Neonatologie Scan 2020; 09(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-0966-6518
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sprechen Sie mit dem Frühgeborenen!

Axel Hübler
,
Roland Hentschel
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Publication Date:
27 February 2020 (online)

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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Frühgeborene werden durch die fehlende letzte Phase des intrauterinen Lebens bestimmten sensorischen Reizen zu früh ausgesetzt. Sie erleben dabei auf der neonatologischen Intensivstation sogar besonders „aggressive“ akustische und optische Reize. Vielleicht haben auch vielfältige olfaktorische und geschmackliche Sinneseindrücke einen negativen „Nachgeschmack“ auf Dauer. Von unvermeidlichen Schmerzreizen soll hier gar nicht erst die Rede sein, aber auch ein Wechsel von Hitze- und Kältereiz gehört zu den „unnatürlichen“ Erfahrungen, denen Frühgeborene ausgesetzt sind. Darüber hinaus sind auch taktile Reize, das Anfassen des Kindes, brüske passive Bewegungen von Stamm oder Extremitäten, dadurch entstehende Druckreize, ja alleine schon das Lagern unter den Bedingungen der ungebremsten Schwerkraft zu nennen – sie alle lassen sich als vermutlich unangenehme Empfindungen verbuchen, die dem Frühgeborenen bei einer ungestörten Schwangerschaft erspart geblieben wären. Ob sich das nachteilig auch auf das spätere Leben auswirkt, ist umstritten und im Einzelfall auch gar nicht nachweisbar.

Auf der anderen Seite steht – mindestens ebenso bedenklich – das Fehlen natürlicher Reize, die vermutlich die sensorische Integration fördern: das sanfte Schaukeln im Fruchtwasser bei Bewegungen der Mutter, das sensorische Afferenzen zum vestibulären System vermittelt; aber auch die Stimme der Mutter, die durch das Fruchtwasser gedämpft über viele Stunden des Tages zum Fetus durchdringt. All das fehlt bei einer zu frühen Geburt.

In den 1990er Jahren war es weit verbreitete Praxis, dem Fetus Musik via Kopfhörer über den Bauch der Schwangeren „vorzuspielen“. Dadurch sollte der Fetus beruhigt werden, und man versprach sich einen zusätzlichen positiven Effekt über eine Art Konditionierung mit später auslösbarem positivem Feedback-Mechanismus. Es herrschte gar das Gerücht, die Kinder würden dadurch eventuell besonders musikalisch oder sogar intelligenter! Die letztgenannten Effekte haben sich in Studien nicht belegen lassen – es gibt weder klügere Nachkommen noch neue Mozarts durch diese „Manipulation“.

Und doch ist die Stimme der Mutter ein wichtiger und offenbar positiver Stimulus, der den Fetus während der ganzen Schwangerschaft begleitet.

Seit Jahrzehnten ist es deshalb auf neonatologischen Intensivstationen Usus, dem Frühgeborenen zeitweise Tonaufnahmen mit der Stimme der eigenen Mutter, bzw. der Eltern, vorzuspielen – fürsorgliche Pflegekräfte sprechen auch während der Versorgungsrunden intensiv mit dem Neugeborenen, was viele unbedarfte Besucher erstaunt.

Zwei neue Studien, die in dieser Nummer von Neonatologie Scan unter der Rubrik „Sinnesentwicklung“ besprochen werden, belegen den Nutzen dieser „natürlichen Intervention“.

Eine Studie hat die Geräuschkulisse auf der Intensivstation qualitativ untersucht und Daten zu (erwünschten) positiven Geräuschstimuli, wie gesprochene Worte, aber auch zu unerwünschtem Lärm, wie akustischen Signalen, erhoben. Eine weitere Studie unterstreicht den Wert der mütterlichen Stimme, die sowohl akustische Belastungen auf der Intensivstation „neutralisieren“ kann, als auch das Schlafverhalten positiv beeinflusst. Eine dritte Studie belegt schließlich, dass das Vorspielen der Stimme der eigenen Mutter bei Frühgeborenen auf Intensivstationen tatsächlich zur Entwicklungsförderung praktiziert wird – mit einer Häufigkeit von 28 % möglicherweise aber noch zu selten.

Deshalb der Ratschlag an Eltern und das Personal der neonatologischen Intensivstationen: Sprechen Sie mit dem Frühgeborenen, es zahlt sich aus!

Ihre Herausgeber

Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Leiter des Funktionsbereichs Neonatologie/Intensivmedizin
Universitätsklinikum Freiburg

PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Klinikum Chemnitz gGmbH