Der Klinikarzt 2019; 48(06): 217-218
DOI: 10.1055/a-0901-6102
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Klasse statt Masse

Günther J. Wiedemann
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Publication Date:
17 July 2019 (online)

"I skate to where the puck is going to be, not to where it has been."

(Wayne Gretzky, kanadischer Eishockeyspieler)

Man liest jetzt häufig vom „Krankenhaussterben“. Das klingt so negativ, wie es in der Berichterstattung auch gemeint ist. Aber liegt nicht in dieser Entwicklung die einzige Chance, die existierenden und in Zukunft anstehenden Probleme der stationären Versorgung in den Griff zu bekommen, so zum Beispiel den notorischen Personalmangel und die Herausforderungen einer Vergütung der Kliniken entsprechend bestimmter Qualitätsstandards (Pay for Performance)?

1991 gab es in Deutschland rund 2400 Krankenhäuser, 2017 waren es noch 1940. Die Zahl der Betten wurde in diesem Zeitraum um ein Viertel reduziert – und das, obwohl die Zahl der behandelten Fälle um ein Viertel stieg. Diese gegenläufigen Tendenzen schlagen sich in einer Verkürzung der Liegedauer von 13 auf 7 Tage nieder. Und doch: Im internationalen Vergleich hält man hierzulande eine geradezu luxuriöse Anzahl an Krankenhausbetten vor, 8 pro 1000 Einwohner – in Frankreich sind es 6, in der Schweiz 4,5 und in Dänemark nur 2,5.

Und das Erstaunliche ist: In den Ländern, die weniger Betten im Angebot haben, ist die Versorgung qualitativ nicht schlechter als bei uns – eher im Gegenteil. Woran das liegt? Zu einem guten Teil wohl daran, dass in Deutschland an Klein- und Kleinstkliniken festgehalten wird, um vermeintlich eine Versorgung in der Fläche sicherzustellen. Krankenhausschließungen sind ein Tabuthema für jeden Kommunalpolitiker und jeden Landrat, wenn er wiedergewählt werden möchte. Denn die Bevölkerung möchte kurze Weg zur nächsten Klinik, „falls mal was ist“. Nur: Wenn wirklich was ist, also eine gravierende akute Erkrankung oder ein schwerer Unfall, macht man sich sicherheitshalber doch auf den weiteren Weg ins nächste, gut ausgestattete Großklinikum, denn dort ist die Versorgung bekanntermaßen besser. Und das trifft auch auf Bürgermeister zu, die sich zuvor öffentlichkeitswirksam für den Erhalt ihrer lokalen 50-Betten Klinik eingesetzt haben.

Kleinere Klinken, die nicht mehr existenzfähig sind, schließen sich zu Verbünden zusammen oder werden größeren Häusern als „Portalkliniken“ (also Patientenbeschaffer) einverleibt. Dann sind mit dünner Personaldecke mehrere Standorte zu bespielen, was die betroffenen Ärzte und Ärztinnen häufig nicht lange mitmachen. Und aufgrund der geografischen Aufsplitterung der Standorte sind absurde Situationen vorstellbar: Was wäre zum Beispiel, wenn Schlaganfallpatienten einer kleinen „Portalklinik“ an einem nahe gelegenen Haus der Maximalversorgung und dessen Stroke Unit vorbeigekarrt würden, um sie im viel weiter entfernten Zentralklinikum des eigenen Verbundes behandeln zu lassen? Und das alles, um ein kleines Krankenhaus, das alleine weder fachlich noch wirtschaftlich überlebensfähig wäre, künstlich am Leben zu erhalten.

DER SPIEGEL analysierte die Situation, bezogen auf Niedersachsen, kürzlich in einem lesenswerten Artikel („Krankes System“, Heft 21/2019). Angesichts der gut ausgestatteten Dokumentationsabteilung dieser Zeitschrift, die seit dem Fall Claas Relotius sicher sorgfältiger arbeitet denn je, ist es wohl legitim, einige der Kernaussagen des Artikels ohne Nachrecherche zu übernehmen: Dort heißt es, dass im Großraum Kopenhagen 4 Kliniken annähernd gleich viele Patienten versorgen wie 25 Kliniken in München. Und doch sei die Wahrscheinlichkeit, in Dänemark an einem Herzinfarkt zu sterben, nur halb so hoch wie in Deutschland. Die Erklärung: Es gibt zwar weniger Kliniken, aber dafür einen deutlich besseren Personalschlüssel vor Ort. Das heißt: Der Patient muss vielleicht ein bisschen weiter fahren, bekommt dann aber eine adäquate Versorgung.

Ähnliche Effekte hat man ja schon früher beobachtet, z. B. beim Vergleich der Mütter- und Säuglingssterblichkeit in Schweden und Deutschland: Trotz relativ weniger zentralisierter Geburtszentren sind die Ergebnisse in Schweden deutlich besser (siehe auch: G. Wiedemann. Höhere Mathematik. klinikarzt 2018; 47: 185–185).

Kein Zweifel: Auch in kleinen Kliniken arbeitet motiviertes und gut ausgebildetes Personal. Doch in Zeiten, wo Stellen nicht mehr besetzt werden können, leidet besonders hier die Qualität der Versorgung. Hinzu kommt der bekannte Investitionsstau an deutschen Krankenhäusern, seitdem von den Trägern immer häufiger stillschweigend erwartet wird, dass erwirtschaftete Gelder aus der Krankenversorgung für Investitionen zweckentfremdet werden. Angesichts all dieser Gegebenheiten sollten wir Ärztinnen und Ärzte den längst fälligen Strukturwandel positiv begleiten. Ja sagen zu weniger, aber personell und apparativ besser ausgestatteten Krankenhäusern. Denn eines darf nicht passieren: Dass kleine Kliniken ersatzlos geschlossen werden. Das Personal, das dort frei wird, wird dringend an den größeren Häusern gebraucht.