Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(01/02): 37-43
DOI: 10.1055/a-0942-9514
Originalarbeit

Die zwei Quellen des Sinns: Eine Kritik der psychiatrischen Hermeneutik in Anknüpfung an Schleiermacher

The Two Sources of Meaning: A Critique of the Psychiatric Hermeneutic in Reference to Schleiermacher
Klaus Brücher
Ehemals Ärztlicher Direktor des AMEOS-Klinikum Dr. Heines, Bremen
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Einleitung Die psychiatrische Hermeneutik bedenkt einzig den subjektiven Sinn und übersieht damit eine ganze Sinndimension, den von Schleiermacher so genannten „grammatischen Sinn“, der autonom – gemäß den Regeln von Sprache und Sozialität – generiert wird.

Methode Am Leitfaden von drei Postulaten in Schleiermachers Hermeneutik wird die Problemstellung entfaltet: Dass zwei Sinndimensionen – subjektiver und grammatischer Sinn – angenommen werden müssen, diese strikt voneinander zu unterscheiden sind, gleichwohl nur in ihrem „Ineinandersein“ Verstehen gewährleisten. Wo Schleiermacher im Wesentlichen auf eine philologische Deutung der grammatischen Sinndimension verwiesen war, stehen uns fast 200 Jahre später Optionen zur Verfügung, die allererst das in dieser Dimension enthaltene Potenzial auszuschöpfen erlauben.

Schlussfolgerungen Wird Sinn als ein in der Interaktion Zug um Zug sich herstellendes Produkt begriffen, verändern sich die Perspektive und mit ihr die hergebrachten Auffassungen grundlegend: Bedeutung wird dann zwischen den Interaktanden generiert, mithin nicht in ihnen, weder in ihrer Seele noch in ihrem Gehirn.

Erst eine Konzeptualisierung, die das Medium von Sprache und Sozialität in seiner Eigengesetzlichkeit zum ersten Gegenstand des Verstehens macht, kann verständlich machen, was wir im Verstehen tatsächlich verstehen: Sinn – als die Art und Weise, wie ein Subjekt sich im Medium von Sprache und Sozialität selbst reproduziert.

Abstract

Introduction Psychiatric hermeneutic considers only the subjective meaning and thereby ignores an entire dimension of meaning, the so called ‘grammatical meaning’, a term coined by Schleiermacher, which is generated autonomously, according to the rules of language and sociality.

Method This problem will be developed on the basis of three postulates of Schleiermacher’s hermeneutics, namely that there are two given dimensions of meaning, subjective and grammatical, they have to be considered strictly separately, and nevertheless can only be grasped by their interconnectedness. Schleiermacher had to depend mostly on a philological interpretation of the grammatical dimension of meaning. After almost 200 years, we have methods available that allow us to exploit the true potential contained in this dimension.

Results If meaning is understood as a product that is created step by step in a process of interaction, the perspective and consequently the conventional notions change profoundly: Meaning is then generated between the interactants, not in them, neither in their psyche nor their brain.

Only a conceptualization that makes the medium of language and sociality the first object of understanding in its own lawfulness can enable an understanding of what it is that we actually understand while understanding: meaning - as the way in which a subject reproduces itself in the medium of language and sociality.



Publication History

Received: 25 October 2018

Accepted: 22 May 2019

Article published online:
27 March 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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