Z Sex Forsch 2020; 33(01): 43-44
DOI: 10.1055/a-1102-6382
Nachruf

Sophinette Becker (15. Dezember 1950 – 24. Oktober 2019)

„Sexuelle Lust ist nie ganz harmlos“
Margret Hauch
1   Praxis für Psychotherapie und Supervision, Hamburg
,
Sabine Cassel-Bähr
2   Praxis für Psychoanalyse und Psychotherapie, Hamburg
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Dr. phil. Sophinette Becker. (Foto: Christina Kurz)

In dem vielfältigen Chor der Stimmen, die in aktuellen Debatten zu Geschlecht, Geschlechtsidentität(en), Feminismus und Sexualität zu hören sind, wird uns Sophinette Beckers ganz eigene, unverwechselbare Stimme zukünftig schmerzhaft fehlen. Ihre Rede hatte nichts „Verschwiemeltes“, sie hielt sich nicht im Vagen auf, sondern bezog Position. Ihr Denken war außerordentlich klar, hatte Biss und Schärfe, sie konnte Ignoranz und Plattitüden nicht ausstehen und durchaus polemisch werden. Aber sie machte sich auch selbst die Mühe, die Dinge zu durchdenken. Sie war eine unglaublich belesene Frau, nicht nur fachlich, sondern auch literarisch – übrigens auch, was gute Krimis anging –, sie hatte immer eine interessante Leseempfehlung parat. Sie war in Theorie und Haltung verwurzelt in der Frankfurter Schule und der Freud’schen Psychoanalyse; sie hatte ein radikales Verständnis vom Unbewussten, was sie gegen ideologische Fundamentalismen jeder Art gewissermaßen zu immunisieren schien.

Nach Abschluss ihres Psychologiestudiums in Frankfurt arbeitete Sophinette Becker zehn Jahre lang an der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg, bis sie 1989 an das Institut für Sexualwissenschaft der Frankfurter Universitätsklinik wechselte. Sie hatte damals schon zu politischen und psychosomatischen Themen publiziert und brachte fundierte einschlägige Erfahrungen zu sexualwissenschaftlichen Themen mit, u. a. zu HIV und Aids, auch als Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zu den Gefahren von Aids. Sie stieg schnell und intensiv in das neue Arbeitsfeld ein, beharrte jedoch darauf, sich als „Psychosomatikerin in der Sexualwissenschaft“ zu sehen. Dieser Blickwinkel war sicher einer ihrer wichtigen Beiträge im Feld, und es dauerte lange, bis sie es zuließ, auch als Sexualwissenschaftlerin bezeichnet zu werden, ohne vehement zu protestieren. Wie groß dabei ihr Engagement war, lässt sich auch daran ablesen, dass sie 2006, im Alter von 56 Jahren, mit der Studie „Zur Unordnung der Geschlechter“ in Hannover promovierte, sodass sie die formalen Voraussetzungen dafür erfüllte, die Sexualmedizinische Ambulanz nach der Schließung des Frankfurter Instituts fortzuführen, was ihr über mehrere Jahre auch gelang.

Sie engagierte sich in der psychotherapeutischen Behandlung von – meist schwierigen – Patient*innen mit sexuellen Problemen und reflektierte diese Erfahrungen intensiv in ihren theoretischen Konzepten. Sie wurde in wichtige Gremien im sexualwissenschaftlichen Feld berufen oder gewählt, unter anderem in die Herausgeberschaft der „Zeitschrift für Sexualforschung“, mehrfach in den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS); sie war federführend in der Kommission zur Erstellung von Leitlinien zur Behandlung Transsexueller in den 1990er-Jahren und Gründungsmitglied des Fort- und Weiterbildungsausschusses der DGfS, wo sie sich mit Kreativität und Energie für die Etablierung der klinischen Tagungen der Fachgesellschaft einsetzte, und war Mitherausgeberin des Tagungsbandes „Sex, Lügen und Internet“. Die Vermittlung sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse an Praktiker*innen war ihr ein Herzensthema.

Schnell hatte sich das Thema Transsexualität zu einem ihrer zentralen Arbeitsfelder entwickelt, sie hat dazu viele wegweisende Artikel publiziert. Becker beschäftigte dabei vor allem die Frage, wie und inwieweit, angesichts der Vielfalt der Erscheinungsformen und des ständigen gesellschaftlichen Wandels, angemessene professionelle Unterstützung möglich und notwendig sei. Weit davon entfernt, essentialistisch oder biologistisch zu denken, hielt sie daran fest, dass der Körper auch dann eine prägende Rolle spielt, wenn seine Grenzen in der Fantasie permanent überschritten werden. Sie blieb dabei: „Wir sind nicht fluide“. Noch im August 2019 stellte sich Becker mit dem Diskussionsbeitrag „You can always get what you want – Psychoanalyse in neoliberalen Zeiten“ in der Zeitschrift „Psyche“ gegen einen „queeren Hype“, der nun auch die Psychoanalyse erfasst zu haben schien. In bester psychoanalytischer Tradition verweist sie darauf, wie Überschreitungen in der Fantasie und im Unbewussten vermengt werden können mit Überschreitungen in der Realität, wie Omnipotenzfantasien und ideologisches Denken den klaren klinischen Blick vernebeln und weiteres Leid für Patient*innen bedeuten können. Sie bezieht noch einmal sexual- und versorgungspolitisch Stellung und fordert – wie bereits 2011 bei einer Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung –, „dass Psychoanalytiker sich mehr mit transidenten Patienten befassen und sie nicht gleich wegschicken“. In dem eben erwähnten Beitrag in der „Psyche“ stellt sie nicht ohne Bitterkeit fest, dass dort „20 Jahre lang kein Beitrag zu Transidentität/Transsexualität publiziert worden war“. Sie greift hier erneut die besondere körperliche Ausstattung und Erfahrung der Frau im Hinblick auf die Reproduktion auf und brandmarkt deren Ausblendung als „latent misogyn“.

Auch in Beckers Verständnis der „weiblichen Perversion“, das sie in Anlehnung an Estella Welldons Konzept entwickelt hat, spielen die körperlichen Erfahrungen von Frauen, insbesondere ihre reproduktiven Möglichkeiten von Schwangerschaft, Geburt und Stillen, eine große Rolle. Welldon hatte 1984 in ihrem Buch „Mutter, Madonna, Hure“ viele Beispiele von massiver sexualisierter Gewalt, die von Frauen gegen Kinder und den eigenen Körper gerichtet wurden, beschrieben – und nannte dies „weibliche Perversion“. Becker erkannte rasch die enorme Bedeutung dieser Ideen und entwickelte sie – auf der Basis ihrer eigenen sexualtherapeutischen Erfahrung – weiter zu einem Konzept, das sie in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen darlegte. Schließlich sorgte sie auch dafür, dass Welldons Buch ins Deutsche übersetzt und verlegt wurde.

Unbeeindruckt vom Zeitgeist veröffentlichte Becker 2007, in den Hochzeiten des De-Konstruktivismus und als Judith Butlers „Undoing Gender“ in aller Munde war, den Aufsatz „Poststrukturalismus und Geschlecht“. Darin verdeutlicht sie in sehr überzeugender Weise – und erneut entgegen dem damaligen intellektuell-feministischen „Mainstream“ –, wie die Deutung des Geschlechts als eine „reine Konstruktion“ gewissermaßen das feministische Kind mit dem essentialistischen Bade ausschüttet und erklärt, dass und wie die körperliche und körpergeschlechtliche Erfahrung jedes Menschen tief in das Unbewusste und „in die symbolische Ebene eingeschrieben“ wird.

Sophinette Becker hat sich noch weiteren Themen unseres Fachs kritisch gestellt, z. B. schon 1997 einen – im Internet breit rezipierten – Artikel zum Thema „Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung“ im „Werkblatt“ veröffentlicht. Später griff sie auch in die Debatte um den Missbrauch in kirchlichen und pädagogischen Institutionen ein. Auch mit der Geschichte der Sexualwissenschaft hat sie sich intensiv auseinandergesetzt, kritische Selbstreflexion und das Thema Selbstaufklärung waren ihr sehr wichtig. Sie war zutiefst enttäuscht und auch empört, als die Arbeitsgruppe zum „Umgang mit dem Thema Pädosexualität in der DGFS“ in Berlin 2018 eher lapidar eingestand, noch zu keinem Ergebnis gekommen zu sein.

Institutionen gegenüber blieb Sophinette Becker konsequent skeptisch, sie misstraute dem Establishment ebenso wie plötzlichen, „revolutionär“ anmutenden Denkumschwüngen. Genauso konsequent allerdings war ihre unbedingte Loyalität ihren Patient*innen gegenüber. Kurz vor ihrem Tod, im oben genannten „Psyche“-Beitrag, hebt sie noch einmal die Notwendigkeit hervor, die Dinge gründlich zu Ende zu denken und Unbewusstes grundlegend durchzuarbeiten, auch in berufspolitischen Belangen und dem vermeintlichen Einsatz für sogenannte „Minderheiten“ und für Vielfalt. Sie zeigt damit eine tiefe Ernsthaftigkeit und Verantwortlichkeit, die in den intellektuellen Debatten rar geworden ist. In ihrem Denken war sie sehr unabhängig von vordergründiger Anerkennung. Deshalb konnte sie so viele wertvolle Beiträge zu sexualwissenschaftlichen, psychoanalytischen, klinischen, aber auch gesellschafts- und sexualpolitischen Fragestellungen leisten, die uns zukünftig sehr fehlen werden.

Persönlich werden wir noch weit mehr vermissen: ihren Witz und ihre Schlagfertigkeit, ihren freien, sprühenden Geist, gepaart mit emotionaler Wärme und einem tiefen Interesse an der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Es wird viel trauriger, gleichförmiger, hohler und vor allem auch öder und langweiliger werden, in den sexualwissenschaftlichen, psychoanalytischen und sexualpolitischen Debatten – und überhaupt, ohne sie: Sophinette Becker!



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Article published online:
12 March 2020

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