Institutionen, und das ist ein großer Erfolg, aber ob sie tatsächlich ein Erfolg sein wird, wird man erst in der Zukunft erkennen können, denn die Zukunft erst wird es zeigen, ob die Palliativmedizin auch als Institution ihren subversiven Zielen treu geblieben sein wird. Die Treue zu ihrer eigenen Identität, das wird der Gradmesser ihres Erfolges sein. Nun gilt es, den institutionellen Erfolg und die damit erhaltene Macht dazu zu nutzen, sie in den Dienst des Subversiven zu stellen. Der Gedanke der Palliativmedizin hat es verdient, dass die Institution Palliativmedizin darin Erfolg hat. Ich wünsche den zukünftigen Streitern für die wunderbare Idee der Palliativmedizin die innere Stärke, sich nicht beirren zu lassen und der Sogwirkung des gegenwärtigen Mainstreams zu widerstehen, damit ein schönes Vermächtnis bewahrt bleibt, im Interesse des schwerkranken Menschen.

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Prof. Giovanni Maio